"Das ist eine kleine Bude! …"
Sabine Gehrmann schiebt das grüne Sofa zur Seite, zwängt sich an der Kommode vorbei zur Glasvitrine. Es steht viel herum in dem kleinen Wohnzimmer. Ein Fahrradergometer für ihre Sporteinheiten, daneben leuchtet der Weihnachtsbaum bläulich, über dem Kamin flimmert der Fernseher. Sabine Gehrmann lächelt, sie ist stolz auf ihr kleines Reich:
"Alles selbst gebaut, ich muss nur die Tür rein machen wegen der Katze."
Sabine Gehrmann ist 55 Jahre alt, kurze platinblonde Haare, resoluter Umgangston. Sie wohnt mit ihrem Mann in Staken, einem Vorort im Westen von Berlin. 18 Jahre hat sie als Zeitungszustellerin gearbeitet, war jede Nacht unterwegs, vier Stunden, sechsmal in der Woche, bei Regen, Wind und Schnee.
"Ich hab gekriegt so zwischen 800 und 900 Euro. Aber da ist das Kilometergeld dabei."
Nachtzuschlag entfällt
Früher wurde nach Stückzahlen bezahlt, also nach der Menge der Zeitungen, die sie austeilte. Dann kam der Mindestlohn. Und ihr Arbeitgeber, die MAZ Nord Zeitungsvertriebs GmbH, kürzte als Erstes den Nachtzuschlag.
"Da sind wir runtergerutscht, von 25 Prozent auf 10 Prozent. Das ist gleich passiert mit der Einführung des Mindestlohns, das ist gleich als Erstes passiert."
Vor einem Jahr dann ein weiterer Tiefschlag. Gehrmanns Arbeitgeber berechnete die Zeiten neu, die für die Zustellung der Zeitungen bezahlt werden.
"Dann wird eben die Zeit gekürzt, die sie für die Tour bekommen, also von anderthalb Stunden bei mir auf eine Stunde und 20 Minuten bloß noch."
Bei drei Touren pro Nacht ergibt das eine halbe Stunde weniger bezahlte Arbeitszeit, obwohl die Arbeit nicht weniger wurde, sagt Sabine Gehrmann:
"Das war im Prinzip nichts anderes als eine versteckte Lohnkürzung, nichts anderes."
Verdienst liegt deutlich unter dem Mindestlohn
7,50 Euro habe sie zuletzt im Schnitt verdient, sagt sie, also deutlich unter 8,50 Euro, der Marke, die seit Anfang 2017 für die Zeitungszusteller eigentlich gilt. Unterläuft die MAZ-Gruppe also den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn? Benjamin Schrader widerspricht. Er ist Geschäftsführer der Märkischen Verlags- und Druckgesellschaft in Potsdam.
"Natürlich legen wir als Auftraggeber Wert darauf, dass die Zustellgesellschaften ihren Zustellern auch den Mindestlohn bezahlen", erklärt Schrader auf Anfrage.
"Dass im Bereich der Zustellung mit sogenannten Normalzeiten – also der Zeit, die man im Normalfall braucht, um die Zustellobjekte auszutragen – gearbeitet wird, ist hierbei übrigens bundesweite Branchenpraxis und wurde bei der Einführung des Mindestlohns auch ausdrücklich vom Gesetzgeber gebilligt."
Zu viele Schlupflöcher für Arbeitgeber
8,50 Euro, weniger soll niemand in Deutschland pro Stunde verdienen, so steht es im 2015 in Kraft getretenen Mindestlohngesetz. Inzwischen wurde die Marke auf 8,84 Euro angehoben. Doch die Arbeitgeber haben offenbar viele Schlupflöcher entdeckt, um die Lohnuntergrenze zu unterlaufen. 1,8 Millionen Beschäftigte in Deutschland, so hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW ermittelt, verdienen weniger als den Mindestlohn. DIW-Chef Marcel Fratzscher:
"Es gibt ein Mindestlohngesetz mit klaren Regeln, es geht darum, dass die Politik diese Regeln anwenden muss. Heißt: Unternehmen müssten mehr Rechenschaft darüber ablegen, was sie an Löhnen zahlen, sodass dieser Missbrauch, der entsteht, in der Zukunft nicht mehr entstehen kann."
Verstöße haben die DIW-Forscher vor allem in den klassischen Niedriglohn-Branchen festgestellt: am Bau, in Hotels und Gaststätten, in der Gebäudereinigung, im Einzelhandel. Dort gibt es viele Minijobs, ein beliebtes Instrument, um den Mindestlohn zu unterlaufen, sagt Michael Kulus, er ist Sprecher der Zollverwaltung in Berlin:
"Da wird also versucht zu tricksen, dort gibt es die Möglichkeit, die Beschäftigten als geringfügig einzustufen, die werden dann aber in Wahrheit Vollzeit beschäftigt, und all solche Dinge, um die Zahlung des Mindestlohns zu umgehen."
43 Prozent der Minijobber, so das Ergebnis der DIW-Studie, verdienen weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Also fast jeder zweite. Sandra Warden hält das für maßlos übertrieben, sie ist Geschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands.
"Ich kann natürlich nicht für eine gesamte Branche mit 220.000 Betrieben und über zwei Millionen Beschäftigten sprechen. Aber wir hören von unseren Mitgliedern, dass es so gut wie gar keine Schwierigkeiten mit Zollkontrollen gibt, und dass in der Regel festgestellt wird, dass der Mindestlohn gezahlt wird. Abweichungen, die es davon gibt, basieren in der Regel auf kleineren Unstimmigkeiten, wie Fehlern bei der Arbeitszeitaufzeichnung oder der Frage, ob ein bestimmter Lohnbestandteil angerechnet werden darf oder nicht."
DGB-Vorstand: "Ich vermisse den Aufschrei in der Politik"
Was die Arbeitgebervertreterin Warden "kleinere Unstimmigkeiten" nennt, ist für Stefan Körzell vom Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB ein handfester Skandal.
"Ich vermisse den Aufschrei in der Politik. Man müsste sich mal vorstellen, die Meldung wäre gewesen in einem Wochenbericht des DIW, 1,8 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland schwindeln bei Hartz IV - was hier für ein Aufschrei gewesen wäre in diesem Land. Hier betrügen Arbeitgeber 1,8 Millionen Beschäftigte, und das wird so hingenommen, als wenn das ein alltäglicher Vorgang wäre. Und das ist das eigentlich Skandalöse. Ein Rechtsstaat stellt sich auch infrage, wenn er das einfach so durchgehen lässt."
Zollverwaltungs-Sprecher Michael Kulus will das so nicht stehen lassen. Die Kontrollen der Zollverwaltung seien engmaschig und wirksam:
"Und der Erfolg des Jahres 2016 als Beispiel genannt, eine Schadenssumme von über 71 Millionen in Berlin ermittelt zu haben, das gibt uns ja Recht, dass wir auf diesem Weg recht erfolgreich sind."
Sabine Gehrmann hat ihren Job inzwischen aufgeben müssen, um ihre an Demenz erkrankte Mutter zu pflegen. Ihre Mindestlohn-Bilanz fällt nicht ganz so positiv aus:
"Man hätte mit vielem leben können, aber wenn sich die Gesamtsituation nicht verbessert. Oder was heißt verbessert? Wenn es so geblieben wäre wie es war, das hätte uns ja schon gereicht. Aber wenn es immer schlechter wird, das geht nicht, das kann man nicht machen."