Westbalkan
Warum der EU-Beitritt so schleppend läuft

Die Westbalkan-Länder sind enttäuscht darüber, wie träge die Beitrittsverhandlungen mit der EU vorangehen. Was verhindert bislang eine Mitgliedschaft der sechs Staaten? Wie könnte das Problem gelöst werden?

    Die albanische Flagge und das EU-Banner wehen im Wind
    Auch Albanien möchte als eines von sechs Westbalkanländern Mitglied der EU werden (Peter Endig/dpa-Zentralbild/ZB)
    Am 23. Juni 2022 haben die Regierungschefs der EU dafür gestimmt, dass die Ukraine und die angrenzende Republik Moldau jeweils den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten. Dieser verhältnismäßig schnelle Schritt (beide Staaten hatten sich erst nach dem Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine dafür beworben) hat in den Ländern des Westbalkans für Unmut gesorgt. Denn den dortigen Staaten hatte die EU bereits 2003 einen Beitritt in Aussicht gestellt. Seitdem läuft ein mehr oder weniger schleppender Prozess. Den offiziellen Status „EU-Beitrittskandidat“ haben auch bislang nicht alle der Westbalkan-Länder.  

    Welche Westbalkan-Staaten sind für einen möglichen EU-Beitritt im Gespräch?

    Zwar gilt der Prozess mittlerweile als festgefahren, doch grundsätzlich hat die EU diesen Staaten des Westbalkans einen Beitritt in Aussicht gestellt:
    • Nordmazedonien
    • Albanien
    • Bosnien-Herzegowina
    • Montenegro
    • Serbien
    • Kosovo
    Vier der sechs Länder verfügen bereits über den Status „EU-Beitrittskandidat“. Das Kosovo und Bosnien-Herzegowina gelten bislang nur als „potenzieller Beitrittskandidat“.

    Was spricht für einen Beitritt der sechs Länder zur EU?

    Die sechs Staaten bzw. Gebiete haben gut 20 Millionen Einwohner. Doch nach Einschätzung des österreichischen Europaparlamentariers und Westbalkan-Kenners Lukas Mandl von der ÖVP sind sie "sehr relevant - geopolitisch für die Stärke Europas nach außen und für die Einigkeit der freien Welt." Weltmächte, die die Konfrontation mit Europa suchten, versuchten über den Westbalkan auf Europa Einfluss zu nehmen. Dies gelte für Russland und China, aber auch für die Türkei und kleinere arabische Staaten. Zudem messe ein "Balkanbarometer" regelmäßig die Meinung der Bevölkerungen der Länder und die Zustimmung zu einem Beitritt. Dabei zeige sich eine klare Mehrheit von pro-europäischen Stimmen.
    Auch die Migration über die Balkanroute sei ein wichtiges Thema mit Blick auf den Beitritt der sechs Staaten bzw. Gebiete. Hier sei es wichtig, eine Lösung zu finden, sagte Mandl im Dlf.
    Den Punkt des Westbalkans als Einflusssphäre anderer Staaten bekräftigte im Dlf auch Viola von Cramon, Grünen-Abgeordnete im Europaparlament. Hier habe die EU ein geopolitisches und ein Stabilitäts-Interesse. Dazu komme ein klimapolitisches: Man habe in den Beitrittsregionen durch die Nutzung der Kohlekraft höhere Emissionen als in der gesamten EU.

    Wann kann ein Staat den Status „EU-Beitrittskandidat“ erhalten?

    Den offiziellen Status „EU-Beitrittskandidat“ vergibt die EU an Staaten, die einen Aufnahmeantrag gestellt haben, welcher nach einer positiven Empfehlung durch die Europäische Kommission vom Rat der Europäischen Union einstimmig angenommen wurde. Damit ein Land der EU beitreten – und zuvor auch den Status als Beitrittskandidat erhalten – kann, muss es die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllen.
    Nach diesen muss ein Beitrittskandidat zum Beispiel eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung garantieren können, die Menschenrechte wahren und den Schutz von Minderheiten verwirklichen. Neben zahlreichen politischen Anforderungen müssen auch diverse wirtschaftliche Bedingungen erfüllt sein, wie beispielsweise die Fähigkeit, Wettbewerbsdruck standhalten zu können.   
    Der Status als EU-Beitrittskandidat ist Voraussetzung dafür, dass konkrete Verhandlungen über einen möglichen EU-Beitritt überhaupt stattfinden. Allerdings bietet – das zeigt die Vergangenheit – dieser Status keinesfalls eine Garantie dafür, dass solche Verhandlungen tatsächlich zeitnah beginnen.
    Der österreichische Europaparlamentarier Mandl kritisierte im Dlf das starre Festhalten an diesem Prozess, um Beitritte zu regeln. Man müsse mehr darauf achten, wohin sich die betreffenden Staaten und Gesellschaften politisch entwickelten. Man müsse klare Daten verabreden und die Westbalkanstaaten "mit Entschiedenheit in die EU integrieren".

