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"Wer sind dann die Attentäter?"

Nach den Anschlägen gestern in Moskau sagte Ministerpräsident Wladimir Putin, die Terroristen würden "vernichtet". Der Geheimdienst gab an, dass es sich bei dem neuen Anschlag mal wieder um einen Racheakt islamistischer Separatisten aus dem Nordkaukasus handeln könnte. Wieder einmal rückt damit die russische Teilrepublik Tschetschenien in das Interesse der Öffentlichkeit.

Von Gesine Dornblüth | 30.03.2010
    Offizielle Stellen in Russland hatten gestern schnell Verdächtige parat: Zwei Selbstmordattentäterinnen hätten die Anschläge in der Moskauer Metro verübt - vermutlich tschetschenische Frauen. Bereits im Jahr 2004 waren bei Attentaten mutmaßlicher Tschetscheninnen in und an der Moskauer U-Bahn mindestens 50 Menschen getötet worden.

    Ebenso schnell waren die Leser der unabhängigen Internetzeitung gazeta.ru. Ihre Kommentare klangen allerdings ganz anders. Ein Leser fragt sich, ob die von Präsident Medwedew angekündigte Polizeireform nun beschleunigt oder aufgeschoben werde? Gleich mehrere Leser vermuten, der Inlandsgeheimdienst FSB stecke hinter den Explosionen in der Metro. Ein anderer Leser denkt, die Machthaber wollten von den wahren Problemen der Bevölkerung ablenken. Die Attentate könnten der Regierung einen Vorwand liefern, um Andersdenkende noch stärker zu unterdrücken, Demonstrationen zu verbieten und Oppositionelle mit Terroristen gleichzusetzen. Und wieder ein anderer fragt: "Wenn es doch jeden Monat heißt, in Tschetschenien sei alles ruhig und friedlich - wer sind dann die Attentäter?"

    Fest steht: In Tschetschenien ist es weder ruhig noch friedlich, und der Widerstand setzt sich fort. Tschetscheniens Präsident, Ramzan Kadyrow, beherrsche die Kaukasusrepublik völlig willkürlich, erzählt ein Tschetschene, der vor einem halben Jahr nach Deutschland geflohen ist.

    "Die Situation ist katastrophal. Von Stabilität kann keine Rede sein. Menschenraub ist an der Tagesordnung. Jedem Beliebigen hängen sie etwas an: Du bist entweder Separatist oder Terrorist oder Wahhabit. Wer einen anderen verrät, bekommt dafür ein Honorar, bis zu 5000, 6000 Dollar. Und es gibt immer noch Widerstandskämpfer, die gegen Russland und für die Unabhängigkeit der Republik Tschetschenien kämpfen."

    Der Mann hat selbst mehrere Jahre im Untergrund verbracht und möchte deshalb seinen Namen nicht nennen. Für die Widerstandskämpfer ist klar: Zwar ist es der tschetschenische Präsident Kadyrow, der für Angst und Schrecken sorgt, doch der Feind sitzt in Moskau. So sieht es auch der tschetschenische Exilpolitiker Ahmed Zakajew. Er war in den 90er-Jahren Minister in der Republik Tschetschenien. Heute lebt er als politischer Flüchtling in London:

    "Die Verantwortung dafür, was in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus passiert, liegt bei der russischen Führung. Ich versichere Ihnen: Ramzan Kadyrow ist absolut unter Kontrolle des Kreml. Kadyrow tut keinen Schritt, der seinem Patron, Putin, Anlass zum Zweifel an seiner Loyalität geben könnte. Kadyrow hat die Macht erhalten, in Tschetschenien zu tun, was er will. Im Gegenzug beschwört er öffentlich die ewige Freundschaft zwischen Russland und Tschetschenien. Unser Kampf für die Unabhängigkeit wird solange weitergehen, bis eine politische Lösung gefunden wird, die die Tschetschenen und die Russen zufrieden stellt."

    Der Exilpolitiker Zakayew will Tschetscheniens Unabhängigkeit mit friedlichen Mitteln erreichen. Gewalt verurteilt er. Russland aber betrachtet Zakayev als Terrorverdächtigen und verlangte lange Zeit seine Auslieferung nach Russland. Im letzten Jahr gab es unerwartet Gespräche zwischen Zakayev und der russischen Regierung. Der Exilpolitiker hat dabei drei Bedingungen gestellt:

    "Erstens sollen die Russen Leichname prominenter Tschetschenen herausgeben, damit wir sie selbst bestatten können; zweitens geht es um die Freilassung von mehr als 20.000 Tschetschenen, die in Russland in Gefangenschaft gehalten werden, und zwar unter schwierigsten Bedingungen, wie russische Menschenrechtler bestätigen; drittens fordern wir, dass die Angehörigen der tschetschenischen Widerstandskämpfer, die noch in Tschetschenien leben, nicht weiter verfolgt werden. Da die russische Seite unsere drei Grundforderungen nicht erfüllt hat, wurden die Beratungen abgebrochen."

    Zakayew versucht derzeit, die tschetschenische Diaspora in Westeuropa zu organisieren. Ein tschetschenischer Weltkongress soll der Forderung nach einem unabhängigen Tschetschenien mehr Gewicht verleihen. Doch die Exiltschetschenen sind passiv. Viele wollen vor allem eins: Frieden. Und sie wollen sich nicht politisch äußern. Aus Angst, vermutet Zakayew. Viele Tschetschenen fürchteten, sich selbst und ihre Verwandten in Tschetschenien zu gefährden:

    "Der Terror, die Gewalt, die einschüchternden Methoden, die die Günstlinge des Kreml heute auf dem Gebiet Tschetscheniens anwenden, übertragen sich auf die Tschetschenen, die in Westeuropa leben. Die Mehrheit der Tschetschenen wird die Idee eines tschetschenischen Staates niemals aufgeben."