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Whistleblowing über sexualisierte Gewalt
Überleben und darüber sprechen

Whistleblowing im Sport: Dabei denken viele vor allem an aufgedeckte Dopingskandale. Aber das ist zu eng gedacht. Es gibt viele weitere Bereiche, in denen Menschen Missstände aufdecken, um den Sport fairer und sicherer zu machen. Zum Beispiel, wenn es um sexualisierte Gewalt geht.

Von Andrea Schültke |
Nicola Werdenigg, ehemalige Skirennläuferin aus Österreich
Nicola Werdenigg hat über sexuellen Missbrauch im österreichischen Ski-Nationalteam während ihrer Zeit als aktive Skirennläuferin berichtet. (Dlf/Schueltke)
November 2016: Der frühere englische Fußballprofi Andy Woodward bricht sein Schweigen. Dem Guardian vertraut er an, sein ehemaliger Jugendtrainer habe ihn über Jahre sexuell missbraucht.
Schon im September 2016 geht die US-Turnerin Rachael Denhollander an die Öffentlichkeit, wendet sich an die Zeitung Indianapolis Star: "Ich habe der ganzen Welt schreckliche Dinge offenbart, die eigentlich nie jemand erfahren sollte, nicht einmal mein eigener Mann."
Sie berichtet vom sexuellen Missbrauch durch Larry Nassar. Der Teamarzt des US-Turnverbandes und der Michigan State Universität (MSU) hatte Hunderten von Mädchen sexuelle Gewalt angetan. Die Jüngste war gerade mal sechs, berichtet Rachel Denhollander.
Verantwortliche machen sich lustig
Zuvor hatte die ausgebildete Juristin versucht, die Verantwortlichen der Universität zur Rechenschaft zu ziehen, die sie vor den Übergriffen nicht beschützt hatten. Vergeblich. Die machten sich laut der Ex-Turnerin sogar lustig über sie und unternahmen - nichts. Deshalb ging die junge Frau an die Öffentlichkeit.
Wie die ehemalige österreichische Skifahrerin Nicola Werdenigg im November 2017. Werdenigg berichtet in der Tageszeitung "Der Standard", sie sei in den 1960er Jahren als Mitglied des Ski-Nationalteams von einem Teamkollegen und einem anderen Mann sexuell missbraucht worden.
Nicola Werdenigg (AUT)
Nicola Werdenigg als aktive Skirennläuferin. (Imago)
"Ich verstehe mich schon als Whistleblowerin. Da es mir ja um die Strukturen gegangen ist, das System aufzuzeigen, in dem sexuelle Gewalt, Machtmissbrauch und Gewalt angewandt wird."
Über die Medien an die Öffentlichkeit
Genau wie die Amerikanerin Denhollander wählt Nicola Werdenigg bewusst diesen Weg: Sie packt in den Medien aus. Spricht über dieses sensible Thema, bei dem sie selbst körperlich und seelisch Betroffene ist.
"Es ging ausschließlich nur über Medien und ich habe Gott sei Dank sehr feine Medienpartner, Kontakte, freundschaftlich verbunden. Das Thema braucht viel Vertrauen, wenn man das das erste Mal erzählt. Das ist für niemand ganz ohne und ich habe voll auf mein Mediennetzwerk in dieser ganzen Sache gesetzt."
Vertrauen eher in die Medien als in die Verantwortlichen im Sport. Von diesem Vertrauen spricht auch Tim Evans. Er ist einer der Journalist*innen, die den immensen sexuellen Missbrauch durch den amerikanischen Arzt Larry Nassar aufgedeckt haben.
Vertrauen und Verantwortung
Im Deutschlandfunk-Sportgespräch berichtet Evans über die große Verantwortung, mit dem Vertrauen richtig umzugehen: "Wir wollten ja weder ihr Vertrauen missbrauchen noch ihre Hoffnungen nicht erfüllen. Und ihre Hoffnung in uns war sehr groß. Das war sehr hart und es hat uns sehr demütig gemacht."
In England machen nach Andy Woodward weitere Fußballer das Martyrium ihrer Kindheit öffentlich - ebenfalls in diversen Medien, wie diese Meldung in der Tagesschau zeigt: "Nach Polizeiangaben haben sich innerhalb weniger Tage mehr als 350 mutmaßliche Opfer gemeldet."
