Auszug aus "Die Leiden des jungen Werther":
"Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen ... Du gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest Dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt ... Es vergeht kein Tag, dass ich nicht eine Stunde da sitze ..."
Der Grund für diese guten Ortskenntnisse: Goethe hat den Sommer 1772 in Wetzlar verbracht. Heute würden er und sein berühmter Hauptdarsteller an diesem beschaulichen Ort nicht mehr die Ruhe von damals finden. Und Wasser fließt auch nicht mehr aus dem Brunnen. Dafür viel Verkehr auf den Straßen ringsum.
Um zu erfahren, warum Goethe den Sommer 1772 in Wetzlar verbrachte, führt der Weg in die Innenstadt, zu einem Palais aus dem 18. Jahrhundert. Dort ist das Reichskammergerichts-Museum untergebracht. Das Gebäude wurde damals von einem der in Wetzlar tätigen Richter bewohnt. Das Museum ist in der Belle Etage untergebracht.
Eine breite Holztreppe führt nach oben. Ich bin mit Professor Anette Baumann verabredet. Sie leitet die Forschungsstelle zum Reichskammergericht und Sie ist die beste Museumsführerin, die man sich zu diesem spannenden Kapitel deutscher Geschichte vorstellen kann.
"Das Reichskammergericht wurde 1495 auf dem Reichstag zu Worms gegründet. Einen Reichstag müssen Sie sich vorstellen wie so ein Gipfeltreffen. Wie G8 oder G9. Also Kaiser und Fürsten und Reichsstädte treffen sich..."
... und beschließen auf höchster Ebene wichtige Dinge. Wie zum Beispiel unter Kaiser Maximilian die Einrichtung der damals höchsten Rechtsinstanz im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, die zunächst in Speyer und schließlich in Wetzlar ihren Sitz hatte.
"Dieses Gericht ist unglaublich modern. Die Richter sind zum ersten Mal professionelle studierte Juristen. Absolut professionelles Personal. Das gab's vorher im Mittelalter nicht. Der zweite Punkt ist auch sehr modern und spiegelt sich heute sogar noch in der Verfassung der Bundesrepublik wider. Dieses Gericht agiert unabhängig vom Wohnsitz des Kaisers. Also so, wie heute in Karlsruhe Recht gesprochen wird und nicht in Berlin, so wurde damals in Speyer und später in Wetzlar Recht gesprochen und eben nicht am Kaiserhof in Prag oder Wien."
Wetzlar, die unscheinbare Stadt an der Lahn, wird Ende des 17. Jahrhunderts zu einer wichtigen Schaltzentrale im habsburgischen Reich. Doch die kleine Weltstadt hat damals noch große Imageprobleme.
"Stroh auf den Dächern, Kot auf den Straßen, die Straßen sind nicht gepflastert, grauenhaft ... "
Als der junge Jurist Johann Wolfgang Goethe am 10. Mai 1772 in Wetzlar eintrifft, um am Reichskammergericht ein Praktikum zu absolvieren, ist er nicht sonderlich begeistert. Der 23-Jährige hatte in Frankfurt am Main, in Leipzig und in Straßburg Großstadtluft geschnuppert. Wetzlar ist ihm einfach zu klein, zu bieder, zu langweilig. Und auf juristische Studien hat er schon gar keine Lust.
"Er hat es so eingerichtet, dass das Gericht gerade Ferien hatte. Also wir wissen nicht, ob er jemals bei irgendeinem Prokurator oder irgendeinem Richter die Schreibstube von innen gesehen hat. Das wissen wir alles nicht."
Goethe nutzt die Zeit in Wetzlar lieber, um noch letzte Inspirationen für sein erstes wichtiges literarisches Werk zu sammeln. Ein besonderes Ausstellungsstück im Museum, der Abguss einer Grabplatte, nutzt Anette Baumann gerne dazu, um die Museumsbesucher auf die Probe zu stellen.
"Ich lasse die Leute immer rätseln, wer das ist. Hier können wir es abkürzen: Götz von Berlichingen."
"Werther" macht Goethe zum Literatur-Star
Während seiner Praktikantenzeit in Wetzlar erhält Goethe wichtige Informationen über den Mann mit der eisernen Hand, mit deren Hilfe er sein berühmtes Schauspiel vollenden und 1773 veröffentlichen kann. Aber neben dem "Götz" ist da natürlich noch der "Werther". Ein Briefroman, der zum Bestseller wird und der Goethe zum Literatur-Star macht. Und diese Geschichte hat ihre Wurzeln in Wetzlar. Goethe-Kennerin Gisela von Schneidemesser weiß alles darüber.
"So, wir befinden uns hier in einer ehemaligen Niederlassung des Deutschen Ordens. Und im 18. Jahrhundert müssen Sie sich das hier vorstellen, wie einen großen Gutshof. Mit Scheunen und Stallungen und Tieren. Und hier in diesem Fachwerkhaus wohnte der Verwalter. Das war Charlottes Vater, Heinrich Adam Buff. Seine Frau war das Jahr zuvor gestorben. Die Lotte war 18, als die Mutter starb. Sie führte den Haushalt und versorgte elf Geschwister."
Und diese Charlotte Buff lernt Goethe eines Tages kennen und baut sie in seinen Roman "Die Leiden des jungen Werther" als weibliche Hauptfigur ein. Wenn man Lottes Wohnhaus in Wetzlar besucht, verschwimmen Fantasie und Wirklichkeit auf wundersame Weise.
Gisela von Schneidemesser: "Er beschreibt genau, wie er den Hof hinaufgeht, die vorliegende Treppe hinaufsteigt und sie dann zum ersten Mal sieht."
