Der Barmann im John Barry in Wexford zapft ein neues Guinness, streicht den cremigen Schaum ab und stellt es dem durstigen Gast hin. Auf einem Emaille-Schild liest man das Motto, das in Irland die Arbeit vom wahren Leben trennt: Keine Arbeit, wenn getrunken wird. Und wenn dann noch ganz inbrünstig "Will Ye Go, Lassie, Go" gesungen wird, weiß man, dass "drinking hours" in Wexford auch Kultur bedeuten.
Rosetta Cucchi: "Wexford war berühmt für seine Gesangswettbewerbe in den Pubs. Die gibt es heute nicht mehr, aber als ich vor Kurzem mit meinen Opernsängern in eine Kneipe kam, spielten da ein paar Musiker, und dann fingen der Tenor, der Sopran und der Mezzo einfach an, bekannte Lieder zu singen. Zuletzt haben wir alle 'Nessun dorma' zur Gitarre gesungen. Und die Leute im Pub waren glücklich."
Die Italienerin Rosetta Cucchi ist Opernregisseurin, bekennende Wexforderin und wird im nächsten Jahr David Agler, den künstlerischen Leiter von "Wexford Festival Opera", beerben. Für ihre erste Spielzeit 2020 hat sich Cucchi viel vorgenommen, was neu ist: Spontanauftritte in Pubs und an anderen familiären Orten, eine Wexford Factory für junge Sänger, Late-Night-Cabarets mit den Sängern oder einen Artist in Residence. Erhalten will Rosetta Cucchi aber auf jeden Fall den außergewöhnlichen Spirit dieses Opernfestivals im Südosten von Irland. Und der heißt: Opernraritäten, junge Sänger, Verankerung in der Bevölkerung ‒ und ein Schuss Patriotismus.
Tradition im National Opera House von Wexford
"Zwischen Kanonendonner und Flintenschüssen werden wir ein Soldatenlied singen" ‒ in der Hymne der Republik Irland hallt noch der blutige Kampf um die Unabhängigkeit von Großbritannien nach. Vor jeder Aufführung im schönen neuen National Opera House von Wexford wird sie vom Publikum gesungen, dass die edle Holzvertäfelung wackelt. Man ist festlich gekleidet, aber, wie meist in Irland, höchst kommunikativ und offen für all die nie gehörten Bühnenstücke, die hier seit 68 Jahren präsentiert werden.
Das Gegenteil von Patriotismus zeigte der erste Opernabend mit der heroischen Komödie "Don Quichotte": einem Spätwerk von Jules Massenet, das vier Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstand. Massenet konzentriert seine Oper, frei nach Cervantes, auf die hoffnungslos idealisierte Liebe zum leichten Mädchen Dulcinée ‒ und auf den Künstler als Außenseiter. Die Griechin Rodula Gaitanou führte Regie.
Rodula Gaitanou: "Für mich ist Don Quichotte ganz extrem ein Mann der Poesie ‒ und er trägt diesen Geist in eine materialistische Gesellschaft hinein. Ich finde, dass wir gerade heute mehr Don Quichottes brauchen ‒ als geistige Leitfiguren, als Menschen, die uns die wahren Werte im Leben zeigen."
In Gaitanous gefühlvoller Inszenierung rauschen Don Quichotte und Sancho Pansa auf verrosteten Drahteseln in eine Gesellschaft herein, die nicht an Poesie, sondern an Geld und flüchtiger Liebe interessiert ist. Und es ist verblüffend, wie passioniert und präzise das ad hoc zusammengestellte Festivalensemble in Wexford spielt ‒ und vor allem singt.
Die junge russische Mezzosopranistin Aigul Achmetschina ist als Dulcinée einer der Stars in Wexford ‒ eine Stimme von dunkler Sinnlichkeit, mit einer grandiosen Technik und Ausstrahlung. Der amerikanische Dirigent Timothy Myers bettet sie zusammen mit dem exzellenten Festivalorchester auf tönenden Rosen ‒ auch er ein Beispiel für die Leidenschaft, mit der in Wexford musiziert wird.
Tim Myers: "Ich mag es, wie sich hier alles extrem konzentriert. Es gibt gleichzeitig verschiedene Produktionen mit vielen Mitwirkenden. Wir haben die drei Werke auf der Hauptbühne, dazu drei Kurzopern, es gibt eine konzertante Oper und Liederabende. Für mich sind Wexford und sein Opernhaus meine Lieblingsorte überhaupt auf der Welt."
Entstehungsgeschichte des Wexford Festival Opera
Der Beginn von Wexford Festival Opera ist Legende. Nach dem Zweiten Weltkrieg trafen sich einige lokale Opernfans zu Grammophonabenden, bis Compton Mackenzie, der Herausgeber der Musikzeitschrift "Grammophone", mit einem abenteuerlichen Vorschlag kam: Wie wäre es mit einem echten Opernfestival ‒ etwas kleiner als Salzburg oder Bayreuth, dafür aber mit Werken, die keiner kennt und sich trotzdem lohnen. Geldgeber und Hunderte von Freiwilligen wurden mobilisiert, und 1951 fanden die ersten Festspiele im alten kleinen Theater statt. Die designierte Intendantin Rosetta Cucchi hat es noch erlebt.
Rosetta Cucchi: "Als ich in Wexford ankam, habe ich nach dem Theater gesucht. Und als ich in der High Street war, dachte ich: Ich bin hier völlig falsch zwischen den kleinen grauen Häusern. Aber dann sah ich den blauen Bühneneingang von diesem kleinen viktorianischen Theater, das innen aussah wie in einem Tim-Burton-Film: mit wackeligen Treppen, engen Rängen und einer kleinen Galerie. Es war wunderbar."
Das alte Opernhaus ist vor elf Jahren abgerissen und durch ein modernes, hoch aufschießendes Theater ersetzt worden. Dennoch hat sich Wexford seine familiäre Atmosphäre und seinen Abenteurergeist bis heute erhalten. Was nicht bedeutet, dass jede Produktion ein Highlight war wie Massenets "Don Quichotte". In diesem Festivaljahr musste man auch eine langatmige, geschmäcklerisch inszenierte Oper von Antonio Vivaldi ‒ "Dorilla in Tempe" ‒ durchstehen; die Kurzopern von Georges Bizet oder Pauline Viardot fanden in der muffigen Atmosphäre eines Hotels zwischen Ausstellungen von Amateurkunst statt. Zu entdecken aber gibt es in Wexford immer etwas: großartige Stimmen, zu Unrecht vergessene Musik ‒ und ein Publikum, das nicht nur seine Garderobe ausführt, sondern auch seinen Spaß hat.