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Westagenten im Visir

West-IM im Sold der Stasi-Spionage, Alt-Bundesbürger, die für die DDR-Nachrichtendienste illegal tätig waren - von spektakulären Fällen wie dem Verrat des ehemaligen Verfassungsschützers Klaus Kuron oder der langjährigen BND-Beamtin Gabriele Gast abgesehen, ist die Thematik in der politologischen und soziologischen Forschung bis heute beredt beschwiegen worden. Mit seiner bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienenen analytischen Studie "Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage" hat Georg Herbstritt erstmals eine empirisch fundierte Untersuchung vorgelegt, die das soziale und berufliche Profil der ehemaligen Westagenten kenntlich macht. Eine Rezension von Karl Wilhelm Fricke.

    Die Verklärung der Aufklärung - jener Struktur- und Diensteinheiten also, die im Apparat der DDR-Staatssicherheit die Hauptverwaltung Aufklärung gebildet haben - sie war schon zu Erich Mielkes Zeiten en vogue. Auch der Stasi-Chef selber bediente gelegentlich ihren geheimnisumwobenen Nimbus. Ausschnitt aus einer Rede vor Generälen und Offizieren der HV A im Januar 1986:

    Originalton Mielke 7. 1. 1992:
    "Die Leistungen des Kollektivs der HV A haben wie die gesamte Arbeit unseres Ministeriums wesentlich dazu beigetragen, das enge Vertrauensverhältnis zwischen Partei und Volk weiter zu festigen, die Verbundenheit der Werktätigen mit unserem sozialistischen Staatssicherheitsorgan zu vertiefen und das Ansehen unseres Ministeriums als zuverlässiges, schlagkräftiges Organ der Macht der Arbeiter und Bauern im In- und Ausland zu erhöhen. Ich erfülle deshalb mit großer Freude den ehrenvollen Auftrag, allen Angehörigen der Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit und darin eingeschlossen allen Kundschaftern und Patrioten an der unsichtbaren Front für die erfolgreiche Arbeit im Kampf gegen den Feind zur Erhaltung des Friedens und zur Stärkung und Sicherung der DDR und der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft den Dank der Partei- und Staatsführung und des Generalsekretärs unserer Partei, des Genossen Erich Honecker, persönlich zu übermitteln."

    Lob und Dank für die Leistungen der Stasi-Spionage im Westen, adressiert an ihre Führungsoffiziere im Osten und ihre Agenten, Kuriere und Spione im Westen - im idealisierten Selbstverständnis eben die "Kundschafter an der unsichtbaren Front". Zu DDR-Zeiten blieben ihre Namen streng geheim, natürlich, aber selbst heute wird die Wahrheit nur selektiv bloßgelegt. Nach wie vor bleibt vieles tabu. Umso aufschlussreicher ist vor diesem Hintergrund das jetzt erschienene Buch von Georg Herbstritt über "Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage"

    "Der Autor. promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde, thematisiert die Spionage gegen die alte Bundesrepublik und West-Berlin, deren Träger im Wesentlichen die Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit war. Allerdings hatte die HV A kein Monopol auf die geheimdienstliche Westarbeit. Erstens wurden West-IM auch von der "Verwaltung für Aufklärung" geführt, dem militärischen Nachrichtendienst in der Zuständigkeit des DDR-Verteidigungs-Ministeriums Und zweitens waren auch wichtige Abwehr-Diensteinheiten des MfS in die Westarbeit eingebunden, obwohl ihnen in erster Linie die DDR-interne Überwachung und Repression oblag. Auch sie setzten Inoffizielle Mitarbeiter in der Westarbeit ein. Herbstritt hat recherchiert, dass über 40 Prozent der von ihm untersuchten West-IM von Abwehr-Diensteinheiten des MfS geführt wurden - etwa von den für die Abschirmung der NVA und der Grenztruppen oder für die Spionageabwehr zuständigen Hauptabteilungen I und II oder von der Hauptabteilung XX: Kampf gegen politische Untergrundtätigkeit."

