Archiv

Spitzensport in Deutschland
Weniger Medaillen, mehr Gemeinwohl?

370 Millionen Euro investiert der Bund jährlich in den deutschen Spitzensport. Ziel: Internationale Medaillen. Die sind aber seltener geworden. Auch deshalb fordert der Verein Athleten Deutschland eine Grundsatzdiskussion: Welchen Sport wollen wir in Deutschland? Auch die Politik äußert sich.

Von Raphael Späth |
Alexandra Föster fährt bei der Ruder-EM in München ins Ziel.
EM-Gold für Ruderin Alexandra Föster - sollen internationale Medaillenchancen künftig weniger Gewicht bei der Sportförderung haben? (picture alliance/dpa)
Mehr Medaillen, mehr Podestplätze = mehr Geld für die jeweiligen Sportverbände. Das ist, vereinfacht ausgedrückt, die Rechnung, nach der bisher in Deutschland die Fördermittel im Spitzensport verteilt werden. Seit 2017 existiert in Deutschland das sogenannte Potenzialanalysesystem, kurz PotAs, anhand dessen die Erfolgschancen der jeweiligen Sportarten gemessen werden.
Trotzdem verringert sich die Medaillenausbeute deutscher Athletinnen und Athleten in den letzten Jahren bei  den meisten sportlichen Großereignissen immer mehr. Die öffentliche Kritik am System wird immer lauter.

Athleten Deutschland: "Leistungssport aus der Mitte der Gesellschaft weggerückt"

„Wenn man genau hinschaut, dann erhärtet sich die These, dass der Leistungssport in den letzten Jahren oder auch schon Jahrzehnten aus der Mitte der Gesellschaft weggerückt ist. Und die Konzepte, die in der Leistunsgssportförderung kursieren, nehmen wenig Bezug darauf“, sagt Sportwissenschaftler Lutz Thieme.
Lutz Thieme, Sportwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, bei einer Pressekonferenz am 23.11.20.
Das sehen auch viele andere Stakeholder im Sport so. Der Verein Athleten Deutschland hat deshalb jetzt ein Positionspapier vorgelegt. In dem fordert die Athletenvertretung: Das Leistungssportförderungssystem muss reformiert werden. 

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

In Zukunft müsse der Fokus bei der Verteilung der Gelder wieder mehr darauf gelegt werden, welchen Einfluss der Sport oder einzelne Sportarten auf die Gesellschaft hat, findet Hauptautor Maximilian Klein:
„Nur, wenn wir die Ziele kennen und auch definiert haben, wenn die legitimiert sind durch eine breite Auseinandersetzung mit diesem Gesellschaftsvertrag, dann können wir über diese Strukturreformen im System reden, die jetzt auf der Agenda stehen.“

Emmerich: "Viele offene Fragen bei der Spitzensportförderung"

„Ich finde der Verein Athleten Deutschland legt da den Finger in die Wunde, und zwar zurecht“, sagt Grünen-Politiker Marcel Emmerich. „Weil wir feststellen müssen, dass es immer noch viele offene Fragen gibt bei der Spitzensportförderung. Und gerade die gesellschaftliche Bedeutung des Sports: Was wir vom Sport erwarten, welche Rolle er hat, welche Verantwortung er innerhalb der Gesellschaft übernehmen soll, das sind alles Fragen, die in der Vergangenheit nicht beantwortet worden sind.“
Berlin: Marcel Emmerich in der 10. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude.
Berlin: Marcel Emmerich in der 10. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. (imago images/Future Image)
Im Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen steht, dass das bisherige Fördersystem evaluiert und weiterentwickelt werden soll. Die SPD erneuert in dieser Woche ihre Forderung nach einer grundlegenden Überarbeitung des bisherigen PotAs-Systems, Innenministerin Nancy Faeser will bis Ende des Jahres ein erstes Konzept über die Zukunft des Sports in Deutschland vorlegen.

Güntzler: "Akzeptanz in der Breite nicht da"

Auch Fritz Güntzler, CDU-Obmann im Sportausschuss, sieht die Notwendigkeit für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs: „Ich glaube, das ist das größte Problem der Spitzensportreform, dass die Akzeptanz in der Breite nicht da ist. Bei allen Dingen, die man evaluieren und verbessern muss. Aber ich glaube diese grundsätzliche Akzeptanz [fehlt] – da haben wir was, und da stehen wir alle hinter.“
Der CDU-Abgeordnete Fritz Güntzler steht im Bundestag am Rednerpult und gestikuliert.
Fritz Güntzler spricht im Bundestag. (picture alliance / dpa / Christoph Soeder)
Athleten Deutschland glaubt, dass es für diese Akzeptanz einen neuen Gesellschaftsvertrag braucht, basierend auf empirischen Studien, die aufzeigen, wie genau und an welchen Stellen der Leistungssport  tatsächlich einen Mehrwert für die Gesellschaft hat. Zum Beispiel, ob internationale Erfolge wirklich dafür sorgen, dass mehr Menschen insgesamt Sport treiben.
„Es wäre wünschenswert, dass man sagen könnte: Das wollen die Menschen. Aber ich glaube, da werden wir in unserer Gesamtgesellschaft kein einheitliches Bild bekommen“, bezweifelt aber CDU-Politiker Fritz Güntzler. Einer kompletten Reform des bisherigen Systems steht er eher skeptisch gegenüber:
„Wir sollten jetzt nicht alles wieder drehen. Wir sind jetzt sechs Jahre dabei und haben noch gar nicht so viele Erfahrungen gemacht. Von daher muss man sich alles noch einmal in Ruhe anschauen und nicht nochmal die Revolution lostreten, sondern das, was wir haben, kontinuierlich verbessern.“

Neuordnung wäre große Herausforderung für deutsche Sportpolitik

Sportwissenschaftler Lutz Thieme sieht das anders: „Beim Fortsetzen der aktuellen Leistungssportförderung sehe ich die Gefahr, dass der sich aus der Gesellschaft entfernende Prozess der letzten Jahre weiter fortgesetzt wird. Selbst wenn man das Ziel von PotAs mal auf einer politischen Ebene verändern würde, hat man immer noch nicht geklärt, ob dieses Ziel dann auch gesellschaftspolitisch mitgetragen wird oder auf breiten Beinen steht.“
Die bisherigen Ziele der Leistungssportförderung orientieren sich fast ausschließlich am sportlichen Erfolg und zu wenig am Gemeinwohl, sagt Maximilian Klein von „Athleten Deutschland“:
„Dieser undifferenzierte Blick auf eine reine Orientierung nach absoluter Erfolgsmaximierung, dann vielleicht auch noch kumuliert im Medaillenspiegel, der ist eben ja nur bedingt geeignet, die tatsächlichen wohlfahrtssteigernden Potenziale dieser Leistungen der Athletinnen und Athleten zu heben.“
Die einfache Gleichung „mehr Medaillen = mehr Geld“ würde dann nicht mehr gelten. Es müssten weitere Messwerte gefunden werden. Eine große Herausforderung für die deutsche Sportpolitik.