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Wer ist die Mitte?

Die Mitte ist jene Kraft, die angeblich unser politisches System vor dem Abgleiten in Radikalismus gleich welcher Couleur schützt? Herfried Münkler versucht mit seinem neuen Buch, den politischen Begriff "Mitte" für unsere heutige Gesellschaft zu definieren.

Von Rainer Kühn |
    "Mein Interesse ging zunächst einmal auf die Frage, was ist das eigentlich, das permanent angesprochen wird: die politische Mitte, die soziale Mitte, die gefährdet sei, die immer stärker werde und derlei mehr."
    So beschreibt der renommierte Politikwissenschaftler Herfried Münkler den Ausgangspunkt für sein jüngstes Buch. Am Anfang stand also die Frage: Was ist diese ominöse Mitte?

    "Um das herauszubekommen, habe ich mich natürlich auf eine ideengeschichtliche Inspektionsreise begeben. Natürlich unter der Fragestellung, welche Zukunft wir möglicherweise vor uns haben, welche Abstürze von Mitte bevorstehen können und so weiter. Der Weg in die Geschichte ist ein Weg in die Gegenwart, in den man auf dem direkten Weg nicht hineinkommt."
    Münkler inspiziert die Mitte, weil ihr von Gesellschaft und Politik enorme Fähigkeiten zugeschrieben werden: Sie entscheidet angeblich nicht nur über politische Erfolge, sondern etwa auch über soziale Stabilität und Integration.

    Die Mitte ist ein sozialer Ort mit weichen Rändern und fließenden Übergängen. Das ist eine Voraussetzung für den Zusammenhalt moderner Gesellschaften. In buchstäblichem Sinn ist die Mitte zu deren Zentrum geworden, um das sich alles dreht und auf das hin fast alles gedacht und gemacht wird.
    Ein Ort mit weichen Rändern und fließenden Übergängen ist kaum zu lokalisieren oder zu bestimmen. Und insofern versteht, laut Münkler, jeder etwas anderes darunter, gerade in Deutschland.

    "Die Deutschen sind obsessiv auf Mitte ausgestellt, aber was die jeweilige Mitte ist, im sozialen Raum, im politischen Raum oder aber im geopolitischen Raum, das ist etwas, was hin- und hergegangen ist. Insofern ist Mitte selber ein changierender Begriff; etwas, was schwer zu fassen ist; und ich habe versucht, ihn über Diskursanalyse oder ideengeschichtliche Betrachtungen einzukreisen, um ihn zu fangen."
    Eine ideengeschichtliche Betrachtungsweise bedeutet: Die Überlegungen großer Denker zum Thema Mitte werden ihrem historischen Auftreten nach dargestellt, um so die Entwicklung des Begriffs nachzuzeichnen. Für Aristoteles war die Mitte der Ort zwischen allen Extremen, den es anzupeilen galt. Ihn zu treffen bezeichnete er als Kunst. 2000 Jahre später erweist sich Nietzsche als Gegenpol. Für ihn stand Mitte nur noch für biedermeierliche Mittelmäßigkeit. Mit der ideengeschichtlichen Vorgehensweise kann Münkler also das gesamte Spektrum der Ideen zur Mitte und ihres kongenialen Begriffspartners, des rechten Maßes, beleuchten. Und er gelangt damit zu Aspekten, die anderen verschlossen bleiben. Zum Beispiel empirischen Sozialwissenschaftlern oder Parteienforschern.

