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Wider die Unvernunft
Mit Genügsamkeit beginnt das neue Denken

Die Moderne verspreche Fortschritt und Entwicklung, tatsächlich aber fördere sie Armut und Mangel, schreibt der algerisch-französische Autor und Öko-Bauer Pierre Rabhi. In seiner Streitschrift "Glückliche Genügsamkeit" ruft er auf zu einer grundlegenden Umkehr im Denken - und die beginne mit Genügsamkeit.

Von Cornelia Jentzsch |
    Der französisch-algerische Autor, Bauer und Umweltschützer Pierre Rabhi bei einer Feier in der Universität Lüttich aus Anlass der Ehrendoktorwürde.
    Der französisch-algerische Autor, Bauer und Umweltschützer Pierre Rabhi. (Imago / Belga)
    "Die Frage ist nicht nur: Welchen Planeten hinterlassen wir unseren Kindern? Sondern vor allem: Welche Kinder hinterlassen wir unserem Planeten?"
    Pierre Rabhi fordert einen gründlichen Paradigmenwechsel, der weit über derzeitige Lösungsvorschläge zur Rettung der modernen Zivilisation hinausgeht. Die Erde, so der 77-Jährige, muss respektiert werden, bestenfalls bewirtschaftet. Unendliches Wachstum ist ein Mythos, denn die Erde ist begrenzt.
    Pierre Rabhi, der eigentlich Rabah Rabhi heißt, kennt beides: die archaische Lebensweise in einem südalgerischen kleinen Dorf , aus dem er stammt, wie auch die Moderne in der Industrienation Frankreich, in der er als Romancier, Dichter, Landwirt und Umweltschützer lebt. Warum, fragt Rabhi, nehmen Armut und Mangel stetig zu, obwohl die Moderne doch Fortschritt und Entwicklung propagiert? Die Antwort gibt er nachvollziehbar in seinem Buch "Glückliche Genügsamkeit": Weil die Moderne ein Mythos ist. Ihre technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen sind verbunden mit der Entwertung Jahrtausende langer erprobter Formen des Zusammenlebens. Was heute als rückständig gilt, hat ausreichend den Menschen getragen.
    Der Mensch hat seine Begleiter entwertet
    "Muss man wiederholen, dass wir unseren Begleitern, den Tieren gegenüber, eine uralte Überlebensschuld zu erbringen haben? Was wäre der Eskimo ohne seine Hunde und die arktische Tierwelt, die ihn ernährt? Der Beduine ohne das Dromedar? Der Lappe ohne sein Rentier? Und in anderen Breitengraden der Mensch ohne Yak, Kamel, Zugpferd, Büffel, Ochse usw.? Was für eine Undankbarkeit..."
    Doch der Fortschritt hat diese Begleiter entwertet, indem er sie in Mastanlagen zusammentrieb, um so zeitökonomisch und ertragreich wie möglich Fleisch, Eier und anderes Verwertbare abzuschöpfen. Das Desaster einer hoch industrialisierten Landwirtschaft, die nur noch produzieren kann, wenn sie gleichzeitig selektiert und zerstört, wird als Ertragsoptimierung schmackhaft gemacht. Doch nicht nur den Tieren wird die ursprüngliche Komplexität ihrer Existenz abgesprochen.
    "Als alleiniger Maßstab für den Wohlstand der Nationen hat das Geld die volle Macht über das kollektive Schicksal übernommen. Deshalb hat alles, was sich nicht geldwert ausdrücken lässt, keinen Wert, und das einzelne Individuum ist gesellschaftlich entwertet, wenn es kein Einkommen hat."
    Die Entfremdung mündet in einem doppelten Exil
    Die Moderne installierte ihre einseitige Wertehierarchie, indem sie im Laufe der Zeit existenzielle Zusammenhänge verschwinden ließ. Rabhi berichtet von seinem algerischen Dorf, dessen Struktur zerbrach, als die Bauern, Schmiede und Händler zu Bergarbeitern wurden. Die französischen Besatzer hatten in der Nähe Kohle entdeckt und gut bezahlte Jobs angeboten.
