Die Grenze der spanischen Nordafrikaenklave Ceuta zu Marokko am 18. Mai: Tausende Menschen, viele von ihnen Marokkaner, strömen auf die spanische Seite. Die marokkanischen Grenzbeamten hatten zuvor die Kontrollen eingestellt. Die spanischen Polizisten und Militärs wollen die Migranten anfangs noch aufhalten, stehen dem Andrang letztlich aber recht hilflos gegenüber.
Der spanische Journalist Ignacio Cembrero sagt: Die Gründe für diese Grenzöffnung durch Marokko liegen 1500 Kilometer weiter im Süden. Dort, an der Atlantikküste, befindet sich die Westsahara, einst eine spanische Kolonie. Seit 1975 beansprucht Marokko das Gebiet als eigenes Staatsterritorium, die Befreiungsfront Polisario hingegen kämpft für die Unabhängigkeit.
Bis 1975 war die Westsahara eine spanische Kolonie
Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hatte die marokkanische Souveränität über das Territorium im Dezember mit einer Nachricht bei Twitter anerkannt. Marokko habe nun mit der Grenzöffnung vor Ceuta durchsetzen wollen, dass auch Spanien diesen Schritt macht und die Westsahara als marokkanisches Territorium akzeptiert, sagt der Journalist Cembrero.
"Marokko dachte, dass mehrere Staaten diesen Schritt machen würden. Und für Marokko ist es besonders wichtig, was Spanien macht. Es ist die alte Kolonialmacht und genießt in der Frage der Westsahara eine gewisse Autorität. Einem nun schon 19 Jahre alten juristischen Gutachten der Vereinten Nationen zufolge ist Spanien sogar die Verwaltungsmacht der Westsahara, auch wenn es diese Funktion nicht ausüben kann."
Bis 1975 war die Westsahara eine spanische Kolonie. Im Zuge der von den Vereinten Nationen geforderten Dekolonisation ließ Spanien schon 1968 in seiner damaligen Kolonie Äquatorialguinea über die Unabhängigkeit abstimmen, 1974 sollte ein solches Referendum auch in der Westsahara folgen.
"Die Dekolonisation in Äquatorialguinea sollte zur Blaupause werden, und sie verlief beispielhaft. Eine andere Frage ist, was dann aus dem Land geworden ist. Es hat sich in eine Diktatur verwandelt. Aber es ist schon kurios, dass eine Diktatur - was Spanien 1968 ja ohne Zweifel war - in der Lage war, in einer Kolonie ein lupenreines, demokratisches Referendum abzuhalten."
So entschied sich Äquatorialguinea für die Unabhängigkeit. In der Westsahara kam es jedoch nie zu einer entsprechenden Abstimmung.
"Geliebtes Volk! Morgen, so Gott will, wirst Du die Grenze überschreiten." – Mit diesen Worten richtete sich Marokkos König Hassan II. im Fernsehen an die zehntausenden unbewaffneten Marokkaner, die im November 1975 in die Westsahara vorrücken und das Gebiet besetzen sollten. "Du wirst den Sand berühren und die Erde Deines geliebten Vaterlands küssen", formulierte Hassan II. und untermauerte so den Anspruch, die Westsahara mit ihren Phosphatminen und reichen Fischgründen im Atlantik sei schon immer ein Teil Marokkos gewesen.
Den neuen Feind Marokko gibt es bis heute
Die spanischen Truppen zogen sich einige Kilometer hinter die Grenze zurück. Spanien wollte keinen Krieg mit Marokko, Diktator Franco lag im Sterben, niemand wusste, wie es weitergehen würde. So einigte sich Spanien mit Marokko und zog noch im Februar 1976 ab. Die Befreiungsfront Polisario in der Westsahara, die bis dahin gegen die Kolonialmacht Spanien gekämpft hatte, bekämpfte fortan einen neuen Feind, und zwar Marokko. Bis heute.
"Spanien gibt das Gebiet auf und vergisst einfach seine Pläne für eine Dekolonisation. Es öffnet die Türen für die militärische Invasion, die bis heute anhält. Ich war damals neun Jahre alt", das sagt Abdullah Arabi, Gesandter der Befreiungsfront Polisario in Madrid. "Die Militärs sind in die Städte der Westsahara eingedrungen, haben Haus für Haus kontrolliert und nach Mitgliedern der Polisario gesucht. Es gab willkürliche Verhaftungen, viele sind für immer verschwunden. Das hat die Kindheit einer ganzen Generation geprägt. Wir konnten dann fliehen. Das ist die Situation bis heute, 46 Jahre danach."
