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Westmüllexport in die DDR
Dreck gegen Devisen

Über Jahrzehnte wurde zum Teil giftiger Müll vom Westen in die DDR exportiert. Als sich Protest gegen die Praxis regte, witterte die Stasi staatsfeindliche Hetze. In der Auseinandersetzung zeigte sich, dass der sozialistischen Führung Devisen wichtiger waren als die Umwelt und Gesundheit ihrer Bürger.

Von Claudia van Laak |
Deponie nahe der Gemeinde Schünow im Kreis Zossen
"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“: Deponie nahe der Gemeinde Schünow im Kreis Zossen, Aufnahme aus dem Jahr 1992 (Karlheinz Schindler / dpa-Zentralbild )
[Dieser Hintergrund wurde am 27.02.2020 wiederholt.]
"Ach ja, das ist ja sehr schön hier."
Christian Halbrock beugt sich über einen Stapel vergilbten Papiers. Ganz oben liegt ein Brief der DDR-Volkspolizei an ihn, datiert auf den 1. November 1988.
"Es geht um die Proteste gegen die Müllverbrennung oder Müllverklappung im Osten, in einer Deponie bei Zossen, Schöneiche."
Diese "Ordnungsstrafverfügung" flatterte dem DDR-Bürgerrechtler und Umweltaktivisten ins Haus, nachdem er gegen den Müllexport von Westberlin in die DDR protestiert hatte. "Wir planten eine Fahrraddemo in der Nähe der Deponie", erzählt Halbrock. "Leider wurden wir vorab verpfiffen und vor Ort festgenommen. Strafe: 500 DDR-Mark."
Dr. Christian Halbrock in der ehemaligen Stasi-Zentrale
Dr. Christian Halbrock in der ehemaligen Stasi-Zentrale (imago / Thomas Lebie)
"Mit der skurrilen Begründung, dass ich um 11 Uhr 35 zwischen Selchow und Tollkrug in Höhe der Rindermastanlage an einer Zusammenkunft teilgenommen hätte, die geeignet war, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu beeinträchtigen. Das ist ja wirklich eine enorme Leistung (lacht). Die Kühe haben sich nicht gestört gefühlt. "
Infragestellung der SED-Führung
Die Volkspolizisten fanden in seiner Fahrradtasche ein Transparent gegen die Umweltverseuchung durch Müll aus dem Westen. Auf die Lesart des Bürgerrechtlers, es handele sich dabei lediglich um einen sehr, sehr großen Notizzettel und nicht um ein Transparent, wollten sich die Volkspolizisten nicht einlassen.
"Es ging ja nicht nur gegen Müll, sondern es sozusagen darum, der herrschenden Partei immer wieder ihre Legitimation streitig zu machen. Also eine Partei, die in der Zeitung jeden Tag gegen den Westen hetzt und die davon spricht, dass sie das Wohl aller Bürger will, und dann Müll aus dem Westen einkauft und damit Geschäfte macht."
1988, als sich die friedliche Revolution ankündigte und die DDR-Umweltbewegung selbstbewusst öffentlich demonstrierte, hatten die Devisenbeschaffer der SED unter Führung ihres Wirtschaftsfunktionärs Alexander Schalck-Golodkowski bereits 870 Millionen Mark mit dem Müllimport erwirtschaftet. Kommerzielle Koordinierung – kurz KoKo – hieß dieser Bereich im Außenhandelsministerium der DDR. Der Wirtschaftshistoriker Matthias Judt hat dazu eine profunde Studie unter dem Titel: "KoKo – Mythos und Realität" vorgelegt.
Alexander Schalck-Golodkowski
870 Millionen Mark an Devisen für den Müllimport aus dem Westen: SED-Wirtschaftsfunktionär Alexander Schalck-Golodkowski (Klaus Franke)
"Wenn man heute gefragt wird, was KoKo ist, wird sofort gesagt, Waffenhandel, Wandlitz versorgt, Kunst und Antiquitäten, und es wird nicht über die eigentlichen Milliardengeschäfte geredet, nämlich Rohstoffhandel, Agrarerzeugnisse, Kraftstoffe, Brennstoffe, Baustoffe. Alles, was irgendwie Geld bringt, was übrigens stinknormale Geschäfte sind."