    Warum ärgerten sich die Westbalkan-Staaten zuletzt über die EU?

    Länder wie Albanien, Nordmazedonien und Serbien standen viele Jahre mit der EU im Austausch, bis sie den Status eines offiziellen Bewerberlandes (also Beitrittskandidaten) erhalten haben. Im Fall der Ukraine und der Republik Moldau gelang das jetzt innerhalb weniger Monate.
    Nun fühlen sich die Staaten des westlichen Balkans verprellt. Nordmazedoniens Ministerpräsident Dimitar Kovačevski sprach in Brüssel von einem Tiefschlag für die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union.
    Sein albanischer Amtskollege Edi Rama bemängelte einen völlig derangierten Beitrittsprozess. Aus einer einst gemeinsamen Vision sei ein Verfahren geworden, in welchem einzelne Staaten durch Vetomacht alle anderen als Geiseln nähmen. 26 Länder könnten da nichts tun – darunter die mächtigsten der Welt. Worauf Rama unter anderem anspielt: Bulgarien.

    Woran scheiterte der Prozess bislang?

    Die Frage, warum der Weg der Westbalkanstaaten in die EU so viele Hürden aufweist, ist vielschichtig und komplex. Beispielsweise sieht die EU im Falle einiger Kandidaten verschiedene Bedingungen nicht erfüllt. Manchmal sind es hingegen konkrete EU-Mitgliedsländer, die einen Beitritt anderer Staaten aus individuellen, manchmal innenpolitischen Gründen ablehnen. So verhinderte das EU-Mitglied Bulgarien seit 2020 mit einem Veto Beitrittsgespräche zwischen seinem Nachbarland Nordmazedonien und der Europäischen Union. Hintergrund: Bulgarien verlangte bislang, dass Nordmazedonien auf Forderungen im Hinblick auf bulgarische Minderheiten in dem Land eingehe sowie auf sprachliche Regelungen. Aufgrund des bulgarischen Vetos wurde auch der Prozess der Verhandlungen mit Albanien nicht gestartet. Am 24. Juni hat das bulgarische Parlament jedoch beschlossen, sein bisheriges Veto gegen Nordmazedonien aufzugeben.
    Die Grafik zeigt den Status der potenziellen zukünftigen EU-Mitglieder vom Westbalkan
    Die Grafik zeigt den Status der potenziellen zukünftigen EU-Mitglieder vom Westbalkan (picture alliance/dpa/dpa Grafik)

    Wie könnte eine Annäherung an die EU gelingen?

    Die Abkehr Bulgariens von dessen bisheriger Blockade-Haltung bezüglich des Beginns von EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien könnte zumindest für diesen einen Westbalkan-Staat ein kleiner Lichtblick sein. Allerdings knüpft Bulgarien dies an Bedingungen: Ab sofort sollen die Rechte der Bulgaren in Nordmazedonien durch Verfassungsänderungen garantiert werden und die Regierung in Skopje sich verpflichten, gute Beziehungen zu Bulgarien zu unterhalten.
    Der Kompromiss wurde von Frankreich vorgeschlagen, das die EU-Ratspräsidentschaft bis Ende Juni 2022 innehatte. Mitte Juli hatte das Parlament in Skopje dem französischen Vorschlag zugestimmt. 
    Mit Blick auf die sechs Westbalkanländer hat es sich Bundeskanzler Olaf Scholz zur Aufgabe gemacht, die Annäherung der Staaten an die EU wieder in Gang zu bringen. „Wir fühlen uns verantwortlich dafür, dass diese Länder Erfolg haben mit ihren Bemühungen“, sagte der SPD-Politiker.
    Der Europapolitiker Mandl brachte im Dlf die Forderung ins Spiel, den EU-Vertrag von 2009 aus Lissabon zu aufzugeben, um den Beitrittsprozess zu beschleunigen. Man müsse einen neuen EU-Vertrag wagen. So blockiere der Punkt der verpflichtenden Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten etwa im Bereich Außenpolitik die EU.
    Viola von Cramon, Grünen-Abgeordnete im Europaparlament, forderte im Dlf, beim Beitrittsprozess sich nicht nur "mit den kleptokratsichen Eliten zusammentun". Sondern man müsse strategischer mit zivilgesellschaftlichen Kräften und unabhängigen Journalisten zusammenarbeiten.