Eine Sonderkommission wird gegründet. Ihre letzte Statistik stammt aus dem März 2018. Bis dahin sind es mehr als 850 Betroffene Fußballer und 300 mutmaßliche Täter. "Es geht um Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe gegen minderjährige Jungen", berichtet die Tagesschau.
Untersuchungsergebnisse stehen noch aus
Einige der mutmaßlichen Täter sind längst gestorben. Andere werden verurteilt. Doch: Eine Untersuchung des englischen Verbandes ist auch drei Jahre danach nicht veröffentlicht. Die Betroffenen fühlen sich zum Schweigen gebracht.
In den USA laufen die Dinge anders. Auch dort folgen viele ehemalige Turnerinnen dem Beispiel von Rachael Denhollander. Darunter Olympiasiegerinnen und Weltmeisterinnen. Teilweise nutzen sie die sozialen Medien und den Hashtag #MeToo. Larry Nassar gesteht. Im Gerichtssaal gibt Richterin Rosemarie Aquilina allen Betroffenen die Gelegenheit, sich öffentlich zu äußern. Und hat für jede der Turnerinnen einfühlsame Worte:
"Deine Stimme und alle Überlebenden stärken sich gegenseitig. Die Angst, die Albträume - sie werden hier im Gerichtssaal bleiben. Lass es hinter dir und geh raus und verbreite die Botschaft so wie heute. Du hilfst damit so vielen. Du bist eine Heldin, ihr seid alle Superstars, ihr seid die neue Generation von Superhelden."
Rachael Denhollander ist eine von 150 Betroffenen, die im Prozess gegen den früheren Teamarzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, ausgesagt hat.
Rachael Denhollander ist eine von 150 Betroffenen, die im Prozess gegen den früheren Teamarzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, ausgesagt haben. (AFP/ Jeff Kowalsky)
Mehr als 150 Betroffene erzählen in Aquilinas Gerichtssaal ihre Geschichte. Sie bringen Larry Nassar lebenslänglich hinter Gitter. Die öffentlichen Statements der Überlebenden machen die Strukturen deutlich, die den Missbrauch ermöglicht haben. Eine Untersuchung wird veröffentlicht, deckt unter anderem massive Versäumnisse der Verantwortlichen auf.
Die meisten Überlebenden schweigen
Auch in Deutschland gibt es sexuellen Missbrauch im Sport. Betroffene sprechen, Täter werden verurteilt. Die allermeisten Überlebenden aber schweigen. Der Sport mit seinem Umfeld mache das Sprechen noch zu schwer, sagen Expertinnen. Das soll sich nun ändern.
Seit Mai ruft die Aufarbeitungskommission der Bundesregierung Betroffene aus dem Sport auf, sich zu melden und anonym ihre Geschichte zu erzählen. Auch um zu erfahren: "Was und wie thematisieren Betroffene aus dem Sportbereich ihre Erlebnisse, ihre Erfahrungen, die Gewalt, die sie erfahren haben und dann auch den Umgang damit", erläutert Sabine Andresen, die Vorsitzende der Aufarbeitungskommission.
Schon jetzt haben sich dort Betroffene gemeldet und intern von dem Leid berichtet, das ihnen im Sport zugefügt wurde und sie ein Leben lang nicht mehr loslässt.
Whistleblowing gegen Machtmissbrauch
Whistleblowing zum Thema sexualisierte Gewalt - für die ehemalige Olympiateilnehmerin Nicola Werdenigg auf einer Ebene mit Hinweisen auf Doping, Korruption oder Manipulation:
"All das ist im Sport auf dieselbe Wurzel zurückzuführen. Es geht um Machtmissbrauch in groß angelegten Strukturen."
Diese Strukturen erkennen und weiteren Machtmissbrauch verhindern - die Stimmen von Whistleblowern können dazu den Anstoß geben. Vorausgesetzt sie treffen auf Menschen, die ihnen zuhören und glauben.
Autorin Andrea Schültke befasst sich seit neun Jahren intensiv mit dem Thema "sexualisierte Gewalt im Sport". Sie ist unter folgender Email-Adresse zu erreichen: andrea.schueltke.fm[at]deutschlandradio.de