Giftmüll von westdeutschen Großkonzernen
Aber eben auch Müll – der stank. 'Dreck gegen Devisen' war das Motto – der Westen war seinen Müll los, lästige Bürgerinitiativen und kritische Journalisten gleich mit. Eine "Win-Win"-Situation für beide Seiten, so dachte man damals.
Nur noch 25 Müllcontainer mit je 21 Tonnen Inhalt kommen täglich mit dem Zug aus Berlin zur Umladestelle in Vorketzin westlich der Hauptstadt. Vor Ort werden die Container auf LKW geladen und zur zwei Kilonmeter entfernten Deponie gefahren. Die seit 1974 auf einer Fläche von 140 Hektar entstandene Deponie lagerte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt rund neun Millionen Kubikmeter Hausmüll sowie rund 500.000 Tonnen Schutt ein. Vorketzin zählt zu den größten Deponien im Land Brandenburg. Das inzwischen um 20 Prozent gesunkene Berliner Müllaufkommen macht sich auch in Vorketzin bemerkbar, wo eigentlich Ende 1996 mit dem Bau eines Anschlussgleises zur Deponie begonnen werden sollte.   Foto: Karlheinz Schindler +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Mülldeponie Vorketzin (Archivfoto und Text 1996) (dpa-Zentralbild)
Der Westberliner Müll landete auf drei Deponien im damaligen Bezirk Potsdam: Schöneiche, Deetz und Vorketzin. In Mecklenburg kam später die Mülldeponie Schönberg hinzu. Unter anderem Shell, Beiersdorf und die Ruhrkohle AG kippten dort ihren Giftmüll ab, mehrere Untersuchungsausschüsse im Schweriner Landtag haben sich damit beschäftigt.
Die Entsorgung in der DDR war für die Unternehmen und die Kommunen aus dem Westen unschlagbar günstig. Illegale Lieferungen an dem zwischen dem Westberliner Senat und DDR-Behörden vereinbarten Vertrag vorbei gestalteten sich vergleichsweise einfach. Es fehlten die demokratischen Kontrollinstanzen. Außerdem waren die DDR-Umweltstandards in den 80er Jahren niedriger als die der Bundesrepublik: Keine der Deponien verfügte über eine Basis-Abdichtung. Zeitweise exportierte Westberlin 80 Prozent seines Abfalls in die DDR. Noch nicht einmal die Grünen, die mit Michaele Schreyer in der Wendezeit die Umweltsenatorin stellten, stoppten den Müllexport.
"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, muss man einfach auch sagen. Ökonomie siegt immer über Prinzipien."
Parteinterner Protest
Ein Blick zurück: In den 70er-Jahren steuerte Westberlin auf einen Müllnotstand zu. Der Senat erwog den Bau einer zweiten Verbrennungsanlage, die Bürgerinitiative "Grüne Hand" protestierte. Auch aus diesem Grund entschied sich der Senat für die vermeintlich einfachere Variante, den Müll im Osten abzuladen und schloss einen Vertrag mit der DDR.
Im Stadtbezirk Kreuzberg wird Müll direkt an der Mauer abgeladen. Aufgenommen 1985 in Berlin (West). 
Berlin (West) - Müll an der Mauer (dpa / picture alliance / Uwe Gerig)
Das Ergebnis: Eine bestehende kleine Deponie in Schöneiche am Motzener See, 25 Kilometer südlich der Westberliner Stadtgrenze, wurde massiv erweitert. West und Ost errichteten einen weiteren Grenzübergang, ausschließlich für Müllfahrzeuge. Die Vorbereitungen liefen geheim ab, trotzdem bekamen die Anwohner Wind von der Sache und protestierten. Am 1. September 1974 schrieb das SED-Mitglied Erwin Engelbrecht an Erich Honecker:
"Werter Genosse Erster Sekretär, lieber Erich!