Auszug aus "Die Leiden des jungen Werther":
"Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause ... "
Gisela von Schneidemesser: "So, also übrigens, wenn Sie auf diese Stufe da unten treten, dann treten Sie auf dieselbe Stufe, auf die Goethe auch schon getreten ist."
Auszug aus "Die Leiden des jungen Werther":
"... und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von elf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid mit blassroten Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen ringsum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab ..."
Wie er, Goethe, sich in Lotte verliebt, lässt er auch seine Romanfigur Werther sich in dieses hübsche und natürliche Mädchen verlieben. Charlotte Buff war schon seit längerem in festen Händen. Sie war dem elf Jahre älteren Gesandtschaftssekretär Johann Christian Kestner versprochen. Eine prickelnde Situation, die Goethe als Ausgangspunkt für seine berühmte Liebegeschichte nutzt.
Gisela von Schneidemesser: "Das hier ist die Erstausgabe. Er ließ es anonym erscheinen. Der Vater hatte erst den Götz finanziert. Und er wusste nicht, was der Vater zu dem Buch sagen würde, also war er vorsichtig. Und er ließ es erscheinen in einem jungen Verlag in Leipzig, bei Weigand."
Das war 1774, zwei Jahre nach Goethes Aufenthalt in Wetzlar. Die Erstauflage ist schnell vergriffen. Es sind vor allem junge Männer, die sich dem Romanhelden Werther verbunden fühlen, sich mit dessen leidenschaftlicher Liebe identifizieren.
Von Schneidemesser: "Das hier war das sogenannte Staatszimmer. Der Begriff Salon war noch nicht so geläufig. Diese Tapetentüre kommt auch vor im Buch. Er gesteht ihr seine Liebe und sie entschwindet durch diese Tür in ihr Zimmer und sagt: "Werther, Sie sehen mich nicht wieder!" – Dahin konnte er nicht folgen. Das war Privatsphäre."
Auszug aus "Die Leiden des jungen Werther":
"Werther streckte ihr die Arme nach, getraute sich nicht, sie zu halten... Lotte! Lotte! Nur noch ein Wort! Ein Lebewohl! - Sie schwieg. Er harrte und bat und harrte; dann riss er sich weg und rief: Lebe wohl, Lotte! Auf ewig lebe wohl!"
Es geht über den Kornmarkt mit seinen schönen alten Fachwerkhäusern ...
Von Schneidemesser: "So, da in diesem grünen Haus wohnte Goethe1772, als er hier in Wetzlar weilte."
Goethes Werther steuert seinem traurigen Finale zu. Und auch wir lenken unsere Schritte durch Wetzlar zu dem Ort, an dem der Schlussakt der Liebesgeschichte stattfindet.
Gisela von Schneidemesser: "Können wir rein? Wir möchten gerne oben ins Museum ... Ja, bitte! Also das war die Wohnung des jungen Karl Wilhelm Jerusalem."
Eine schlicht eingerichtete Wohnung. Zwei Räume, kaum Möbel. In einem Alkoven ein einfaches Bett. Vom Fenster aus fällt der Blick auf einen kleinen Platz. Gegenüber liegt das ehemalige Franziskanerkloster. Vor dem Fenster ein schmuckloser Schreibtisch. Wie Goethe ist auch Jerusalem wegen einer juristischen Ausbildung nach Wetzlar gekommen. Die beiden kennen sich.
"Jerusalem fühlte sich in Wetzlar todunglücklich. Heute würde man auf Neu-Deutsch sagen, er war ein Mobbing-Opfer. Der Vorgesetzte behandelte ihn schlecht, er gab ihm Arbeiten, die unter seiner Würde waren. Und dann verliebte sich Jerusalem noch in eine sehr schöne Frau, in die schönste Frau am Reichskammergericht, in die schöne Frau Herd. in die Frau eines Kollegen."
Jerusalems Wohnung wird zum Schauplatz einer menschlichen Tragödie.
"In der Nacht vom 29. Zum 30. Oktober hat er sich erschossen."
Goethe ist zu diesem Zeitpunkt wieder in seiner Heimatstadt Frankfurt. Als er die Nachricht von Jerusalems Tod erhält, bittet er Johann Christian Kestner, den Verlobten von Charlotte Buff, um einen genauen Bericht der Geschehnisse in Wetzlar. Kestners Schilderungen bilden fast wortwörtlich das dramatische Ende von Goethes Werther.
Auszug aus "Die Leiden des jungen Werther":
"Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er herunter gesunken ... Er lag gegen das Fenster ( ... ) auf dem Rücken, war in völliger Kleidung ..."
Gisela von Schneidemesser: "Und die Tracht, die Jerusalem getragen hatte, da steht sie ja, blauer Frack, gelbe Weste, gelbe Beinkleider und braune Stulpenstiefel, wurde dann die Werther-Tracht. Und jeder, der sich das leisten konnte, ließ sich eine Werther-Tracht anfertigen."
Werther wird zur Kultfigur, Jerusalem zu seiner Inkarnation und Wetzlar zum Mekka einer enthusiastischen Werther-Bewegung.
Gisela von Schneidemesser: "Das hier war im 18. Jahrhundert der Friedhof der Stadt Wetzlar. Und hier wurde auch Karl Wilhelm Jerusalem beerdigt. Und der Pfarrer trug dann ins Kirchenbuch der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Wetzlar ein: 'Herrn Karl Wilhelm Jerusalem, einziger Sohn seiner Hochwürden Herrn Abt Jerusalems in Braunschweig, starb den 30. Oktober durch einen tödlichen Schuss. Begraben in aller Stille. Alt circa 24 Jahr'."