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Widerspruchslösung bei der Organspende
Schweigen als Zustimmung

Nur 36 Prozent der Deutschen besitzen einen Organspendeausweis. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will deshalb die Widerspruchslösung einführen: Wer zu Lebzeiten nicht widerspricht, soll automatisch als Organspender gelten. Doch der Entwurf ist umstritten - unter Ethikern, Wissenschaftlern und Angehörigen-Vertretern.

Von Martina Keller |
Pfleger trägt eine Box mit der Aufschrift "Human Organ" durch einen Krankenhausflur
Von der Widerspruchslösung erhoffen sich ihre Befürworter steigende Spenderzahlen (imago / localpic)
Ein junger Mann auf der Intensivstation einer deutschen Universitätsklinik. Seine Stirn glänzt, als würde er leicht schwitzen – er scheint zu schlafen. Auf seinem Scheitel kreuzen sich zwei lange Pflasterbänder. Ein Verkehrsunfall, sein Schädel wurde über dem rechten Ohr eingedrückt, das Gehirn dabei vermutlich unwiderruflich zerstört. Bestätigt sich der Verdacht, ist er tot, genauer gesagt: hirntot. Und damit künftig vielleicht automatisch Organspender. Falls er dem zu besseren Zeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat, sagt Gerold Söffker, Transplantationsbeauftragter am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf:
"Die Idee dahinter ist, dass man sich einmal fragen muss, als gesellschaftlichen Konsens: Wie will man mit den kranken Patienten, die auf eine Organspende warten, wie will man mit denen umgehen? Was will man für eine Kultur der Organspende in der Gesellschaft haben?"
Zu Söffkers Aufgaben zählt es, nach einer Hirntoddiagnose mit den Angehörigen über eine mögliche Organspende zu sprechen. Der Gesetzentwurf zur Widerspruchslösung, den Gesundheitsminister Jens Spahn gemeinsam mit SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach und acht weiteren Abgeordneten vorgelegt hat, würde an dieser Praxis im Prinzip nichts ändern, sagt er, "außer dass das Gespräch eine andere Frage beinhaltet. Jetzt beinhaltet es die Frage: Wissen Sie, dass er Organspende gewollt hat? Die zukünftige Frage könnte dann lauten: Wissen Sie sicher, dass er das nicht gewollt hat? Das ist der einzige Unterschied im praktischen Umgang, der sich ändern würde, wenn eine Widerspruchslösung käme."
Gesundheitsminister Spahn, SPD-Fraktionsvize Lauterbach, Unionsfraktionsvize Nüßlein und Linkenfraktionsvize Sitte.
Gesundheitsminister Spahn stellt den Gesetzesentwurf zur Organspende vor. (dpa/Kay Nietfeld)
"Kein Anspruch auf körperliche Ressourcen anderer"
Schweigen als Zustimmung. Eine solche Konstruktion gibt es – von wenigen Ausnahmen abgesehen - im deutschen Rechtssystem nicht. Aber nicht nur deshalb ist der Vorschlag umstritten.
"Aus ethischer Sicht ist die Widerspruchslösung nicht tragbar", meint die Biologin und Philosophin Sigrid Graumann. Sie ist Mitglied im Deutschen Ethikrat. "Es gibt keinen Anspruch auf die körperlichen Ressourcen anderer, den Patientinnen und Patienten geltend machen können, und daher gibt es auch keine Verpflichtung von potentiellen Organspenderinnen und Organspendern, ihre Organe zur Verfügung zu stellen. Es ist ein freiwilliger Akt und ist auch nur als ein freiwilliger Akt begründbar. Und die Widerspruchslösung wird dem praktisch nicht gerecht, dass die Organspende ein freiwilliger Akt sein muss."
Noch gilt in Deutschland die sogenannte Entscheidungslösung, und ein Vorschlag von Grünen-Politikerin Annalena Baerbock und anderen will es im Prinzip dabei belassen, nur mit mehr Ansprache und Beratung der Bürger, durch Ausweisstellen und Hausärzte: Organe dürfen nach Feststellung des Hirntods nur dann entnommen werden, wenn eine Person dem zu Lebzeiten zugestimmt hat. Liegt keine Erklärung vor, werden die Angehörigen befragt. Um den Bürgern die Entscheidung zu erleichtern, müssen die Krankenkassen sie regelmäßig informieren. Als der Gesetzgeber dies 2012 vorschrieb, hoffte er auf steigende Spenderzahlen.
"Da ist eine Unmenge an Geld auch dafür ausgegeben worden, diese Broschüren zu verschicken, und es hat nicht den gewünschten Effekt gehabt", sagt Torsten Verrel, Strafrechtler an der Universität Bonn und Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer. "Insofern, glaube ich, darf man jetzt den nächsten Schritt machen, den ja auch viele andere Länder tun, und zur Widerspruchslösung übergehen."
Portrait von Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen.