Im Vertrauen auf das Wort des VIII. Parteitages, dass das Hauptziel all unseren Handelns das Wohlergehen der Menschen ist, bitte ich Dich, uns zu helfen, diese tödliche Gefahr abzuwenden, die unserem Gelände, unserer Gemeinschaft und dem ganzen Motzener See droht, an dem tausende Bürger aus der ganzen DDR Erholung und Entspannung finden."
Anwohner schrieben eine fünfseitige fundierte Petition, in der DDR "Eingabe" genannt. Das ökologische Gleichgewicht werde aus den Fugen geraten, es drohe eine Verseuchung des Grundwassers, Lärm und Luftverschmutzung, nicht zuletzt eine Rattenplage. Die Stasi witterte staatsfeindliche Hetze. Die Beobachtung der Mülldeponie, die Bespitzelung der Mitarbeiter und Anwohner sollte später zum Arbeitsschwerpunkt der Stasi-Kreisdienststelle Zossen werden. Am 1. Januar 1975 trat der Müllvertrag zwischen Westberlin und der DDR – Laufzeit 20 Jahre – in Kraft. Unzählige Spitzelberichte zeigen heute: der volkseigene Betrieb VEB Deponie Potsdam war überfordert.
Unsachgmäße Entsorgung giftiger Müllabfälle
"Die Sicherheit und Ordnung im gesamten Deponiegelände ist aufgrund der Größe, 136 Hektar, sowie der unzureichenden materiellen und personellen Sicherungskapazitäten nicht gegeben."
Was die Westberliner wegwarfen, war für DDR-Bürger, aber auch für Soldaten der Roten Armee, äußerst attraktiv: Pornohefte und Otto-Kataloge, Teppiche, Autoreifen, kaputte Jeans.
Sowjetsoldaten und deren Familienangehörige beim Durchsuchen der Müllkippe Dallgow nach Verwertbarem. Aufnahme vom Mai 1991. Auf der Müllhalde der Deponie Dallgow bei Berlin suchen sowjetische Soldaten, die teilweise nur zwölf Mark Sold pro Monat erhalten, nach verwertbaren Abfällen. 
Sowjetische Soldaten und deren Familienangehörige beim Durchsuchen der Müllkippe Dallgow nach Verwertbarem (Aufnahme von 1991) (dpa / picture alliance / Peter Kneffel)
Die Stasi beklagte bandenmäßiges Handeln und Gewalt gegen das Sicherheitspersonal, denn die Müllfledderer kamen mit Knüppeln, Stangen und Feuerhaken. In den ersten Monaten des Jahres 1988 zählte die Stasi bereits 1265 unbefugte Personen auf der Deponie. Das fiel auch den Westberliner Müllfahrern auf. Und nicht nur das, erinnert sich Peter Muder, früher Werkleiter bei der Berliner Stadtreinigung:
"Auf der Deponie war zu sehen, dass auch andere da abladen. Ich habe es nur, wenn ich ab und an mal auf der Deponie war, dann auch sehen können. Die haben an ganz anderen Stellen abgeladen, da kamen unsere Leute gar nicht hin, und das wurde auch immer gleich zugeschoben mit einem Radlader. Man hat gesehen, dass man Asbestplatten oder so etwas gesehen hat, die ja zu der Zeit auch schon anders beseitigt werden mussten, als die da einfach einzugraben."
Berliner Müllentsorgung zu Lasten der Brandenburger - so wie hier auf der Mülldeponie Schöneiche in Kreis Zossen, die zu DDR-Zeiten auf 139 Hektar als West-Berliner "Devisenkippe" angelegt wurde. 
"Eingabe an die Partei": Irgendwann kritisierten nicht nur Anwohner, Kirchen, Anglervereine, die oppositionelle DDR-Umweltbewegung das Müllgeschäft, sondern auch SED-Funktionäre (Karlheinz Schindler / dpa-Zentralbild)
Der Vertrag zwischen West-Berlin und der DDR regelte genau, was auf den Deponien Schöneiche, Vorketzin und Deetz abgeladen werden durfte und was nicht. Bauschutt in Deetz, Hausmüll in Schöneiche, Sondermüll in Vorketzin. Doch nicht immer entsprach das Angelieferte den Vorgaben. Die Versuchung, Giftmüll unter den normalen Hausabfall zu mischen, war groß.
