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"Wenn man eines dieser Bücher gelesen hat, das wird man nicht mehr los"

Im Alter von 75 Jahren ist am 27. Juli die ungarisch-schweizerische Autorin Agota Kristof verstorben. Schon mit ihrem Debüt, dem später zur Trilogie erweiterten Roman "Das große Heft" fand sie die Themen, die ihr ganzes Werk durchziehen sollten: die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und Erfahrung der Entfremdung.

Martin Ebel im Gespräch mit Michael Köhler |
    Michael Köhler: Agota Kristof, sie hat mit Gedichten und kleinen Theaterstücken angefangen. Seit ihrem Umzug in die Schweiz, besser, ihrer Flucht arbeitete sie also in einer Textil- und Uhrenfabrik, und es klingt ein wenig nach verstecktem, zurückgehaltenem Talent. Martin Ebel, Literaturkritiker beim Schweizer "Tagesanzeiger", habe ich gefragt: Wer war sie, haben Sie sie getroffen?

    Martin Ebel: Nein, ich habe sie nie gekannt. Sie hat sehr, sehr zurückgezogen gelebt. Sie ist überhaupt keine Schriftstellerin in dem Sinne, wie wir das heute so kennen, also Teilnahme an Literaturfestivals, Lesungen, Auftritte. Sie war eine ganz zurückgezogene, bescheidene Frau, die auch ein ambivalentes Verhältnis, glaube ich, hatte zu ihrem eigenen Werk. Also das Werk war für sie nötig, das Schreiben war nötig, das war geradezu überlebenswichtig, aber als es dann fertig war, hatte sie glaube ich nicht das Gefühl, das ist etwas, was man vorzeigen kann und was auch für andere Leute bedeutend ist. Also sie ist ein sehr untypischer Schriftsteller gewesen.

    Köhler: Exil, Einsamkeit, Heimatlosigkeit - sind das ihre Themen? Seit 1986 erscheint ihre Romantrilogie "Das große Heft", das große Debüt. Sind das ihre Themen?

    Ebel: Ja, das sind ihre Themen, und damit steht sie natürlich in einer richtigen Tradition: Viele große Autoren des 20. Jahrhunderts haben diese Themen behandelt. Also wenn Sie Kafka nehmen, wenn Sie Imre Kertész nehmen, wenn Sie Herta Müller nehmen - in diese Reihe würde ich sie stellen. Das hat alles zu tun auf der einen Seite, also wenn wir das Reale nehmen, mit der Katastrophenerfahrung des 20. Jahrhunderts: Zweiter Weltkrieg, Flucht, Vertreibung, Erfahrung des Totalitarismus - sie ist ja auch geflohen aus Ungarn, weil ihr Mann von Verhaftung bedroht war, ihr Vater war vorher im Gefängnis, das hat sie alles erlebt -, auf der anderen Seite ist es ganz grundsätzlich die Erfahrung der Entfremdung, also was mit diesem Schlagwort Entfremdung bezeichnet, das hat sie ganz kreatürlich erfahren. Sie ist fremd geworden ihrer eigenen Sprache, fremd geworden sich selbst. Sie kam mit 21 Jahren aus Ungarn nach Österreich, wurde dann als Kontingentflüchtling in die Schweiz überwiesen - also das war Zufall, dass sie in die Schweiz kam, auch noch in die französische Schweiz -, musste sich dann durchschlagen als Fließbandarbeiterin, hat die Sprache eigentlich so am Fließband gelernt, erst mündlich und dann noch sehr viel später schriftlich. Zu dieser Sprache hatte sie auch ein ambivalentes Verhältnis, sie hat einmal gesagt, es ist meine Feindsprache, weil es das Ungarisch nach und nach verdrängt - also eine sehr zerrissene Existenz in einer sehr eigenen unverwechselbaren Ausprägung.

    Köhler: Die Erfahrung einer Entwurzelung - sie nennt ihre Autobiografie auch eine "Analphabetin", das trifft sich mit dem, was Sie gerade beschrieben haben. Wie schreibt sie? Schreibt sie so kühl, so wortkarg, so spröde, wie man vermutet, also eine kühle, objektive Schreibweise unter Aussparung der Innenwelt der Personen? Geht das überhaupt?

    Ebel: Also das hat sie angestrebt und so lesen sich ihre Sachen auch. Also sie hat wirklich ganz kurze Sätze, Hauptsätze. Das liegt auch an den Figuren, durch die sie sprechen lässt, die beiden Zwillinge, das ist eigentlich ihr berühmtestes Protagonistenpaar in "Das große Heft".

    Köhler: Claus und Lucas.

    Ebel: Claus und Lucas, schon die beiden Namen zeigen: Das ist ein Anagramm. Man weiß bis zuletzt nicht: Ist es eine Person, sind es zwei Personen? Es spiegelt natürlich auch diese innere Zerrissenheit: Der eine geht ins Exil, der andere bleibt, und immer die Frage, was war richtiger, was war schlimmer, was war schrecklicher? Diese Figuren fangen auch an zu schreiben, das große Heft ist eben ein Heft, in das sie so Tagebuchnotizen eintragen, und das ist ganz kurz, sie sind ganz, ganz sparsam, ganz asketisch, sie misstrauen den Worten und versuchen so eine Art nackte Wiedergabe der Existenz. Das geht natürlich auch nicht, wie jeder Schriftsteller weiß. Sprache ist nicht das Leben, Sprache ist immer Transposition, Fiktion ist immer eine Veränderung, ist auch immer am Rande der Verklärung. Und das hat sie natürlich auch wieder versucht zu hintertreiben, also dadurch kommt es zu dieser Bewegung, die dieses Werk doch hat und zu der ungeheuren Irritation, also das ist das, was nach der Lektüre übrig bleibt. Für mich entscheidend ist die Irritation, dass man nie genau weiß, woran man ist. Ich möchte noch mal auf Kafka verweisen, da ist das ja ähnlich. Man weiß nicht: Ist das real, ist das erfunden, ist das ein Traum, ist das surreal? Und das beschäftigt einen. Und wenn man eines dieser Bücher gelesen hat, das wird man nicht mehr los.

    Köhler: Am nachhaltigsten hat auf Martin Ebel welches Werk von Ágota Kristóf gewirkt?

    Ebel: Ja, schon "Das große Heft", der erste Band, das war ein Hammer.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.