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Wenn die Toten erwachen

Der 42-jährigen Leipziger Intendant Sebastian Hartmann inszeniert die "Ibsenmaschine" und Laurent Chétouanes fast als Gegenmodell dazu "Nora". Beide bleiben wenig überzeugend.

Von Hartmut Krug |
    Die Schauspieler kommen auf die Bühne wie zur Probe und verschwinden im spitzgiebligen weißen Zelt, das die Bühne bis zur Rampe ausfüllt. Immer wieder treten sie kurz hervor und präsentieren sich. Dabei suchen und zeigen sie Haltungen und Gesten und stellen diese Suche nach Darstellbarkeiten aus. Geboten werden keine durchgehenden Handlungen, sondern Einzelszenen, in denen innere Bewegungen und Zustände von Menschen veräußerlicht werden. Sebastian Hartmanns "Ibsenmaschine", ein Auftragswerk für die Eröffnung des Internationalen Ibsen Festivals mit dem Ensemble des Nationaltheatrets Oslo, zitiert und kommentiert die seelischen Zustände von Ibsens Personal aus dessen zwölf Gesellschaftsdramen. Im Zentrum steht der junge Osvald aus Ibsens "Gespenster". Über ihn hat Regisseur Hartmann einen allerdings nicht sonderlich überzeugenden Text geschrieben, dessen Teile wie eine Strukturklammer über den Abend verteilt sind. Es ist ein Osvald von heute, gespielt von einer jungen Schauspielerin, der sich auf dem Weg von Paris heim zur Mutter und zu sich selbst befindet.
    Sebastian Hartmann gastierte erstmals mit seiner Volksbühnen-Inszenierung der "Gespenster" im Jahr 2000 in Oslo, er war hier mehrfach als Gastregisseur tätig und zeigte sein Leipziger "Matthäuspassion"-Projekt, zu dem Ibsens "Brand" gehört. Mit Hartmann, betonte das Festival bei der Ankündigung der "Ibsenmaschine", habe sich der endgültige Durchbruch des Regietheaters in Norwegen ereignet.

    Hartmann zeigt den Ibsen-Menschen in der Maschinerie der Ibsen-Dramaturgie und der Hartmann-Ideen. Er stellt dessen innere Unfähigkeit zum Dialog und zur echten Auseinandersetzung mit der Realität aus. Jeder Darsteller bekommt seinen großen Auftritt. Und jeder darf von Steve Binetti arrangierte englischsprachige Lieder von Liebe, Leid, innerer Vergiftung und schwarzen Minuten singen. Vor allem aber werden Figuren aus verschiedenen Ibsen-Stücken miteinander in Verbindung oder gegeneinander in Stellung gebracht, gern ironisch bis kabarettistisch. Schließlich gelangt 0svald in einer großen Luftblase ins Publikum, wo er, an Liebe und Tod denkend, zur Ruhe kommt.

    Sebastian Hartmanns Inszenierung ist, trotz schöner szenischer Einfälle, weniger Bildertheater als assoziativ posierendes Texttheater. Dabei ist die Dramaturgie postdramatisch, während die Spielweise eher alt-dramatisch wirkt. Es ist keine überzeugende Inszenierung. Und wie viel bei ihr behauptete Improvisation, wie viel "nur" Spielfreude und Eingeübtes sind, ist schwer zu entscheiden. Dass die pausenlose, dreistündige Inszenierung wenig Zeit- und Spannungsökonomie besitzt, spricht für viel Improvisation.

    Fast ein Gegenmodell bietet Laurent Chétouanes ausgetüftelte und durchkomponierte "Nora"-Inszenierung. Wenn die Zuschauer in den schmucklosen kleinen Bühnenkasten unterm Dach des Nationaltheatrets treten, sind alle Figuren des Stückes schon da. Sie beobachten einander und das Publikum und sind stumme Mitspieler jeder Dialogszene. Auch die Szenerie betont die Durch-Konstruiertheit des Stückes, indem sie diese zugleich ausstellt wie verfremdet. Der offene Spielraum wirkt wie eine zu groß geratene Laubsägearbeit. Hier ist alles aus hellem Sperrholz: die Bänke und Sitze, die Wände, mit leeren Öffnungen oder als Reihe von hohen Gitterstäben gestaltet. Und der Weihnachtsbaum ist nichts als ein hoher Holzständer. Ein Teppich unter Noras Sitzbank liefert den einzigen Gemütlichkeitsfleck in einem Haus, in das uns das Hausmädchen mit Ibsens Szenenbeschreibung einführt, in der viel von Gemütlichkeit und geschmackvoller Einrichtung die Rede ist. Dann wird Nora vom Hausmädchen zu ihrer Bank gebracht und mit einem Stapel Manuskriptseiten versehen. Denn: Verfremdung ist das Zauberwort der Inszenierung, Nora muss ihren Text noch lernen.

    Dabei ist sie kein trällerndes Vögelchen, das mit Geld beeinflusst werden kann, sondern eine mit still-fröhlichem, manchmal monoton und aufgesetzt wirkendem Lächeln in sich ruhende Frau. Wenn sie die Tarantella vortanzt, wird diese zum eintönig gleichgültigen Stampftanz. Nur Ibsens Makronen hat ihr Chétouane als Ersatzbefriedigung gelassen. Noras Mann Helmer ist jung und attraktiv, kein ältlicher Spießer. Wenn sich das Ehepaar gegenübersitzt, tropfen die Worte leise und langsam. Jedes Wort ein Bedeutungszeichen, jedes Gefühl eine minimalistische Andeutung: ein Ibsen wie von Jon Fosse. Chétouane hat dem Stück viele Spielsituationen genommen und die Beziehungsgeschichten der Figuren um Nora und Helmer auf wenige Dialoge konzentriert. Trotzdem dauert die Inszenierung dreieinhalb lange, oft quälende Stunden. Gekleidet sind alle in typische Kostüme der Ibsen-Zeit, unter denen sie verschiedene einfarbige Ganzkörperanzüge tragen und die Chétouane bei Noras Kindern zu einem Ausbruch in szenische Bewegtheit nutzt, indem drei Darsteller ihre Kleidung ausziehen und in den Ganzkörperstramplern als schreiende Kinder umhertollen.

    Chétouane gibt kein Sozialdrama, sondern enthüllt und verfremdet Ibsens Stück zum Erklärstück. Das Schauspiel wird zum szenischen Hörspiel und auf sein sprachliches Konstrukt skelettiert. Die Realität findet im Reden statt und ist, wie auch in "Ibsenmaschine", vor allem eine, die im Kopf der Figuren stattfindet. Schier unerträglich wird das ernsthafte Schlussgespräch zwischen Nora und Helmer, das sich zur Ungeduld des erschöpften Publikums unendlich dahin zieht. Wenn Nora gegangen und Helmer sein endliches "Nora" kraft- und verständnislos gesprochen hat, ist man erleichtert. In jeder Hinsicht.