    Im Fokus der Studie steht mithin die Gesamtheit der inoffiziellen Mitarbeiter, die im Westen von DDR-Geheimdienststrukturen gesteuert und kontrolliert wurden. Der Autor bezeichnet sie generalisierend als West-IM. Zitat:

    "Als West-IM gelten primär all jene Personen, die zum Zeitpunkt ihrer Kontaktierung durch das MfS oder den militärischen Nachrichtendienst der DDR Bürger der Bundesrepublik Deutschland waren. ( ... ) Nicht als West-IM gelten in der Regel hingegen Personen, die als DDR-Bürger von den DDR-Geheimdiensten angeworben wurden und für kürzere oder längere Zeit zur Spionage in die Bundesrepublik geschickt wurden."

    Die Gesamtzahl der Stasi-West-IM schätzt Herbstritt für die Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit auf 17.000 bis 23.000. Im Jahre 1988 hatte die Stasi-Aufklärung 2000 aktive operative Vorgänge im Westen erfasst, Markus Wolf, der langjährige Chef der HV A, wollte von weniger wissen, als er 1990 zur Zahl seiner einstigen West-IM in einem TV-Gespräch so Stellung nahm:

    Originalton Wolf:
    "... wenn man das nimmt, was ja in der Regel gemeint wird, das, was wir in unserem Jargon als Quellen bezeichnen, - also die, die tatsächlich Zugang zu Geheimnissen haben, und diese Geheimnisse übermittelt haben -, so lag diese Zahl, ich denke, immer unter 500 oder um die 500, damit hier nichts Falsches gesagt wird; aber von diesen 500 sind nun wiederum wirklich nur der zehnte Teil diejenigen, über die es sich tatsächlich zu reden lohnt."

    Das Besondere der Herbstritt'schen Studie: Sie stützt sich auf die Justizakten zu 499 strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen West-IM's hauptsächlich der HV A wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit oder wegen Landesverrats. Es sind Akten zum einen der Bundesanwaltschaft und des Bundesgerichtshofes, zum anderen der Staatsanwaltschaften und Gerichte der Länder aus den Jahren 1990 bis 1999.

    Der Autor wertet sie erstmalig unter sozialwissenschaftlichen Aspekten systematisch aus und gleicht sie mit Erkenntnissen aus den SIRA-Dateien ab - das heißt, aus den rekonstruierten Dateien aus dem System der Informationsrecherche der Aufklärung - sowie aus den so genannten Rosenholz-Materialien, das heißt aus den von der CIA für deutsche Zwecke kopierten Auszügen aus der Klarnamenkartei F 16 und der Vorgangskartei F 22 zu von der HV A bearbeiteten operativen Vorgängen. Herangezogen hat er ferner ihre so genannten Statistikbögen

    Herbstritt hat in mehrjähriger Arbeit das Dickicht dieser Dateien durchforstet und sich so eine ungewöhnlich breite Materialbasis erarbeitet. Er kompensiert damit die Informationsdefizite und großflächigen Archivlücken, die die leitenden Kader der HV A 1990 bei der Selbstauflösung ihres Apparates bewusst geschaffen haben - durch planmäßige Aktenvernichtung bis zu etwa 90 Prozent. Einleitend wendet sich der Autor der juristischen Problematik der nachrichtendienstlichen Aktivitäten zu. Er erörtert die Strafbarkeit von DDR-Spionage nach der Wiedervereinigung - speziell im Lichte jenes Urteils vom 15. Mai 1995, mit dem das Bundesverfassungsgericht hauptamtliche Mitarbeiter des Stasi-Spionageapparates außer Strafverfolgung gestellt hat, soweit sie als DDR-Bürger nur vom Boden ihres Staates aus tätig geworden waren.

    Es macht Sinn, dass Herbstritt diese Problematik aufgreift, denn erst aus ihrem Kontext wird verständlich, warum sich bei über 4000 Ermittlungsverfahren gegen frühere hauptamtlich und inoffiziell in der West-Spionage tätige DDR-Bürger die Zahl der rechtskräftig Verurteilten auf lediglich 23 beläuft. Die rund 3000 Ermittlungsverfahren gegen Bürgerinnen und Bürger der alten Bundesrepublik haben dagegen 364 Personen zur Verurteilung geführt. Von ihnen mussten freilich nur 64 ihre Freiheitsstrafe antreten, weil sie nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die höchsten ausgesprochenen Freiheitsstrafen beliefen sich auf 12 Jahre. Seit Sommer 2001 ist auch der letzte Verurteilte wieder frei.

