Alles scheint wieder ganz normal. Im Champions-League-Match vom AC Mailand gegen Borussia Dortmund sitzt Alessandro Florenzi auf der Reservebank im Stadion San Siro. In der Serie A spielt er inzwischen sogar wieder, wie auch Nicolò Zaniolo in der Premier League.
Im Oktober und November wurden beide noch von der Staatsanwaltschaft Turin vernommen. Sie hatten auf verbotenen Plattformen Poker und Blackjack gespielt. Weil sie nach bisherigen Erkenntnissen aber nicht auf Fußball gesetzt haben, droht ihnen nur eine Geldstrafe. Und sie dürfen weiterspielen.
Wetten auf Fußball sind in Italien für alle Fußballer verboten
Ihre Nationalmannschaftskollegen Nicolò Fagioli und Sandro Tonali haben hingegen auf Fußball gewettet. Das ist in Italien für alle Fußballer verboten. Der italienische Verband hat beide daher für sieben und zehn Monate gesperrt. Bekannt wurde das alles nur als Beifang einer Operation der Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft Turin.
„Anfangs ging es um andere Sachen, eine Ermittlung zum Drogenhandel. Es ging gar nicht um Fußball. Dann tauchten aber diese Telefonate auf und wir haben das Verfahren abgetrennt“, sagt Enrica Gabetta, Koordinatorin der Anti-Mafia-Abteilung in Turin. Gegen die Hintermänner der illegalen Plattformen, die mutmaßlich Gewinne aus dem Drogenhandel legalisieren wollten, laufen die Ermittlungen noch.
Bislang keine Hinweise auf Spielmanipulation
Hinweise auf Wettbetrug, also das Manipulieren von Spielen, gibt es bislang nicht. Das betont auch Luca Ferrari, Anwalt des gesperrten Nicolò Fagioli: „Da gab es nichts, nicht einmal den Schatten eines Verdachts. Das Problem ist vielmehr die Gefahr von Spielsucht, die zu finanziellen Schwierigkeiten führen und anfällig für Druck durch die Kreditgeber machen kann.“ Genau wegen dieser Anfälligkeit für Erpressungen drohen zumindest in Italien drastische Strafen für wettende Athleten.
Die eigentliche Ursache, die Spielsucht, wird allein mit Strafen aber nicht behoben. Spielsucht ist ein weitverbreitetes Phänomen, zwei bis drei Prozent der Bevölkerung in den westlichen Industrieländern leiden darunter. Im Sport liegt der Prozentsatz noch viel höher.
„Wir haben mittlerweile erste Studien, international wie national, die darauf hinweisen, dass Mitglieder von Sportvereinen überzufällig häufig von glücksspielbezogenen Problemen betroffen sind. Wenn ich alle Studien zusammenfasse, dann kann man sehen, dass etwa 8 bis 10 Prozent aller Mitglieder von Sportvereinen von glücksspielbezogenen Problemen betroffen sind", stellt Tobias Hayer fest. Hayer ist Psychologe, leitet die Arbeitseinheit Glücksspielforschung der Universität Bremen und arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten zum Thema Glücksspielsucht.
Psychologe: Therapie für Spielsucht dauert gut ein Jahr
Auch in Italien sind Mitglieder von Sportvereinen eine besondere Risikogruppe für Spielsucht, sagt Paolo Jarre, Psychologe aus Turin. Er ist gegenwärtig Therapeut des gesperrten Profis Fagioli: „Schon Sportler von Amateurvereinen haben eine Nähe zum Wetten, denn sie sprechen oft darüber. Sie lesen in den Sportzeitungen die Wettquoten. Und auch in den Stadien tauchen immer mehr die Werbebanner für Eurobet, Bet365 und so weiter auf.“
Weitere Faktoren, die zu erhöhten Wettanreizen ganz allgemein bei Mitgliedern von Sportvereinen führen, sind laut Jarre und Hayer: ein ausgeprägtes Interesse für den Sport. Eine Affinität zum Wettbewerb und zur Quantifizierung von Leistungen. Und die Illusion, mit der durchaus vorhandenen Expertise ganz leicht viel Geld machen zu können. Auch Langeweile, vor allem bei Profifußballern mit viel Freizeit und nur einem Training pro Tag, kann den Einstieg in die Sucht bedeuten.
Helfen kann letztlich nur eine Therapie. Jarre arbeitet derzeit mit Fagioli daran. Ganz allgemein geht es darum, überhaupt erst ein Bewusstsein für die Krankheit zu entwickeln. Dann müssen Interessen geweckt werden, die verhindern, dass man erneut in ein Loch fällt und Erlösung im Kick einer gewonnenen Wette sucht. Jarre veranschlagt dafür ungefähr ein Jahr. Er kann immerhin darauf setzen, dass Juventus Turin, der Arbeitgeber seines Patienten, nicht nur die Therapie unterstützt, sondern Fagiolis Vertrag auch verlängert hat. Das sorgt für Sicherheit.
Glücksspielsucht wird wegen Interessenskonflikten bagatellisiert
Juventus ist durch den Skandal immerhin aktiv geworden. Viele andere Vereine und Verbände ducken sich aber weg, kritisiert Psychologe Hayer: „Ich habe den Eindruck, dass viele Sportvereine das Thema der Glücksspielsucht im Allgemeinen beziehungsweise Sportwettensucht im Speziellen immer noch verharmlosen, bagatellisieren, zum Teil sogar in Gänze negieren. Das liegt unter anderem an Interessenskonflikten. Wenn ich eine Partnerschaft eingehe mit einem Sportwettenanbieter, dann betone ich natürlich das Positive dieser Produkte. Faktoren wie Geldwäsche, Spielmanipulation, aber auch Glücksspielsucht rücken da automatisch in den Hintergrund.“
Er stellt der Welt des Sports ganz drastisch die Frage: „Muss ich als Verein tatsächlich Geld von der Suchtmittelindustrie annehmen, also Geld, das zumindest zum Teil von Kranken, von Süchtigen, Spielern und Spielerinnen stammt?“
International gibt es zumindest erste Ansätze für Prävention und Therapie. In Großbritannien hat der frühere englische Nationalspieler Tony Adams bereits im September 2000 die „Sporting Chance Clinic“ eröffnet. In den ersten Jahren zählten vor allem Athleten mit Alkoholproblemen zu den Klienten. Jetzt handelt es sich bei der Mehrheit um Glücksspielsüchtige aus dem Leistungssport, konstatiert Adams.
2023 hat Sportradar, weltweit die Nummer 1 in Sachen Monitoring vom Sportwettmarkt, in den USA das „Athlete’s Wellbeing Program“ gestartet. Das Programm will vor allem über die Gefahren von Spielsucht aufklären und zur psychischen Gesundheit von Leistungssportlern beitragen. Vergleichbare Programme gibt es für Deutschland noch nicht.