Annalena Baerbock, die Bundesvorsitzende der Grünen, will es im Prinzip bei der Entscheidungslösung belassen, nur mit mehr Ansprache und Beratung der Bürger, durch Ausweisstellen und Hausärzte. (Deutschlandradio)
Die Göttinger Medizinethikerin Solveig Lena Hansen kennt die Organspendekampagnen der vergangenen 20 Jahre gut. Die der Stiftung fürs Leben von 2014 hatte den Slogan: "Michael wartet seit acht Jahren auf eine neue Niere. Lasst uns helfen."
Hansen: "Man sieht Michael, der an einer Berliner U-Bahn Haltestelle Gesundbrunnen mit einem mobilen Dialysegerät in einer Liege liegt und nach Betriebsschluss, sagt uns ein Schild, dort also wartet, und es ist niemand zu sehen. Er ist also einsam auf dieser Bahnstation."
Beklemmende Bilder und ein dringender Appell, an das Mitgefühl, die Hilfsbereitschaft, das schlechte Gewissen.
"Es gab auch Aktionen, die gefilmt wurden, auch online gestellt wurden, dass er sich an Bahnhöfen auch zum Beispiel mit dem mobilen Gerät bewegt hat und dort versucht, dann die Aufmerksamkeit zu erregen."
Doch wenn das alles nicht geholfen hat – warum sollte dann die Widerspruchslösung helfen?
21 Länder haben Widerspruchslösung
Kurz vor 22 Uhr hat auf der Intensivstation der Universitätsklinik ein Neurologe mit der Hirntodfeststellung begonnen. Er prüft den Pupillenreflex des jungen Mannes, leuchtet mit einer Taschenlampe in beide Augen. Die Pupillen bleiben unverändert, die Linsen wirken getrübt. Wie vorgeschrieben kommt ein zweiter Arzt hinzu. Der Neurologe reibt mit der Kante eines Taschentuchs direkt über die Hornhaut: ein starker Reiz, bei dem sich die Augenlider unwillkürlich schließen müssten, doch sie bleiben geöffnet. Dann prüft er den Husten- und Würgereflex, indem er den Patienten bis tief in die Bronchien hinein absaugt. Auch hier: keine Reaktion, ein Zeichen, dass der Hirnstamm wohl zerstört ist.
Torsten Verrel: "Ich habe mir heute extra noch mal die Top Ten sozusagen der Länder angeschaut, die deutlich höhere Spenderraten als Deutschland haben. Die haben ausnahmslos alle die Widerspruchslösung. Das ist nicht das einzige Element, aber ein wichtiges Element, um zu mehr Spenden zu kommen."
21 europäische Länder haben bereits eine Widerspruchslösung. Unter ihnen ist Spanien seit langem Spitzenreiter bei der Organentnahme: Dort kommen fast 47 Organspender auf eine Million Einwohner. In Deutschland sind es nur 11,5. Dabei sehen 84 Prozent der Deutschen die Organ- und Gewebespende positiv, so eine repräsentative Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter mehr als 4000 Bundesbürgern. Warum haben dann nur 36 Prozent einen Organspendeausweis?
Im Zentralklinikum Augsburg wird 2011 eine Spenderorganentnahme an einem hirntoten Menschen durchgeführt. 
In Deutschland kommen nur 11,5 Organspender auf eine Million Einwohner. (imago stock&people / Annette Zoepf)
Sigrid Graumann: "Die Bereitschaft zur Organspende, da stellen sich die Menschen ja vor: Es gibt hier schwerkranke Menschen, die sind auf ein Spenderorgan angewiesen. Und ist doch toll, wenn sie dieses Spenderorgan bekommen können."
"Es ist eine ganz andere Situation, sich mit dem eigenen Sterben zu beschäftigen. Was einem am eigenen Sterben wichtig ist, ist eben normalerweise nicht, Organe für andere bereitzustellen, sondern da denken die Bürgerinnen und Bürger doch eher an Abschiednehmen, an ihre Familie verlassen zu müssen, wie dieses Sterbenkönnen gestaltet werden kann."
Der Neurologe hat die Nasenscheidewand mit einer Injektionskanüle durchstochen, ein extremer Schmerzreiz. Doch der junge Mann in den weißen Laken zeigt keine Reaktion. Jetzt steht die letzte klinische Untersuchung an, sie soll den Ausfall der Spontanatmung nachweisen. Der Neurologe bittet einen Pfleger, den Kopf des Patienten hochzuheben, damit er etwas umgelagert werden kann. Dabei spricht er mit dem jungen Mann, als könnte der ihn hören: Mal nicht erschrecken, Kopf ein bisschen hoch. Erst wird das Blut zu 100 Prozent mit Sauerstoff angereichert. Dann steht die Beatmungsmaschine fast still, zehn Minuten lang. Ab einer bestimmten Konzentration von Kohlendioxid sollte der Atemantrieb unweigerlich einsetzen. Doch bei dem jungen Mann keine Reaktion: Die Spontanatmung bleibt aus.
