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Wenn Überhangmandate Mehrheiten verändern

Durch die Kombination von Überhangmandaten und der Verbindung von Landeslisten kann es zum Effekt des negativen Stimmgewichts kommen. So ist es möglich, dass Parteien bei weniger Zweitstimmen paradoxerweise mehr Sitze erhalten hätten. Eine Reform des Wahlrechts ist dennoch umstritten.

Von Gudula Geuther |
    Wenn am kommenden Montag der Innenausschuss des Bundestages Experten zum Wahlrecht anhört, dann wird es um Überhangmandate und den Wert des Direktmandates gehen, um Verfassungsrecht und die Interessen großer und kleiner Parteien. Vor allem aber wird es um einen Effekt gehen, der vor sechs Jahren zum ersten Mal ins allgemeine Bewusstsein rückte und den es jetzt zu beseitigen gilt: das negative Stimmgewicht. Damals herrschte Wahlkampf verquer. Im Wahlkreis 160 – Dresden I war eine Kandidatin gestorben. Zwei Wochen nach der Bundestagswahl 2005, als die Ergebnisse also ansonsten feststanden, wurde deshalb nachgewählt. Durch wohlinformierte Wähler. Denn in den Medien hatte man diesen Dresdnern zuvor vorgerechnet: Wer der CDU Gutes tun will, sollte zusehen, dass sie nicht zu viele Zweitstimmen bekommt. Wie es scheint, mit Erfolg. In der Wahlnacht berichtete Sachsen-Korrespondentin Alexandra Gerlach:

    "Der Dresdner Wähler hat – soviel ist klar – sehr taktisch gewählt. Strahlender Sieger an diesem Abend ist die FDP. Mit einer äußerst ungewöhnlichen Zweitstimmenkampagne hatte sie die Wähler dazu aufgerufen, mit der Erststimme CDU, und mit der Zweitstimme FDP zu wählen. Das Kalkül ging auf. Die Liberalen errangen in Dresden 16,7 Prozent der Zweitstimmen. Eines der besten Ergebnisse überhaupt."

    Mindestens so sehr wie der FDP sollte dieses Stimmensplitting aber wohl der CDU zugutekommen. Nicht umsonst lobte ein zufriedenes CDU-Präsidiumsmitglied Roland Koch:

    "Gratulation zu den Freunden nach Dresden, aber auch Gratulation den Wählerinnen und Wählern. Sie haben in der Tat ungewöhnlich viel von unserem Wahlrecht auch in diesen vierzehn Tagen aufgenommen und genutzt."

    Was war geschehen? Zum einen hatte die Partei mit den Erststimmen wieder den Direktkandidaten gestellt, so weit, so einfach. Zum Zweiten aber führte gerade die geringere Zweitstimmenzahl dazu, dass eine ganz andere Politikerin profitierte, für die die Wahl eigentlich schon längst, seit der eigentlichen Wahl zwei Wochen zuvor, gelaufen war. Nach der Wahl bilanzierten die Autoren des Internetauftritts "Wahlrecht.de":

    Somit haben sich die Tipps für die Wähler in Dresden positiv für die CDU-Kandidatin Anette Hübinger (Saarland) ausgewirkt, die letztendlich von der Vermeidung des negativen Stimmgewichts durch taktisches Wählen profitierte.

    Alles klar? Den Effekt des negativen Stimmgewichts verstehen wohl nur wenige in Deutschland. Es ergibt sich aus der Kombination zweier Phänomene: auf der einen Seite Überhangmandate. Sie entstehen, wenn eine Partei mithilfe der Erststimmen viele Direktmandate erringt - und zwar mehr als ihr an sich Sitze in dem Land zustehen würden. Wie viele Sitze das sind, ergibt sich aus der Zahl der Zweitstimmen. Wenige Zweitstimmen plus viele Direktmandate ergeben viele Überhangmandate. Das zweite Phänomen ist weniger bekannt: Die Landeslisten werden verbunden. Das soll verhindern, dass in jedem Land all die Stimmen unter den Tisch fallen, die kein ganzes Mandat ergeben. An sich eine sinnvolle Sache. Nur: Die Kombination der beiden Effekte führt zum negativen Stimmgewicht.