Stasi-Spitzel moniert Umwelt- und Gesundheitsprobleme
Die Giftmülldeponie Schönberg in Mecklenburg war in dieser Hinsicht der größte Sündenfall. Doch auch auf den Westmüll-Deponien im früheren Bezirk Potsdam lief es nicht immer so wie vertraglich vereinbart. Das zeigen nicht zuletzt entsprechende Unterlagen des DDR-Geheimdienstes. 1983 berichtete ein Stasispitzel unter dem Decknamen "Heinz II" über Gifte, die nicht ordnungsgemäß gelagert werden konnten, weil entsprechende Fässer fehlten. "Heinz II" kritisierte in seinem Bericht den Chef, der, Zitat: "…unter jeden Umständen kurzfristig Abfallstoffe von Giften der Abteilung I kurzfristig verbringen will, um, wie er es darstellt, die Deviseneinnahmen für die DDR zu erhöhen und sich deshalb von den Problemen nicht überzeugen lässt."
Stasi-Spitzel "Walter", Angestellter beim VEB Deponie Potsdam, berichtete an seinen Führungsoffizier "Kaelble" immer wieder über Umwelt- und Gesundheitsprobleme. Er war ein Insider, zuständig für die Entnahme von Proben in der Sondermülldeponie Vorketzin.
"Seit 29.8.1979 ist ein Fischsterben im sogenannten Zanderloch im Betriebsteil Vorketzin zu bemerken. Dieses Zanderloch wird seit dieser Zeit mit Bauschutt zugeschüttet. Auf dem Wasser sind auch einige grüne Farbflecke zu sehen. Das Wasser des Zanderlochs hat Verbindung mit der Havel."
"Am 2.7.1980 stellte ich fest, dass zwischen der Ladung Sperrmüll ein Fass mit 100 Liter Flüssigkeit abgeladen wurde. Das steht im Widerspruch zur Stoffcharakteristik. Vom Inhalt brachte ich eine Probe ins Labor. Es wurde augenscheinlich festgestellt, dass sich ein Lösungsmittel in diesem Behälter befand, welches stark ätzend ist."
"Bei meiner planmäßigen Kontrolle und Abpumpung der Sickerwasserschächte stellte ich fest, dass im Sickerwasserschacht des langen Beckens eine Ölschicht auf dem Sickerwasser schwamm. Im Sickerwasser darf kein Öl enthalten sein, weil dadurch die Umwelt, soweit dieses Öl weiterdringt, geschädigt wird."
Rumoren in der Partei
1984 berichtete der inoffizielle Stasi-Mitarbeiter IM "Walter" über einen Fall von Umweltkriminalität. Eine Westberliner Firma liefere große Mengen Bodenaushub an, schrieb er, habe allerdings verschwiegen, dass dieser Boden mit Phenol verseucht war. "Walter" informierte auch über gesundheitliche Probleme der Mitarbeiter.
"Im Betriebsteil kam es zu vereinzelten Erscheinungen, dass einige Kollegen einen Hautausschlag nach dem Duschen bekamen. Bei den Kollegen von der Deponie wird vermutet, dass die Ursachen beim Asbeststaub bzw. anderen Abfallstoffen zu suchen sind."
Aus welchen Motiven heraus der Spitzel vom Volkseigenen Betrieb Deponie Potsdam an die Staatssicherheit berichtete, kann nur vermutet werden. Hatte er gehofft, der DDR-Geheimdienst würde die Verseuchung von Luft, Wasser und Boden stoppen und sich um die Gesundheit der Deponiemitarbeiter kümmern? Liest man seine Berichte, wird klar, dass der Inoffizielle Mitarbeiter "Walter" ähnliche Ziele wie die oppositionelle DDR-Umweltbewegung vertrat.