    Wie ist der Status quo in den einzelnen Ländern?

    Montenegro

    EU-Mitgliedschaft beantragt: Dezember 2008
    Status als Beitrittskandidat: Ja (seit Dezember 2010)
    Was den Stand der Beitrittsgespräche angeht, gilt Montenegro unter den Beitrittskandidaten der EU-Westbalkanerweiterung als am weitesten fortgeschritten, wie die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (lpb) hervorhebt. Der frühere Premierminister Zdravko Krivokapic hatte verschiedene Etappenziele fest im Blick, – darunter den Überprüfungsprozess durch die anderen EU-Mitglieder 2023 sowie den tatsächlichen EU-Beitritt zwei Jahre Später. Im Februar 2022 wurde seine Reformregierung jedoch durch ein Misstrauensvotum beendet. Aktuell befindet sich das Land in einer Regierungskrise. Die Regierung ist seit August nur kommissarisch im Amt, im Parlament herrschte eine Pattsituation und Neuwahlen werden blockiert.

    Nordmazedonien

    EU-Mitgliedschaft beantragt: März 2004
    Status als Beitrittskandidat: Ja (seit Dezember 2005)
    Zu gering ausgeprägte Rechtsstaatlichkeit, hohe Korruption und eine zu schwache Rolle des Parlaments: Unter anderem in diesen Punkten fordert die EU von Nordmazedonien Nachbesserungen. Dennoch hatte der Europäische Rat im Jahr 2019 die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen empfohlen, nachdem das Land u. a. Fortschritte bei der Justizreform gemacht hatte.
    Bisher wurde ein Verhandlungsbeginn auch durch das Veto Bulgariens blockiert. Mit dem jüngst angekündigten Ende der Blockadehaltung seitens Bulgariens könnte sich die Lage für Nordmazedonien womöglich verbessern. Die noch bestehenden Forderungen Bulgariens hält der Leiter des Zentrums für Südosteuropa-Studien der Universität Graz, Florian Bieber, allerdings für kritisch. Sie stünden im Widerspruch zum Gedanken der europäischen Integration, sagte Bieber im Dlf.

    Bosnien und Herzegowina

    EU-Mitgliedschaft beantragt: Februar 2016
    Status als Beitrittskandidat: Nein (bislang Status „potenzieller Beitrittskandidat“)
    2014 kam der Annäherungsprozess von Bosnien und Herzegowina an die EU zum Erliegen. Im darauffolgenden Jahr gelang es dem Land, die von der EU geforderten Reformprozesse zu intensivieren. Kurz danach wurde ein Stabilisierungsabkommen (SAA) mit der Europäischen Union beschlossen. Von insgesamt 14 Reformprioritäten wurden von Bosnien-Herzegowina bislang nur wenige angegangen. Nicht zuletzt deshalb herrscht unter Fachleuten weitgehend Einigkeit darüber, dass es noch lange dauern dürfte, bis sich das Land als EU-Mitgliedstaat bezeichnen kann. 
    Die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina

    Albanien

    EU-Mitgliedschaft beantragt: April 2009
    Status als Beitrittskandidat: Ja (seit Juni 2014)
    Kaum ein anderes Land in Europa hat sich in jüngster Zeit so radikal gewandelt wie Albanien. Die Hauptstadt Tirana boomt und die Mittelmeer-Touristen sind längst angekommen. Dennoch sind auch Missstände nach wie vor vorhanden, wie die allgegenwärtige Korruption, der Drogenhandel, Umweltverschmutzung oder die in einigen abgeschiedenen Regionen noch immer existierende Blutrache – ein traditionelles Gewohnheitsrecht, das dazu führt, dass sich einzelne Familien oft jahrelang in einer blutigen Fehde bekämpfen. Das Jahr 2030 könnte eine Zielmarke für den Beitritt des Landes sein, meinte Südosteuropa-Experte Florian Bieber im Dlf. Ein Problem ist aus seiner Sicht auch Regierungschef Edi Rama, da er sehr autoritär agiere.
    Albanien war wie Nordmazedonien bis jüngst ebenfalls von der Blockade des EU-Mitgliedsstaates Bulgarien betroffen.
    Zusammen mit Montenegro (und ggf. Nordmazedonien) gilt Albanien als der aussichtsreichste Kandidat für einen EU-Beitritt mit mittelfristiger Perspektive.