    Wenn nicht, gibt es einerseits das Überhangmandat, andererseits bleiben die Zweitstimmen sozusagen ungenutzt übrig und werden dann anderen Listen zugeschlagen. Und können dort wieder neue Mandate ergeben. Beispiel CDU im Wahlkreis Dresden I 2005. Hier lag die kritische Grenze bei 41.000 Stimmen. Hätte es mehr gegeben, hätte es für ein Dresdner Mandat aus Zweitstimmen gereicht. Es hätte also kein Überhangmandat gegeben. Da die Zweitstimmenzahl geringer war, gab es das Überhangmandat, die fast 41.000 Stimmen blieben übrig und kamen anderen Landeslisten zugute. Das Phänomen gibt es im Übrigen nicht erst seit Dresden. Rechnerisch gibt es die Möglichkeit schon so lange unser Wahlrecht gilt. Aber nur der Fall einer Nachwahl wie in Dresden macht es allgemein sichtbar. Martin Fehndrich ist einer der wenigen, die es schon früher entdeckt hatten. Der Physiker hatte 1994 gerade keine Lust, an seiner Diplomarbeit zu schreiben. Nach der Zeitungslektüre zur Wahl wollte er sich zwischendurch auf andere Gedanken bringen und rechnete nach, wie Überhangmandate entstehen. Was man eben so macht.

    "Und dabei ist mir eben aufgefallen, dass in Bremen die SPD, wenn sie tausend Stimmen weniger bekommen hätte, einen Sitz mehr bekommen hätte insgesamt. Und das habe ich eben nachgerechnet und geguckt, ob das denn wirklich stimmt mit dem Bundeswahlgesetz. Und da dachte ich mir: Das darf eigentlich nicht sein. Also ein Wahlsystem, das darf vieles. Aber es darf nicht dazu führen, dass die Stimme der Partei, der man die Stimme gegeben hat, schadet."

    Martin Fehndrich wandte sich erst an den Bundestag, dann ans Bundesverfassungsgericht. Zuerst noch erfolglos. Er entwickelte sich zum Wahl-Experten, vor allem auf – auch – seiner Seite Wahlrecht.de. Und er klagte nach der Dresdner Nachwahl wieder in Karlsruhe. Diesmal mit Erfolg.

    Der Effekt des negativen Stimmgewichts führt zu einer rechtserheblichen Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl zum Deutschen Bundestag ...

    ... entschied der Zweite Senat im Juli 2008. Dessen Vorsitzender Andreas Voßkuhle verkündet das Urteil.

    "Ein Wahlsystem, das in typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs von Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen."

    Im Juli 2008 lag die nächste Bundestagswahl zwar nur noch etwas mehr als ein Jahr entfernt. Die Richter mahnten trotzdem nicht zur Eile. Das Wahlrecht sei verfassungswidrig. Trotzdem sollte der Gesetzgeber drei Jahre Zeit bekommen, über die nächste Wahl hinaus. Denn, so trug es der Berichterstatter in dem Verfahren, Verfassungsrichter Rudolf Mellinghoff, vor, die Lösung wolle gut überlegt sein, da gebe es schließlich verschiedene Möglichkeiten.

    "Denkbar wäre zum Beispiel eine Berücksichtigung der Überhangmandate bei der Oberverteilung, der Verzicht auf Listenverbindungen oder eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältniswahlsystem."

    "Ja, das war eigentlich erst mal ein gutes Gefühl. Man hat recht bekommen, man hat endlich jemanden gefunden, der gesagt hat: Ja, da ist ein Problem und das finden wir nicht gut. Das muss man lösen."

    erinnert sich der Kläger Fehndrich. Der einschränkt:

    "Auf der anderen Seite war ja diese Dreijahresfrist, wo ich mir gedacht habe: Warum kriegen die jetzt drei Jahre? Warum können die das jetzt über die nächste Bundestagswahl zerren, ohne dass irgendwas gemacht werden muss?"