Von 400 Verschwundenen spricht der Polisario-Vertreter. Eine Zahl, die Marokko allerdings nicht anerkennt. Fest steht: Zehntausende sind damals vor den Angriffen nach Algerien geflohen, dem großen Gegenspieler Marokkos im Maghreb. In der Nähe der Wüstenstadt Tindouf hat die Polisario fünf Flüchtlingscamps organisiert, in denen nach Angaben der Organisation bis heute rund 175.000 Menschen leben.
"Ich heiße Ebbaba Hameida. Ich bin 28 oder 29 Jahre alt. Dass ich es nicht so genau weiß, liegt daran, dass ich in der Wüste aller Wüsten zur Welt gekommen bin. In den Flüchtlingscamps der Sahrauis in Algerien. Dorthin waren meine Eltern geflohen, als Spanien die Westsahara im Stich gelassen und Marokko das Gebiet besetzt hat."
Heute lebt Ebbaba Hameida in Madrid. Wie einst sie kommen jedes Jahr rund 4000 Kinder aus den Flüchtlingslagern für zwei Monate zu Gastfamilien nach Spanien. Die Kinder entgehen so der enormen Hitze in der Sahara, der Aufenthalt wird auch für ärztliche Untersuchungen genutzt, denn viele sind mangelernährt. Zudem verbessern die Kinder so ihre Spanischkenntnisse, die zweite Amtssprache in den Camps neben Arabisch.
Die "Ferien des Friedens", wie die private Initiative genannt wird, fallen wegen der Corona-Pandemie nun schon zum zweiten Mal aus. Aber sie zeigen, wie präsent die ehemalige Kolonie den Spaniern bis heute ist. Jedes Jahr setzen sich auch Hilfskonvois von Spanien in die Flüchtlingscamps in Bewegung, und ohne die Unterstützung der spanischen Kulturszene wäre wohl auch das jährliche Filmfest in den Camps der Polisario kaum möglich:
"Das Volk der Sahrauis, unser Brudervolk, ist im Krieg", sagt die spanische Schauspielerin Clara Lago in einem Video des Filmfests Sahara, Oscarpreisträger Javier Bardem appelliert an die spanische Regierung, im Konflikt zugunsten der Frente Polisario zu intervenieren, Spanien habe eine historische Verantwortung. Und Darsteller Alberto Ammann fordert, Spanien dürfe nicht zum Komplizen werden, bei allem, was den "Brüdern und Schwestern aus der Westsahara" angetan werde, seit Spanien sich aus der Westsahara zurückgezogen und die marokkanische Invasion erlaubt habe.
"Spanien will in dem Konflikt keine Rolle spielen"
"Man hat ein Volk im Stich gelassen, ein Volk, das nun leidet. Ja, da spricht das schlechte kollektive Gewissen wegen der Art der Dekolonisation", meint Journalist Ignacio Cembrero. Und obwohl der Polisario-Führer Brahim Ghali im April wegen einer schweren Corona-Erkrankung in einem spanischen Krankenhaus behandelt wurde, habe die breite Sympathie für die Sahrauis keinen Einfluss auf die spanische Politik, erklärt er:
"Spanien will in dem Konflikt keine Rolle spielen. Es versteckt sich hinter den Resolutionen der Vereinten Nationen. Hinter den Kulissen hilft Spanien Marokko. 2010 veröffentlichte Wikileaks, dass der spanische Botschafter in Rabat, der heutige Landwirtschaftsminister Luis Planas, Marokko bei einer Autonomielösung für die Westsahara juristisch beraten wollte. Aber Rabat möchte, dass Spanien seine Gebietsansprüche öffentlich unterstützt."
Denn die Vereinten Nationen haben bislang zwar ein Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis anerkannt, aber keinen der territorialen Ansprüche der Konfliktparteien. 1992 einigten sich Marokko und die Polisario auf einen Waffenstillstand und ein Referendum zur Zukunft der Region. Doch es kam nie zur Abstimmung. Stattdessen haben sich in der Westsahara immer mehr Marokkaner angesiedelt, so dass heute in der Region nach Schätzungen der Vereinten Nationen rund 600.000 Menschen leben.
Nur noch 125.000 davon sind Sahrauis, sagt die Polisario – "eine kleine Minderheit im eigenen Land", so die Worte der Organisation. Die Polisario hält dennoch am Selbstbestimmungsrecht fest, Marokko spricht dagegen nur noch von einer Autonomielösung innerhalb seines Königreichs. Cembrero ist skeptisch:
"Wenn ein Teil Marokkos eine echte Autonomie bekäme, dann würden sofort andere Regionen dasselbe fordern, vor allem das Riff im Norden. Das gesamte Staatsgefüge ist sehr stark zentralisiert, eine echte Autonomie würde diese Struktur gefährden. Würde sich die Polisario auf ernsthafte Verhandlungen über diese Frage einlassen, hätte Marokko ein echtes Problem. Denn mehr als eine Scheinautonomie kann es der Westsahara nicht gewähren."