    Jetzt, da es sich nicht mehr von selbst versteht, dass die Stärkung von Mittelstand und Mittelschicht der gesellschaftlichen und politischen Mitte Stabilität verleiht, lohnt sich ein Blick auf alternative Modelle, die in der Geschichte entwickelt worden sind. Das gilt in ähnlicher Weise für die Frage nach dem rechten Maß, mit der sich Theologen, Philosophen und Ökonomen von jeher beschäftigt haben.
    Münkler schreibt keine trockene, allumfassende Begriffsgeschichte – dazu wären 237 Textseiten auch etwas wenig. Das Werk kommt vielmehr locker und leicht geschrieben daher. Nur die meisterhafte Beherrschung des Stoffs ermöglicht einen derart eingängigen Stil. Und obwohl das Buch zu Beginn etwas assoziativ wirkt, hat es sehr wohl einen stringenten methodischen Aufbau. Der Band besteht aus vier Teilen. Im ersten gibt Münkler einen Überblick über ganz unterschiedliche Facetten seines Themas. Die drei anschließenden Teile folgen in etwa der chronologischen Entwicklung. Zunächst werden theoretisch-philosophische Positionen zum Zentrum vorgestellt. Dann geht es um die geografische Perspektive: Die starke Mitte besitzt die Macht über eine schwache Peripherie. Von starken Flügelmächten eingekreist aber bekommt die Mitte Platzangst. Eine Angst, die die deutsche Politik vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges prägte. Zuletzt betrachtet Münkler die sozio-politischen Entwicklungen von der westdeutschen Mittelstandsgesellschaft bis hin zur Gegenwart, in der sich die Mitte ausdifferenziert:

    Was sich in sozialstruktureller Hinsicht als Auseinanderdriften von oberer und unterer Mitte beobachten lässt, ist in parteipolitischer Hinsicht an den inneren Gegensätzen der Volksparteien und einer Zunahme von Parteien der Mitte abzulesen.
    Hier am Ende des Werks bezieht sich Münkler auf den Göttinger Parteienforscher Franz Walter. Und wie bei diesem fällt die Schlussprognose etwas lapidar aus, selbst wenn sie keine betuliche Zukunft verheißt:

    "Wenn sich tendenziell alle Parteien, vielleicht mit Ausnahme der Linken, in der Mitte tummeln, werden natürlich die Ränder frei. Die Ränder werden besetzbar für links- oder rechtspopulistische Bewegungen, die das Spektrum fundamental verändern werden. Ich glaube, das sind Beobachtungen, die über so harmlose Begriffe wie Maß und Mitte doch einiges aussagen; über das, was uns in Zukunft erwartet an Kämpfen um die richtige Ordnung."
    Es macht einfach Spaß, einem intellektuellen Virtuosen wie Münkler auf seinem Parforceritt durch mehr als 2000 Jahre des Nachdenkens über Mitte und Maß zu folgen. Schade nur, dass der Schluss etwas konventionell ausgefallen ist. Allerdings kann der Leser ja noch einmal zum ersten Teil zurückblättern. Denn dort präsentiert Münkler viele Aspekte mit Neuigkeitswert. Letztlich stellt sich aufgrund der hier versammelten Überlegungen nach dem Gang durch die Ideengeschichte die Frage, ob es heute überhaupt noch sinnvoll ist, die langweilige Mitte sein zu wollen. Und ob es in Zeiten der Globalisierung reicht, das rechte Maß einzuhalten, wenn sich im Konkurrenzkampf letztlich die Extreme durchsetzen.

    "Maß ist noch gefährdeter als Mitte, weil die Dynamik einer kapitalistischen Ökonomie eigentlich ausgestellt ist auf Maßlosigkeit; wir sagen es ein bisschen vornehmer, wir nennen es Wachstum. Und es ist ungeheuer schwierig, dieses Maß in den Politikprozess und in die Entwicklung der Gesellschaft hineinzuführen, ohne sich in der unangenehmen Position des Sonntagsredners zu befinden, der, wenn die Büros einmal geschlossen sind und die Schornsteine nicht rauchen, über Mäßigung spricht."

    Rainer Kühn über Herfried Münkler: "Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung". Der im Rowohlt Berlin Verlag veröffentlichte Band ist 304 Seiten stark und für 19 Euro und 95 Cent erhältlich, ISBN: 978-3-87134-690-3.
    Wie definiert sich die "Mitte", jene Kraft, die angeblich unser politisches System vor dem Abgleiten in Radikalismus gleich welcher Couleur schützt? Herfried Münkler versucht mit seinem neuen Buch, den politischen Begriff "Mitte" auch für unsere heutige Gesellschaft zu definieren.