    Das dachten damals viele, auch manche Abgeordnete fanden, sauber wäre es, schon die nächste Wahl nach neuem Recht abzuhalten. Immerhin habe man angefangen, sich Gedanken zu machen in der Großen Koalition, sagt Günter Krings, stellvertretender Unions-Fraktionsvorsitzender und Unterhändler für die Wahlrechtsreform. Aber an den großen Rädern, von denen die Verfassungsrichter gesprochen haben, habe man von Anfang an nicht gedreht. Tatsächlich macht die schwarz-gelbe Koalition das Gegenteil. Sie rechnet an kleinen Lösungen – und wird nicht fertig damit. Erst einigen sich kurz vor Ende der vom Verfassungsgericht gesetzten Frist Union und FDP-Unterhändler. Dann erklärt sich die FDP doch für nicht einverstanden. Bald wird klar: Die Frist des Bundesverfassungsgerichts wird nicht zu halten sein. Die Folge sind nicht nur Missstimmungen in der Koalition. Traditionell wird das Wahlrecht auch im Konsens mit der Opposition ausgehandelt. Anders hier, moniert der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen Volker Beck:

    "Was die Koalition veranstaltet hat mit der Opposition und dem Bundesverfassungsgericht spottet jeder Beschreibung. Wir haben im November letzten Jahres angefangen, interfraktionell zu sprechen. Es gab keine Vorschläge und keine Sprachregelung der Koalition, mit der wir uns hätten auseinandersetzen können. Nachdem die Gespräche faktisch daran gescheitert sind, dass die Koalition die Termine immer wieder absagen musste, weil sie keinen gemeinsamen Nenner gefunden hat."

    Einzelne – darunter der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier – sprachen zwischenzeitlich schon von einer drohenden Staatskrise. Denn wenn die Regierung zerfiele, gäbe es keine Regeln, nach denen ein neues Parlament zu wählen wäre. Und damit könne es auch kein legitimiertes neues Parlament geben, das ein neues Wahlrecht erlassen könnte. Inzwischen gibt es einen neuen Koalitionsvorschlag, über ihn wird am Montag der Innenausschuss beraten. Der Entwurf für ein neues Wahlrecht ist so einfach, wie es nur irgend geht. Von den zwei Elementen, die zum negativen Stimmgewicht führen, Überhangmandate und Listenverbindungen, streicht er eines: Die Verbindung der Landeslisten, erläutert Günter Krings.

    "Das heißt: Jetzt geht es darum, dass am Wahlabend, nachdem die Wahl abgeschlossen ist, erst mal geschaut wird: Wie viele Stimmen sind in den einzelnen Bundesländern abgegeben? Dementsprechend bekommt jedes Bundesland dann einen Anteil an den 598 Bundestagsabgeordneten zugewiesen. Und dann, im zweiten Schritt, wird in jedem Bundesland die entsprechende Sitzzahl auf die einzelnen Parteien verteilt. Dazu gibt es noch ein, zwei Sonderaspekte im Sinne einer Reststimmenverwertung um Verwerfungen auszuschließen. Aber das sind sozusagen Kleinigkeiten an dem Entwurf."

    Der Kläger Martin Fehndrich ist alles andere als überzeugt: Denn dadurch, dass zuerst die Wahlbeteiligung pro Land angeschaut werde und erst danach die Zahl der Abgeordneten verteilt werde, blieben die Landeslisten doch verbunden. Und das negative Stimmgewicht bleibe bestehen. Volker Beck von den Grünen und der Parlamentarische Geschäftsführer der SDP, Thomas Oppermann, formulieren sehr viel härter:

    "Der Koalitionsentwurf ist erstens verfassungswidrig, zweitens superbürokratisch und drittens löst er die zentralen demokratischen Probleme unseres Wahlrechts nicht."

    "Die Flick- und Reparaturarbeiten der Koalition sind völlig unzureichend. Sie machen unser Wahlrecht noch komplizierter als es jetzt schon ist. Die Bürger wissen dann überhaupt nicht mehr, was ihre Stimmabgabe am Ende bewirkt."