Die Sichtweise Cembreros gefällt in Marokko nicht. Der Spanier war lange Korrespondent der Tageszeitung El País in der marokkanischen Hauptstadt Rabat und gilt als einer der bestinformierten Journalisten Spaniens zu Fragen des Maghreb. Aber er darf das Land nicht mehr betreten. Dafür wurden auf seinem Telefon Hinweise auf die Spähsoftware Pegasus entdeckt. Marokko steht im Verdacht, sie sogar bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron installiert zu haben. Cembrero fasst zusammen:
"Marokko hat seit dieser Erklärung von Donald Trump am 10. Dezember mehrere Fehler begangen. Sie haben die Folgen dieser Entscheidung auf die Haltung der Europäer in der Westsaharafrage überschätzt. Dann dachten sie, sie könnten Druck ausüben, indem sie die Grenzen zu Ceuta öffnen und haben dabei nicht überdacht, dass sie damit den Protest in ganz Europa provozieren würden. Und der schwerste Fehler war, diese Spähsoftware einzusetzen, nicht nur gegen den Nachbarn Algerien, sondern auch noch gegen Frankreich, den Hauptverbündeten Marokkos."
Die marokkanische Position ist unklar
Einen Erfolg konnte Marokko hingegen verbuchen: Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez entließ seine Außenministerin Arancha González Laya und ernannte stattdessen José Manuel Albares, den bisherigen Botschafter in Paris zu ihrem Nachfolger. Die marokkanische Position in diesem Konflikt lässt sich nur schwer aus erster Hand darstellen. Rabat hat seine Botschafter aus Berlin und aus Madrid abgezogen.
Mehrere Interviewanfragen per Telefon und E-Mail und auch der Vorschlag, Fragen zu den marokkanischen Plänen in der Westsahara und zur dortigen Menschenrechtslage wenigstens schriftlich zu beantworten, blieben ohne Antwort. Doch gibt es Einschätzungen und Analysen von Experten ausländischer Denkfabriken. Haizam Amirah Fernández vom Elcano-Institut in Madrid meint:
"Für Marokko ist die Herrschaft über die Westsahara eine Frage nationaler Souveränität. Seit Mitte vergangenen Jahrhunderts ist vom "großen Maghreb" die Rede, dem großen Marokko. Nach den Vorstellungen von damals gehört nicht nur die Westsahara dazu, sondern auch ein Teil Algeriens, Mauretaniens und natürlich die Kanarischen Inseln. Das ist ein nationalistisches Projekt, auf dem Hassan II., der Vater des gegenwärtigen Königs Mohammed VI., die Legitimität der Monarchie begründet hat."
In den vergangenen Jahren empfehle sich Marokko auch als Bollwerk gegen den islamistischen Terrorismus, der sich südwestlich der Westsahara immer weiter ausbreitet. Der Dschihadistenführer Adnan al-Sahrawi stammt aus den Flüchtlingscamps der Polisario in der Wüste. Ein Einzelfall, meint Haizam Amirah-Fernández:
"Marokko versucht schon lange, die Polisario mit dem Dschihadismus in Verbindung zu bringen, aber es gibt neben al-Sahrawi nach meiner Kenntnis keine weiteren Fälle. Die Polisario ist davon wirklich weit entfernt. Es wäre ihr Ende. Wir befragten dazu auch schon die US-Amerikaner, auch die sehen da keine Verbindung. Diese These ist Teil des Propagandakriegs, Teil des Konflikts. Es wurde auch schon versucht, den Iran und die Hisbollah mit der Polisario in Verbindung zu bringen. Das ist Unsinn."
Die Zukunft ist ungewisser denn je. Gegenwärtig haben die Vereinten Nationen für die Westsahara nicht einmal mehr einen Sondergesandten, seit der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler dieses Amt 2019 aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt hat. Alle bislang vorgelegten Friedenspläne sind gescheitert, sagt Amirah-Fernández:
"Es gab eine Zeit, da war die Westsahara ein wichtiges Thema. James Baker erreichte als Sondergesandter die Einigung von Houston, als sich beide Parteien auf ein Referendum verständigt hatten. Er war ein Schwergewicht in der Außenpolitik der USA, ehemals Außenminister. Er hörte frustriert auf. John Bolton, der berühmte ehemalige Sicherheitsberater von Donald Trump, war Mitarbeiter von James Baker, Marokko hält ihn heute für einen Feind des Landes, weil er die Unabhängigkeit der Westsahara befürworte."