    Kosovo

    EU-Mitgliedschaft beantragt: Nein
    Status als Beitrittskandidat: Nein (bislang Status „potenzieller Beitrittskandidat“)
    Das Kosovo ist erst seit dem Jahr 2008 offiziell unabhängig und dürfte von den Ländern des Westbalkans jenes sein, das am weitesten von einem EU-Beitritt entfernt ist. Eine wichtige Voraussetzung für einen Status als Beitrittskandidat ist die Normalisierung seiner angespannten Beziehungen mit Serbien, dessen Provinz das Kosovo einst war. Ohne ein Abkommen zwischen beiden Ländern kann nicht damit gerechnet werden, dass sich eine grundsätzliche Stabilität in der Region durchsetzt.
    Immer wieder in der Diskussion ist die Abschaffung der Visapflicht. Die Bürger des Kosovo brauchen als einzige auf dem Westbalkan noch Visa zur Einreise in den Schengenraum.
    Trotz allem hat die kosovarische Außenministerin Donika Gervalla-Schwarz angekündigt, dass das Land noch in diesem Jahr den Status als EU-Beitrittskandidat beantragen möchte. „Wir sind in der Region des westlichen Balkans das eine Land, das mit über 93 Prozent in der Bevölkerung eine Unterstützung für den EU-Beitritt und für einen NATO-Beitritt hat“, sagte Gervalla-Schwarz im Deutschlandfunk. (Siehe auch Abschnitt "Serbien")

    Serbien

    EU-Mitgliedschaft beantragt: Dezember 2009
    Status als Beitrittskandidat: Ja (seit März 2012)
    Serbien gilt in politischer Hinsicht als der Exot der potenziellen künftigen EU-Mitglieder aus dem Westbalkan. Grund sind die relativ engen Beziehungen zu Russland. Serbien hat den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt, aber beteiligt sich nicht an den EU-Sanktionen. Keiner der Nachbarstaaten verfolgt eine ähnliche pro-russische Politik.
    Florian Bieber von der Uni Graz sagte im Deutschlandfunk, die Anti-NATO-Töne hätten sich in den serbischen Regime-Medien weiter verstärkt. Auch in der Bevölkerung werde diese Position von vielen unterstützt, so Bieber. Zwar gebe es auch eine pro-westliche Opposition, diese sei in Serbien aber eine Minderheit. Zu den Pflichten der EU-Beitrittskandidaten gehört es auch, die Außenpolitik der Europäischen Union zu übernehmen. In dieser Hinsicht dürfte ein mittelfristiger Beitritt Serbiens unrealistisch erscheinen.
    Bieber sagte im Dlf, das Land sei aktuell keine funktionierende Demokratie. Die Regierungspartei kontrolliere alle Gemeinden, alle Institutionen und alle wichtigen Medien. In dieser Form könne ein Staat nicht der EU beitreten.
    Ein weiterer Hinderungsgrund: Serbiens Verhältnis zum Kosovo. Erst wenn der von der EU moderierte Dialog eine dauerhafte Normalisierung zwischen beiden Staaten erkennen lässt (in Form eines rechtsverbindlichen Abkommens), wäre eine weitere wichtige Hürde für den EU-Beitritt Serbiens genommen. Bislang erkennt Serbien die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an und erhebt Anspruch auf seine ehemalige Provinz. Deutschland und Frankreich haben einen Lösungsvorschlag gemacht. Demnach müsste Serbien die Abspaltung des Kosovo vom serbischen Staatsgebiet nicht anerkennen. Es müsste aber akzeptieren, dass der Kosovo autonom regiert wird. Dann könnten die fünf EU-Staaten, die den Kosovo noch nicht als unabhängig erkannt haben, das nachholen.
    Quellen: Klaus Remme, Dirk Auer, Jan-Martin Altgeld, Auswärtiges Amt, Bundeszentrale für politische Bildung, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Reuters, dpa, AfP, aha