    "Wie in einer letzten Aufwallung von Freiheit kehrten einige Minenarbeiter, nachdem sie ihr erstes Gehalt bekommen hatten, nicht mehr zur Arbeit zurück. Als sie ein, zwei Monate später wieder erscheinen, wurden sie von ihren Arbeitgebern gefragt, warum sie nicht früher wieder zur Arbeit gekommen seien. Arglos antworteten sie, sie hätten ihr Geld noch nicht ausgegeben gehabt; warum also hätten sie arbeiten sollen?"
    Noch drastischer zeigt sich für Rabhi der Widersinn in den Kriegen. Französische wie deutsche Bauern, die bis 1914 ihre Felder nach gleichen Prinzipien bewirtschafteten, gruben in ihre Felder Gräben, aus denen sie sich gegenseitig umbrachten. Im Namen einer imaginären Nation, die sie in diesem Fall nicht wie ihr kleines Stück Land nährte, sondern in den Tod schickte.
    Der lang anhaltende Prozess einer Entfremdung, der bereits weit vor der Moderne begann, nur inzwischen nicht mehr zu übersehen ist, dieser Prozess mündet heute in einem doppelten Exil. Nicht nur, dass Flüchtlingsströme die Kontinente überziehen und sich nicht mehr in ihrem Land verwurzelt fühlen. Der Mensch hat nahezu überall aufgehört, mit einem überaus komplexen Ganzen auch in gesellschaftlicher Hinsicht verbunden zu sein.
    "Anstatt die Welt auf den Prinzipien des Humanismus, der Gerechtigkeit, des Ausgleichs und der Solidarität aufzubauen, greifen wir auf das Sedativum der humanitären Hilfe zurück. Erst einen Brand zu legen und dann zu löschen, ist ... zur Norm geworden."
    Eine verschwenderische und zugleich zerstörerische Ökonomie
    Rabhi fordert in seiner 155-seitigen Streitschrift wider die menschliche Unvernunft das einzige, was diesen Wahnsinn stoppen könnte: Genügsamkeit. Das Bedienen an den Rohstoffvorkommen der Erde muss gestoppt, die einseitig materielle Orientierung verworfen werden. Die entwürdigende Vulgarität der Finanzökonomie darf den Menschen nicht bestimmen. Allein die Kaufanreize und unterschwelligen Manipulationen für einen Konsum ohne Mäßigung reichen, so Rabhi, den Verführungstechniken von Sekten das Wasser. Was gemeinhin Ökonomie genannt wird, ist stattdessen – wie er schreibt - ein System von verschwenderischer und zugleich zerstörerischer Natur, das zum Gegenteil seiner selbst und damit zur Beleidigung von Ökonomie und Haushaltung geworden ist.
    "Für einen einfachen Verstand stellt die Ökonomie eine großartige Kunst dar, deren Daseinszeck es ist, die Aufteilung und den Austausch von Gütern unter einem Minimum an Verlusten und zum Wohle aller unter Vermeidung unnötiger oder übermäßiger, das Vermögen aufzehrender Ausgaben zu verwalten und zu regulieren."
    Die Befreiung der Erde aus dem billigen Dienstleistungssektor wäre ein durchaus revolutionärer Akt, meint Rabhi. Ein fundamentaler Akt, der nicht nur einzelne Aktionen, sondern einen grundlegenden Paradigmenwechsel in allen Bereichen nötig macht. Vor allem aber erfordert er ein neues Denken, weltweit und in allen Bereichen. Die Genügsamkeit ist die Option dieses neuen Denkens. Und die schlechteste nicht, denn richtig angewandt garantiert sie glücklichen Zugewinn.
    Die Natur, so schreibt Rabhi, hat den Menschen mit Sicherheit nicht zum Zweck ihrer eigenen Ermordung entstehen lassen.
    Pierre Rabhi: "Glückliche Genügsamkeit", aus dem Französischen von Dirk Höfer, Matthes & Seitz Berlin, 155 Seiten, 18,00 Euro (eBook 14.99 Euro)