    Kombiniert mit den Erkenntnissen den verfügbaren SIRA-Datenbanken und den vorliegenden Rosenholz-Materialien ermöglicht die Akten-Auswertung dem Autor im Einzelnen die Qualifizierung und Quantifizierung der DDR-Spionage. In seiner Analyse bestimmt er auch den Wert ihres Informationsaufkommens und weist unter anderem nach, wie viel Informationen die HV A an das KGB nach Moskau weitergeleitet hat:

    "Im Laufe der Jahre des untersuchten Zeitraumes übergab die HV A etwa ein Drittel ihres gesamten Informationsaufkommens dem KGB".
    Im ersten der drei Teile seiner Studie arbeitet der Autor die Sozialstruktur des West-IM-Netzes heraus, er entwirft gleichsam ein Kollektiv-Porträt der DDR-Spione. Sichtbar werden ihre Altersstruktur, die Dauer ihrer Tätigkeit bis zur Entlarvung, im Durchschnitt immerhin fünfzehn Jahre, die Rollenverteilung von Mann und Frau im West-IM-Netz, die Familienverhältnisse der IM, ihre berufliche Qualifikation mit der plausiblen Erkenntnis. dass Akademiker bevorzugt wurden. Untersucht wird die Mitgliedschaft der West-IM in politischen Parteien und Parlamenten, und ihre Motivation. Nur eine kleine Minderheit der West-IM handelte aus Überzeugung. Geldgier fiel erheblich häufiger ins Gewicht, als Stasi-Legenden es heute wahrhaben wollen. Die triste Banalität im Alltag der DDR-Spionage wurde von der Einsamkeit der Agenten geprägt und von ihrer ständigen Furcht vor Entlarvung.

    Aspekte der Agentenrekrutierung erhellt der Autor im zweiten Teil seiner Studie, ihrem ausführlichsten Teil. Analysiert werden die Methoden der Agentenwerbung, ebenso die gesellschaftlichen Potenziale, in denen IM gefunden wurden, Die Bandbreite umfasste die Übersiedlungs-Variante mit Bewährungsauflage und die Einschleusung als Doppelgänger, den Missbrauch familiärer Beziehungen und touristischer Reisen in die DDR, aber auch Selbstanbieter aus zumeist finanziellen Motiven waren der HV A willkommen.

    Im dritten, resümierenden Teil lotet der Autor die Ergebnisse der DDR-Spionage aus. Er zieht Bilanz, nüchtern, fast leidenschaftslos, wobei er weder ihre Erfolge klein redet noch ihre Schwächen aufbauscht. Einmal mehr räumt er auf mit der Legende, die elitäre HV A hätte mit der ordinären Repression im Staat der SED nichts zu tun gehabt, sondern sozusagen die Schmutzarbeit der Abwehr überlassen. Ohne Sensationshascherei führt der Autor - meist mit Klarnamen - Beispiele dafür an, wie West-IM belastendes Material gegen DDR-Bürger, etwa gegen Ausreisewillige oder gegen Oppositionelle, geliefert haben - mit entsprechenden Folgen für die Betroffenen bis hin zu ihrer Inhaftierung.

    Das alles wird statistisch aufbereitet, akribisch analysiert und empirisch abgesichert, häufig auch in politische Zusammenhänge gerückt. Herbstritts Buch basiert auf quellen-gesättigten Befunden. Durch ein Personen- und Decknamenregister gut erschlossen, stellt sich das Buch als wissenschaftlich fundierte Untersuchung dar, die einem Röntgenbild der DDR-Spionage gleicht. Angesichts der verbissenen Anstrengungen ehemaliger Spitzenkader der HV A und ihrer geschichtsrevisionistischen Publikationspolitik, das lädierte Image zu schönen und eigene Schuld aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein zu verdrängen, kommt ihm nicht zuletzt hohe geschichtspolitische Aktualität zu.

    Georg Herbstritt: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage. Eine analytische Studie. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2007. 459 Seiten, EUR 29,90