Archiv


Wenn der Meeresspiegel steigt

Der aufgrund des Klimawandels steigende Meeresspiegel beschäftigt die Menschen im Norden Deutschlands. Zwar kann niemand vorhersagen, ob und wie stark die Sturmfluten der Zukunft aussehen werden, doch das ist kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Auch in Niedersachsen sind die Deichschützer aktiv.

Von Wolfgang Stelljes |
    Wilhelm Sassen ist Deichschäfer. Sein Arbeitsplatz sind die Deiche östlich von Norden-Norddeich. Hier weiden seine Herden, knapp 2000 Tiere, hier beobachtet er seit 25 Jahren das Verhalten der Schafe, bei jedem Wind und Wetter. Auch bei Sturmfluten:

    "Ja, wenn eine Sturmflut kommt, dann sind die Schafe alle auf der Landseite. Die merken, wenn das Wasser hochkommt und so, also nach einer Sturmflutnacht werden Sie kein Schaf auf der anderen Seite sehen. Die werden alle auf der Landseite sein."

    Und dort haben sie in den vergangenen beiden Jahren häufiger Schutz gesucht. 15 Sturmfluten hat der "Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz" allein im vergangenen Winter gezählt. Für die Behörde sind diese Sturmfluten jedoch nicht unbedingt Resultat eines Klimawandels, in offiziellen Verlautbarungen ist deshalb mitunter auch von einer "gefühlten Häufigkeit" die Rede. Auch Johann Oldewurtel ist zurückhaltend bei der Bewertung. Er ist Geschäftsführer der Deichacht Norden, einer von 23 niedersächsischen Deichverbänden, und zuständig für 33 Kilometer Hauptdeichlinie zwischen Leybucht und Neßmersiel. Zwar gab es in den beiden vergangenen Jahren mehrere schwere Sturmfluten, zum Beispiel die Allerheiligenflut am 1. November 2006, sagt Oldewurtel. Die hat im Bereich Emden sogar für die höchste je gemessene Flut gesorgt. Nur gab es davor auch eine ziemlich lange Phase, in der es eher ruhig zuging:

    "Wir hatten in den Jahren 92, 93, 94 sehr hohe und sehr viele Sturmfluten mit entsprechend großen Mengen an Treibsel. Danach das erste Mal wieder bei der Allerheiligensturmflut 2006. Fast zehn Jahre war Ruhe im Karton."

    Treibsel, auch Teek genannt, ist für Oldewurtel der Sturmflut-Indikator schlechthin - abgestorbene Pflanzensubstanz aus dem Deichvorland, die sich bei Sturm löst und am Hauptdeich angeschwemmt wird. Dort muss sie dann von Oldewurtel und seinen Mitarbeitern weggeschafft werden, weil sonst die Grasnarbe erstickt, die den Deichkörper vor Erosion schützt. Die Höhe des Deiches bereitet ihm dagegen keine Sorgen. Im Bereich Norden sind es im Schnitt acht Meter über Normalnull, das ist nach allem, was man heute weiß, hoch genug, sagt Oldewurtel. Anders sehe es östlich vom Jadebusen aus, im Butjadinger Land, oder auch nordwestlich von Emden in der Krummhörn. Dort bestehe echter Handlungsbedarf:

    "Irgendwann kann es uns mal ganz kalt erwischen. Es gibt ja noch viele Deichabschnitte, die also noch mehr als einen Meter zu niedrig sind."

    Die müssten als erste aufgestockt werden. Zumal nach einem Bericht des Weltklimarates der Vereinten Nationen ein weiterer Anstieg des Meeresspiegels zu erwarten ist, bis zum Jahre 2100 je nach Szenario zwischen 18 und 59 Zentimeter. Das Land Niedersachsen hat jetzt reagiert. Erhöht wurde der so genannte "Klimazuschlag", die Deiche werden also in Zukunft noch höher gebaut:

    "Von 25 Zentimetern ist man schon eine ganze Weile ausgegangen, jetzt hat man ja noch mal 25 Zentimeter mit draufgelegt und versucht damit, diese Spanne, die eben genannt wurde, plus-minus 50 Zentimeter Meeresspiegelanstieg bis 2100 in den Griff zu bekommen."

    Ein "Klimazuschlag" von 50 Zentimetern, das müsste eigentlich reichen, sagt Oldewurtel. Michael Schirmer, Klimafolgenforscher und Deichhauptmann aus Bremen, sieht das ganz genau so:

    "Wir erhöhen zunächst mal ja jetzt schlagartig die Deiche, um für einen langsam ansteigenden Meeresspiegel gewappnet zu sein. Das heißt also, wenn wir das jetzt so machen, dann haben wir mindestens für die nächsten 20 Jahre die Sicherheiten, die wir jetzt schon haben. Und auch danach werden die Sicherheiten höher sein als heute."

    Was bleibt, ist das so genannte Restrisiko. Zum Beispiel, wenn mehrere Faktoren unglücklich zusammenkommen. Das weiß auch Johann Oldewurtel:

    "Denn Glück gehört auch dazu. Bei allem menschlichen Ermessen, nach dem ja die Deiche gebaut wurden und werden, haben wir die Natur nicht absolut im Griff. Es kann immer sein, Tsunamis gibt's nicht, aber superstarke Sturmflutereignisse mit genau passender Windrichtung und vielleicht noch eine Fernwelle mit Springtide dazu, dann kann auch sein, dass unser heutiger Deich mal nicht hält. Das muss man wissen."

    Das wäre dann für den Deichschützer so etwas wie der Super-Gau. Und nicht nur für ihn. In Niedersachsen leben etwa 1,2 Millionen Menschen in einem Gebiet, das überflutet werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Umstände derartig unglücklich verketten, ist allerdings sehr gering. Auch kann hier der Mensch kaum Einfluss nehmen. Im Gegensatz zum Klimawandel: Der hängt wesentlich von unserem zukünftigen Verhalten und den damit verbundenen Emissionen ab, sagt Michael Schirmer. Sonst bieten eines Tages auch die Deiche von morgen keinen ausreichenden Schutz mehr.