    Günter Krings, CDU, sieht naturgemäß schon den Ausgangspunkt anders: Das negative Stimmgewicht werde weitgehend beseitigt. Beispielsrechnungen kämen je nach Annahmen zu unterschiedlichen Ergebnissen, und die müsse man eben realistisch ansetzen. Verhaltene Zustimmung bekommt er und bekommt die Koalition von Teilen der Wissenschaft. Etwa dem Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers. Der hat inzwischen einen Gutachtenauftrag in der Sache von der SPD angenommen. Trotzdem sagt er:

    "Ich denke, es ist durchaus politisch nicht dumm, dass die Regierungsmehrheit sozusagen einen kleinen Entwurf macht, der in gewisser Weise den Bedenken des Bundesverfassungsgerichts Rechnung trägt, wohl wissend, dass das Kernproblem so nicht gelöst werden kann. Es ist sozusagen ein gesichtswahrendes Angebot an alle Akteure."

    Diese Haltung wird verständlich, wenn man Möllers Ausgangspunkt teilt, und das tun sehr viele in Berlin, dass das Verfassungsgericht das Problem des negativen Stimmgewichts überschätzt haben könnte. Denn das perfekte Wahlrecht gebe es nicht.

    "Insofern hätte das Gericht einfach schauen müssen, ob sich einzelne Wähler im Vorhinein dieses Problem zunutze machen können oder nicht. Und das scheint mir nicht der Fall zu sein. Jedenfalls nicht in einer mandatsrelevanten Art und Weise."

    Und so ist es denn wohl auch kein Zufall, dass die eigentliche Diskussion zwischen den Parteien in Berlin gar nicht um die Frage des negativen Stimmgewichts kreist. Stattdessen geht es um einen Dauerbrenner der Wahlrechts-Auseinandersetzung: die Überhangmandate. Um die Frage, wie schädlich oder vielleicht sogar berechtigt diese Überhangmandate sind, um Alternativen und um die Frage, ob diese Alternativen nicht vielleicht schädlicher sind als das jetzige System. Schon die Frage nach den Überhangmandaten als solche ist umstritten. Sind sie vielleicht sogar verfassungswidrig? Das Bundesverfassungsgericht hat sich schon mehrfach dazu geäußert, gesagt hat es das so noch nie. Der SPD-Politiker Thomas Oppermann sieht trotzdem gleich vier verfassungsrechtliche Gründe gegen die Mandate, die eine Partei über die nach Zweitstimmenanteil angemessenen hinaus bekommt:

    "Sie geben einigen Wählern ein doppeltes Stimmengewicht. Das steht in Widerspruch zu dem zentralen Versprechen der Demokratie, nämlich: das gleiche Stimmrecht für alle. Der zweite Punkt: Die Überhangmandate können im Parlament Mehrheiten nach Zweitstimmen umdrehen. Das führt übrigens – das ist mein dritter Punkt – auch zu einer regionalen Ungleichverteilung der Mandate. Und nicht zuletzt wird auch die Chancengleichheit der politischen Parteien beeinträchtigt. Die SPD brauchte bei der letzten Bundestagswahl 68.500 Stimmen für ein Mandat. Die CDU brauchte nur 61.000 Stimmen."

    Wie schlagend diese Argumente sind, ist umstritten. Der Unionspolitiker Günter Krings verteidigt die Überhangmandate ganz grundsätzlich:

    "Wir müssen uns wirklich von dem Gedanken frei machen, dass wir eigentlich nur ein Verhältniswahlrecht haben, mit ein paar Arabesken des direkt gewählten Abgeordneten. Das ist nicht unser Wahlrecht. Wenn sie einmal die Menschen fragen, werden viele sagen: Also für mich sind Parteien weniger wichtig als Menschen. Und insofern ist das andere Element, das Element der Erststimme, der Direktwahl im Wahlkreis, auch sehr, sehr wichtig. Und ich kann keinen Unterschied in der demokratischen Legitimation erkennen zwischen jemandem, der ein Direktmandat errungen hat, selbst wenn es als Überhangmandat nicht durch Zweitstimmen unterlegt ist, und jemandem, der über eine Parteiliste reingekommen ist."