Bürgerrechtler Christian Halbrock: "Das war ein Spezialist, ein Techniker, und aus diesen Reihen kam häufig fundierte Kritik. Das ist gut, dass der sich überhaupt gemeldet hat, und dann unterliegt sein Handeln einer ganz großen Fehleinschätzung, die in Ostdeutschland weit verbreitet war. In Ostdeutschland waren wirklich viele Menschen der Meinung, wenn man irgendetwas erreichen will, hat das keinen Sinn, sich an die Partei zu wenden. Wenn hier jemand was sagen kann und durchgreifen kann, und etwas bewirkt, dann ist das die Staatssicherheit."
Potsdam verweigert "die Müllscheiße der Kapitalisten"
Doch die Stasi war nach eigener Lesart "Schild und Schwert der Partei". Sie handelte im Auftrag der SED, und dieser wiederum waren die Devisen wichtiger als Umwelt und Gesundheit ihrer Bürger. Doch es rumorte auch in der Sozialistischen Einheitspartei der DDR. Der Grund: die Devisenbeschaffer der KoKo begannen, zusätzliche Geschäfte mit dem Ausland einzufädeln, weil die aus Westberlin importierten Abfallmengen aufgrund von Mülltrennung und Recycling gesunken waren. Ein Spitzel mit Decknamen "Siegfried" berichtete am 15. Juni 1988:
"Dass der 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Potsdam, Genosse Günter Jahn, sich unqualifiziert gegen das Geschäft platziert hat. Er hat sich also in der Weise ausgesprochen, dass Potsdam nicht die Absicht hat, die Müllscheiße der Kapitalisten aufzunehmen. Also die Beratung ist auf niedrigstem Niveau geführt worden."
In der Partei klingelten die Alarmglocken. Nicht nur die unfreiwilligen Nachbarn der drei Deponien, nicht nur Kirchen, Anglervereine und die oppositionelle DDR-Umweltbewegung, auch SED-Funktionäre begannen, die Müllgeschäfte mit dem Westen zu kritisieren.
Zeit zu handeln für Alexander Schalck-Golodkowski, Staatssekretär und Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung im Außenhandelsministerium der DDR, kurz KoKo. Im September 1988 schloss er mit dem Rat des Bezirkes Potsdam eine Zielvereinbarung. Um die Region zu besänftigen, wurde der Bezirk Potsdam an den durch das Müllgeschäft erwirtschafteten Devisen beteiligt.
SED wollte Zustimmung erkaufen
"Aus den Einnahmen der Leistungssteigerung über 75 Millionen Valuta-Mark wird dem Rat des Bezirkes Potsdam ein Valuta-Anrecht in Höhe von jährlich 10 Prozent zur Verfügung gestellt."
Den DDR-Behörden bereitete die undichte Sondermülldeponie Vorketzin große Sorgen, in erster Linie die Belastung des Grundwassers. DDR-Umweltschützer vernetzten sich mit Initiativen aus Westberlin, tauschten Informationen aus. Im Abgeordnetenhaus kritisierte die Opposition den Export von Giftmüll in die DDR.
"Der Senat ist augenscheinlich nicht bereit, seine Verantwortung für die Westberliner Sonderabfälle wahrzunehmen. Es ist sicher auch bequemer, die einfach über die Grenze zu verschieben. Es gibt eine Neigung der Verwaltung, den Unterschied zwischen dem staatlichen System bei uns und dem staatlichen System in der DDR auszunutzen. Auszunutzen zu Lasten der Umwelt und zu Lasten der Gesundheit der Menschen."
Das Labor des VEB Deponie Potsdam wies krebsauslösende organische Chlorverbindungen PCB nach, so berichtet es Stasispitzel "Walter". Vorketzin dürfe nur noch bis 1994 betrieben werden, hieß es in internen Unterlagen. In jenem Jahr endete der Vertrag mit Westberlin.
