Archiv


Wenn Arbeiter auf die Straße gehen

Der öffentliche Dienst hat in diesem Jahr mit dem größten Streik seit 14 Jahren ein Zeichen gesetzt. Auch in anderen Branchen stehen harte Tarifauseinandersetzungen bevor. Da kommt ein Buch zur rechten Zeit, das "Arbeitskampf" überschrieben ist und im Untertitel "Geschichte, Recht, Gegenwart" einen Handbuchcharakter andeutet.

Von Gerhard Schröder |
    Alle Räder standen still am 12. November 1948, es war der erste und blieb der einzige Generalstreik in Westdeutschland nach 1945. Er verpuffte wirkungslos, so das schonungslose Urteil des langjährigen IG-Metall-Justitiars Michael Kittner:

    "Der politische Erfolg des Streiks stand in krassem Gegensatz zu seinem Umfang und seiner technischen Effizienz. Er war praktisch Null."

    In dem flächendeckenden Arbeitskampf brach sich ein diffuser Unmut Bahn, Unmut über die schlechte Versorgungslage und die steigenden Preise, Unmut aber auch über die schrittweise Etablierung der Marktwirtschaft. So hatten sich die Gewerkschaften die Nachkriegsordnung nicht vorgestellt, bekannte Gewerkschaftschef Hans Böckler:

    "Wir können uns mit einem neoliberalen Wirtschaftssystem nicht anfreunden."

    Es dauerte bis zur Mitte der 50er Jahre, bis sich die neu entstandene Einheitsgewerkschaft mit dem Dachverband DGB an der Spitze mit den neuen Verhältnissen in Westdeutschland arrangiert hatte – und sich selbst ein klar umrissenes inhaltliches Programm gab.

    "Die Forderungen zielten auf das nunmehr für machbar Angesehene, auf Reformen im Kapitalismus: Arbeitszeitverkürzung durch die 40-Stunden-Woche, gerechter Anteil am Sozialprodukt durch aktive Lohnpolitik, bessere soziale Sicherheit, eine gesicherte Mitbestimmung und verbesserter Arbeitsschutz."

    Streikrecht, Tarifautonomie, die Mitbestimmung im Betrieb mit starken Betriebsräten als gewerkschaftlicher Anker, das waren die Eckpunkte in einem Gerüst, das einen funktionierenden Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten ermöglichte.

    "Allen politischen Kräften lag die Systemloyalität der Arbeiter am Herzen, und deren ökonomische Teilhabeansprüche konnten in langen Jahren der Wiederaufbaukonjunktur mühelos verkraftet werden. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass dies wahrscheinlich die beste Zeit war, die Westdeutschland in seiner ganzen Geschichte gesehen hat – und zwar mit großem Anteil für die ganze Bevölkerung."

    Kittner malt ein epocheübergreifendes Sittengemälde der Arbeitskämpfe, beschreibt die Grundlagen der mittelalterlichen Zunftverfassungen, den Übergang zur kapitalistischen Wirtschaftsform und arbeitet akribisch die Bedingungen der gesellschaftlichen Verteilungskämpfe heraus. Er hat eine große Menge an Material zusammengetragen, das er auf 800 eng beschriebenen Seiten ausbreitet und sicher in den historischen Kontext einbettet. Das ist nicht immer leichte Lektüre, zumal der emeritierte Arbeitsrechtler den Leser teilhaben lässt an seinem umfangreichen juristischen Detailwissen. Da hätte man sich gelegentlich eine schlankere Darstellung gewünscht.

    Stark ist das Buch, wenn Kittner konkret wird. Er ergänzt die historische Analyse durch die Darstellung von 61 Arbeitskämpfen, gut ausgewählte und spannend erzählte Fallstudien. Der berühmte Aufstand der schlesischen Weber 1844 gehört dazu, der mutige Streik der Opelarbeiter im nationalsozialistischen Deutschland 1936 oder der Arbeiteraufstand in der DDR 1953.

    Im ostdeutschen Staat war ja der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital per Definition aufgehoben, nicht aber in der Praxis. Die zu reinen Transmissionsriemen der Partei degenerierten Gewerkschaften versagten bei der Konfliktschlichtung – was nicht unwesentlich war für das Scheitern des Sozialismus auf deutschem Boden.

    An einem Scheidepunkt sieht Kittner aber auch das westdeutsche Konsensmodell angekommen. Der in Jahrzehnten eingespielte Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital – er funktioniert nicht mehr. Der Druck des entfesselten Kapitalismus hat die Gewerkschaften ihrer gestalterischen Macht beraubt. Immer besser ausgestaltete gesetzliche und tarifliche Regelungen laufen ins Leere, der globale Wettbewerb, die Macht internationaler Investoren unterhöhlen die gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit. Das wohltemperierte westdeutsche Sozialmodell, so Kittner, sei ein Sonderweg gewesen, eine Schönwetterperiode, in der Gewerkschaften und Beschäftigte zu unverhoffter Teilhabe gekommen seien. Das sei nun vorbei.
    "Was wir bis heute von der Geschichte der Arbeitsverfassung wissen, legt es nahe, dass Frieden mit den arbeitenden Menschen dem Kapitalismus kategorial fremd ist. Und überdeutlich ist, dass jedenfalls die Gewerkschaften von heute nicht in der Lage sind, daran etwas zu ändern."

    Das klingt düster, ist im historischen Kontext aber durchaus plausibel. Kittner hat mit seiner Studie den Blick geöffnet für die geschichtliche Dimension gesellschaftlicher Verteilungskämpfe. Das könnte helfen, der nicht selten oberflächlichen aktuellen Debatte mehr Tiefe zu verleihen.

    Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart.
    Verlag C.H. Beck, München 2005.
    784 Seiten
    39,90 Euro