    Falsch, sagt Volker Beck. Es gebe eine Rangfolge. Nicht der persönlichen Legitimation des Abgeordneten. Doch aber der Wahlsysteme.

    "Wir haben ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Also wir haben erst mal ein Verhältniswahlrecht. Und dann ein personalisiertes als Eigenschaft in Form einer besonderen Ausgestaltung. Wenn man das jetzt umkehrt und sagt: Durch den Personalisierungseffekt können wir sogar die Ergebnisse des Verhältniswahlrechtes verzerren, dann wendet sich sozusagen das System gegen sich selbst."

    Und so empfinde es auch der Wähler, glaubt Thomas Oppermann, und darauf komme es an.

    "Ich glaube schon, dass den Menschen bewusst ist, dass sie mit der Zweitstimme die Regierungsmehrheiten wählen, mit der Erststimme ihren persönlichen Kandidaten, der als Wahlkreisabgeordneter dann die Interessen der Region im Deutschen Bundestag vertreten soll ...",

    und sonst nichts. Also nicht Mehrheiten verändern. Der Staatsrechtler Christoph Möllers findet andere Rechtfertigungen für das Überhangmandat. Wie gemischt das System sei – mit anderen Worten: Welchen Wert das personale Element hat, die Frage also, über die Volker Beck und Günter Krings uneinig sind -, darüber könne man Glaubenskriege führen.

    "Überhangmandate haben sehr oft bestehende Mehrheiten verstärkt. Das scheint mir durchaus in der Absicht des Grundgesetzes, jedenfalls in der ganz pauschal formulierten, zu sein, dass Mehrheiten gesichert werden sollen. Was immer ein Anliegen des Parlamentarischen Rates war."

    Dann allerdings müsste das auch so sein. Nicht jeder Effekt von Überhangmandaten wäre also in Ordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung einmal mehr oder weniger nebenbei eine Grenze genannt: Ab fünf Prozent werde es kritisch. Woher diese Grenze kommt, ist offen. Parteipolitiker haben auch schon vagere Grenzen gezogen. Es gab einmal Zeiten, als die SPD sich zumindest nicht gegen Überhangmandate gesträubt hat, während anders herum die CDU sie vehement kritisierte, als sie selbst das Nachsehen hatte gegenüber der SPD. 2005, bei einem Streit um die Direktmandate der PDS in Berlin, schrieb Volker Kauder als CDU-Generalsekretär an die Verfassungsrichter:

    Aus den Ergebnissen der letzten drei Bundestagswahlen muss ... der Schluss gezogen werden, dass die Existenz der Überhangmandate sich von einer rudimentären Ausprägung des personalisierten Verhältniswahlrechts zu einem wahlentscheidenden Faktor entwickelt hat. Dies erscheint sowohl verfassungsrechtlich ... als auch wahlrechtlich und wahlpolitisch ... bedenklich, sowie aus demokratischer Sicht keineswegs wünschenswert.

    Christoph Möllers nennt heute eine andere Grenze: Der Wählerwille – nach Zweitstimmen – dürfe nicht ins Gegenteil verkehrt werden. Überhangmandate dürften also nicht erst Mehrheiten schaffen. Tatsächlich aber spricht vieles dafür, dass die Zahl der Überhangmandate deutlich steigen wird. Paradoxerweise gerade wegen der sinkenden Werte der Volksparteien, voraussichtlich vor allem zugunsten der CDU.

    Günter Krings ficht das nicht an. Selbst wenn die Überhangmandate letztlich über die Regierung entschieden wäre das in Ordnung, sagt er. Die Opposition dagegen sucht nach Wegen, die Überhangmandate zu neutralisieren. Die SPD will sie erst einmal zulassen, dann aber den anderen Fraktionen den Vorteil ausgleichen, wie das zum Teil in den Bundesländern geschieht. Die Folge: Der Bundestag würde erheblich größer.