Zornige Anwohner blockieren Zugang zur Deponie
Doch bevor es so weit war, sollte eine friedliche Revolution das SED-Regime beiseite fegen. Die DDR-Umweltbewegung und nicht zuletzt die unter den Deponien leidenden Brandenburger, hofften nach dem Mauerfall auf ein schnelles Ende der Mülltransporte aus dem Westen. Doch nichts dergleichen geschah, Tag für Tag rollten die orangefarbenen Lkw der Berliner Stadtreinigung BSR weiter nach Schöneiche. Im Januar 1990 hatten die Anwohner endgültig die Nase voll. Sie blockierten einen Tag lang von 6 bis 22 Uhr die Straße zur Deponie. Ulrich Wolter, er hatte von Anfang an gegen den Abfall aus Westberlin protestiert, erinnert sich genau. Das war ein richtiges Volksfest, sagt der pensionierte Bäckermeister.
Schöneiche (Brandenburg): Auf einer Fläche von 120 Hektar wird auf der Deponie Schöneiche im Kreis Zossen Haus-, Siedlungs- und Industriemüll verkippt. 
Deponie Schöneiche: Keiner weiß, welche Stoffe genau hier verscharrt wurden (dpa-Zentralbild)
"Man kann sich das gar nicht vorstellen. Auf einmal kamen immer mehr Leute. Dann kamen sie mit einer Feldküche an und haben gegrillt. Und die Westberliner Fahrer, die haben sich gefreut: Och, heute brauchen wir nichts machen. Am nächsten Tag oder zwei Tage später war ja ein neuer Umweltminister in der DDR. Da kam dann gleich ein Telegramm, dass der Umweltminister erst einmal die ganzen Giftmülltransporte stoppt und dass eben nichts verschickt wird und dass neu verhandelt wird."
"17 Uhr. RIAS aktuell: Kein bundesdeutscher Müll mehr nach Schöneiche und Vorketzin. DDR-Umweltminister Diederich hat die Genehmigungen für die beiden Deponien im Bezirk Potsdam zurückgezogen."
Welche Schadstoffe schlummern in den Deponien?
Doch die Freude der Anwohner währte nur kurz, die DDR ging unter, die Mülltransporte wurden wieder aufgenommen. Aus dem VEB Deponie Potsdam wurde die MEAB, die Märkische Entsorgungsanlagen Betriebsgesellschaft, Eigentümer sind heute zu gleichen Teilen die Länder Berlin und Brandenburg. Alle drei Deponien des früheren DDR-Unternehmens werden bis heute weiterbetrieben. Die Sondermüll-Verbrennungsanlage in Schöneiche, kurz vor dem Mauerfall fertiggestellt, arbeitet ebenfalls bis heute. Welche Schadstoffe in den Tiefen der Deponien Schöneiche, Vorketzin und Deetz schlummern, ist nie genau untersucht worden. Erst seit 2004 verfügt die Giftmülldeponie Vorketzin über eine dichte Doppelkammerwand. Ulrich Stock vom Landesumweltamt Brandenburg:
"Diese Dichtwand bewirkt, dass der Körper von Vorketzin quasi eingekapselt ist. Deshalb war es für uns nicht so wahnsinnig interessant, was in der Deponie drin ist. Denkbar wäre auch eine Auskofferung. Davon haben aber alle Experten abgeraten. Weil das Eingreifen in einen solchen Deponiekörper mit erheblichen Risiken verbunden ist, von den Kosten ganz zu schweigen."
Der letzte veröffentlichte Geschäftsbericht des Deponiebetreibers MEAB aus dem Jahr 2017 zeigt: 11.720.000 Euro kosten Sanierung und Nachsorge der Deponien jährlich, etwa zwei Drittel davon – 7.650.000 – verschlingt der Giftmüllstandort Vorketzin nordwestlich von Potsdam. Ulrich Stock vom Landesumweltamt:
"Der gesetzliche Ansatz geht davon aus, dass die Nachsorgephase endlich ist und dass man dann nach einer gewissen Zeit die Beobachtung beenden kann. Für Vorketzin muss man allerdings sagen, dass dieser Dichtwandtopf auf unabsehbare Zeit zu bewirtschaften ist. Und bei einer Deponie der Größe von Schöneiche gehe ich auch davon aus, dass da ein Ende der Nachsorge nicht absehbar ist."
Auch die nächsten Generationen werden für den damaligen Müllexport von West nach Ost zahlen müssen. Gefährliches Erbe statt "Win-Win"-Situation also.