Auch Horst Köhler konnte als Sondergesandter keine Fortschritte erzielen. Und in Kürze wird ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs erwartet, das Marokko noch weiter verstimmen dürfte:
"Dieses Verfahren betrifft die Fischerei-, Handels- und Agrarabkommen zwischen Marokko und der Europäischen Union, die zum Beispiel auch den Fischfang in Gewässern der Westsahara beinhalten. Der Europäische Gerichtshof hatte bereits einmal entschieden, dass diese Abkommen ungültig sind, weil Marokko keine Hoheitsbefugnisse über das Gebiet der Westsahara hat. Es ist wahrscheinlich, dass der Gerichtshof dieses Urteil demnächst bestätigt. Das wird die Spannungen zwischen Marokko und einigen Staaten der Europäischen Union verstärken."
Menschenrechtsverletzungen durch marokkanische Sicherheitskräfte
Zudem soll der Weltsicherheitsrat das UN-Mandat für die Westsahara nach dem Sommer verlängern, womöglich einen neuen Sondergesandten bestellen und dabei eine neue Resolution beschließen. Spanien hält sich weiterhin bedeckt, aus dem Außenministerium heißt es, man strebe eine gerechte und dauerhafte Lösung an, die beide Seiten akzeptieren könnten.
Doch welche Aufgabe soll die UN-Mission Minurso in der Westsahara noch erfüllen? Bislang war ihre Aufgabe, ein Referendum zu organisieren. Menschenrechtsorganisationen wünschen sich, die Mission sollte wenigstens ein Mandat zur Beobachtung der Menschenrechtslage vor Ort erhalten. Alfonso López, Sprecher von Amnesty International, macht Marokko schwere Vorwürfe:
"Auf der einen Seite haben wir den Fall von Sultana Khaya und ihrer Familie. Sie lebt nun schon seit sechs Monaten unter Hausarrest ohne richterlichen Beschluss. Nach unseren Informationen sind am 12. Mai mehrere Sicherheitsbeamte in ihr Haus eingedrungen, haben ihre Schwester vergewaltigt und versucht, auch sie selbst zu vergewaltigen."
Die Aktivistin stehe weiter unter Hausarrest. Es handele sich nicht um einen Einzelfall, sagt der Amnesty-Sprecher, die Menschenrechtsverletzungen durch marokkanische Sicherheitskräfte nähmen sogar zu:
"Wir kennen mindestens sieben Fälle von Folter gegen Aktivisten und Menschenrechtler, Misshandlungen, Hausfriedensbruch, Hausarrest. Dies nimmt zu, seit im November Aktivisten am Grenzübergang Guerguerat zu Mauretanien gegen die Ausbeutung der Bodenschätze der Westsahara protestiert hatten, wogegen das Militär vorgegangen war."
Zur Menschenrechtslage in den von der Polisario kontrollierten Flüchtlingscamps sagt Amnesty International:
"Auch dort können wir die Situation nicht vor Ort untersuchen. Es gab auch hier nie eine juristische Aufarbeitung der schweren Menschenrechtsverletzungen während des Kriegs mit Marokko in den 1970er und 1980er Jahren. Zuletzt gab es Verletzungen der Meinungsfreiheit. Menschen wurden verhaftet, weil sie über die Pandemie Nachrichten verbreitet haben sollen, die den lokalen Behörden zufolge falsch waren. Das Problem auch hier: In fast allen Friedensmissionen der UN sind die Menschenrechte Teil des Mandats, nicht aber bei dieser Mission."
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht auch von Verhaftungen von Dissidenten in den Camps. Einem Bericht der Organisation von 2014 zufolge hält die Polisario aber niemanden davon ab, in das marokkanisch kontrollierte Gebiet zu ziehen. Aber auch dort sehen nur wenige junge Sahrauis eine Perspektive. Ebbaba Hameida hat in Spanien Journalismus studiert, zwei Masterabschlüsse abgelegt und arbeitet jetzt für die staatliche Radiotelevisión Española. Rückblickend sagt sie:
"Spanien hat es mir leichtgemacht. Die spanische Gesellschaft kennt die Situation der Westsahara. Als ich nach Spanien kam, wussten sie genau, wer ich bin. Das Leben in den Camps hat mir aber auch gezeigt, dass ich dort nicht studieren kann, dass ich dort keine Zukunft habe. Von dieser Wüste können wir nichts erwarten. Als ich zurückkam, wollte ich vor allem eins: Studieren, studieren, studieren."
Bislang leben zwar nur 9000 Sahrauis in Europa, doch diesem Weg in die Diaspora dürften noch viele junge Sahrauis folgen.