    Die Grünen, und ähnlich auch die Linke, wählen einen anderen Weg: Sie wollen überschüssige Mandate aus einem Bundesland mit Listenmandaten anderer Länder verrechnen. Und da kommt man nun tatsächlich zu verschiedenen Grundverständnissen der Demokratie. Wo es sicherlich kein Zufall ist, dass gerade der Konservative Günter Krings Einspruch einlegt. Und das nicht nur, weil die Beispiele, die er nennt, zulasten der Union gegangen wären: Bei der letzten Wahl hätte es demnach in Bremen keinen CDU-Abgeordneten gegeben, in Brandenburg nur ein Direktmandat, trotz 300.000 Wählerstimmen.

    "Es würde zu föderalen Verwerfungen führen, es würde bestimmte Regionen für eine Partei, auch für eine Volkspartei, veröden. Die Menschen dort würden glaube ich auch an diesem Wahlrecht verzweifeln. Weil sie sagen: Das macht doch keinen Sinn, ist doch nicht gerecht, wenn beispielsweise 300.000 Menschen in Brandenburg eine Partei wählen und nachher keine oder ganz wenige Vertreter dieser Partei aus diesem Bundesland die Interessen im Deutschen Bundestag vertreten."

    Während der Grüne Volker Beck sagt: Dafür gibt es Vertreter anderer Parteien aus diesem Bundesland, und für den Föderalismus ist der Bundesrat da. Solange es Landeslisten gibt, hält der Staatsrechtler Möllers dagegen, und damit ein gewisses Gewicht der Landesverbände, sei es zumindest eigenartig, ihnen dann wieder den Boden zu entziehen.

    So oder so: Auf das Modell von Grünen und SPD wird es vermutlich derzeit ohnehin nicht hinauslaufen. Und bisher sieht es auch nicht so aus, als würden Koalition und Opposition noch einen gemeinsamen Nenner finden. Weil das Problem des Überhangmandates im Auftrag angesprochen ist, aber nicht unbedingt gelöst werden muss. Das führt zum einen dazu, dass die SPD bereits angekündigt hat, in jedem Fall zu klagen. Entweder, weil die Koalition nicht handelt und damit – wie Thomas Oppermann sagt – einen rechtsfreien Raum "im Herzen der Demokratie" geschaffen habe. Oder, sollte das Gesetz zustande kommen, wegen seines Inhaltes. Wo sich die SPD dann mit den Grünen träfe, die ebenfalls klagen wollen.

    Der fehlende Konsens könnte mittelfristig zum Problem werden, erklärt der Staatsrechtler Christoph Möllers:

    "Weil klar ist, wenn die jetzige Regierungskoalition sagt: Wir bringen das mit einfacher Mehrheit durch, dann kann die nächste Regierungsmehrheit sagen: Wir machen jetzt ein anderes Wahlgesetz. Das heißt: Wir haben jetzt sozusagen den ersten Schritt zur Politisierung des Wahlrechts. Und es war vielleicht auch immer gute Tradition, dass wir versucht haben, das zu vermeiden. Wir kennen aus anderen Ländern einen anderen Umgang damit, und das ist eigentlich nie wirklich gut gelaufen."

    Ergebnis: offen. Klar ist aber eines: Wie eng auch immer die Fraktionen zusammenarbeiten würden – das optimale Wahlrecht würden sie wahrscheinlich nicht finden. Nicht nur, weil es das wohl nicht gibt.

    "Ich bin mir auch nicht sicher, ob die mathematische Kompetenz auf der einen Seite, die verfassungsrechtliche Kompetenz auf der anderen Seite und die demoskopische, die man ja auch haben muss, um vorher zu sehen, was eigentlich passiert bisher sinnvoll zusammengeführt wurden. Oder ob da verschiedene Disziplinen aneinander vorbeispekulieren."

    Am Montag im Innenausschuss wird Gelegenheit zum Zusammenführen sein – wieder einmal.
    Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts
    Das Wahlrecht sei punktuell verfassungswidrig, verkündete Andreas Voßkuhle, Vorsitzender Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungs-gerichts im Juli 2008. (AP)
    Eine Frau wirft im Wahlamt in Bremen ihren Stimmzettel in die Wahlurne.
    Gibt es das perfekte Wahlrecht? Koalition und Opposition streiten über mögliche Reformen. (AP)