Vera Kalitzkus: "Es ist sozusagen eine Zäsur, die zum Großteil nur über medizinisches Fachwissen vermittelt wird. Die aber für die Angehörigen nicht direkt nachvollziehbar ist und auch gerade nicht auf leiblicher Ebene nachempfunden werden kann."
Vera Kalitzkus ist Medizin-Anthropologin und hat zur Situation Angehöriger bei der Organspende geforscht.
"Sie sind konfrontiert mit einem Körper des Patienten, der sich von anderen intensivmedizinischen Patienten nicht unterscheidet. Er ist warm, durch die künstliche Beatmung bewegt sich der Brustraum. Sie haben Hautreaktionen. Sie können schwitzen. Es gibt also eine Vielzahl an Lebensäußerungen von diesen Körpern der irreversibel im Hirnversagen liegenden Patienten, die nur als Lebenszeichen auch wahrnehmbar sind und mit unseren kulturell tradierten Bildern dessen, was Tod eigentlich ist, nicht übereinstimmen."
Herausforderung für die Anghörigen
Was bedeutet der Hirntod? Diese Frage begleitet die Transplantationsmedizin seit ihren Anfängen. Sie braucht Organe, die durchblutet und mit Sauerstoff versorgt werden. Nur so können sie im Körper des Empfängers funktionieren - eine Leiche ist für die Transplantation verloren. Lange suchten Mediziner, Philosophen und Juristen nach einem Kriterium, ab wann die Organentnahme aus einem warmen Körper zulässig sein könnte. 1968 fanden sie es im Hirntod. Er gilt in den meisten Ländern heute als Voraussetzung der Organentnahme. Und so steht es auch im deutschen Transplantationsgesetz.
Doch die Diskussion ist bis heute nicht verstummt. Der Deutsche Ethikrat beschäftigte sich 2015 ausführlich mit dem Hirntod und der Entscheidung zur Organspende. Eine Mehrheit seiner Mitglieder vertritt die Position, der Hirntod sei ein sicheres Zeichen für den Tod des Menschen. Eine starke Minderheit sieht in ihm keine hinreichende Bedingung dafür.
Vera Kalitzkus: "Was Angehörigen vorher oftmals nicht klar ist, dass die Organentnahme, auch wenn das immer gesagt wird, ja bei, medizinisch ausgedrückt, vitalem Körper, Körperfunktionen funktioniert. Das heißt, dieser Mensch bringt uns Qualitäten des Lebens entgegen und nicht die des Todes. Und mir gegenüber wurde geäußert von einer Mutter Das letzte Bild, das ich von meinem Kind habe, ist ein atmende Kind. Das ist ganz schwer, damit zu leben."
Eine Ärztin betreut eine Patientin auf der Intensivstation.
Die Angehörigen eines Patienten mit irreversiblen Hirnschäden sind konfrontiert mit einem Körper, der sich von intensivmedizinischen Patienten nicht unterscheidet. (imago/photothek)
Der Hirntod ist für die Angehörigen noch in anderer Hinsicht eine Herausforderung. Sie müssen sich gewissermaßen von einem lebenden Leichnam verabschieden. Anschließend wird der Organspender in den Operationssaal gerollt und mehrere Stunden lang operiert. Erst dann können sie sich endgültig verabschieden.
Vera Kalitzkus: "Weiter wird dann auch von Angehörigen als belastend erlebt, wenn sie dann mit dem, ich nenn es jetzt mal, dem tatsächlichen Tod konfrontiert sind, nämlich wenn Ihnen der Leichnam nach der Organentnahme übergeben wird. Also wenn sie ihn noch mal ansehen können, weil sie dann sozusagen merken: Und jetzt ist er wirklich tot. Der atmet nicht mehr, da ist Ruhe, da ist keine Bewegung mehr drin. Da ist klar, das ist jetzt der Tod, den wir kennen. Und was war aber vorher?"
Nicht nur Angehörige stellen sich diese Frage. Selbst erfahrene Klinikmitarbeiter, das zeigen Studien, tun sich schwer damit, einen Hirntoten als tot zu begreifen. Mediziner geraten mitunter in sprachliche Verwirrung, wenn sie von der "Reanimation" des Verstorbenen sprechen – die kann zur Rettung der Organe nötig werden, wenn ein Hirntoter plötzlich einen Herzstillstand erleidet.
Die vielen intensivmedizinischen Handlungen an einem Hirntoten zu erleben, ist für Angehörige eine weitere Zumutung, sie nicht als Therapie zu begreifen, sondern als Pflege eines Verstorbenen eine Überforderung. Mit der Widerspruchslösung würde sich daran nichts ändern. Dennoch ist Bundesgesundheitsminister Jens Spahn überzeugt, sie werde die Angehörigen entlasten. Weil ihnen - anders als zuvor - nicht mehr zugemutet werde, in einer schwierigen Situation zu entscheiden. Ethikprofessorin Sigrid Graumann sieht das anders.
"Ich glaube, dass die Widerspruchslösung die Situation für die Angehörigen massiv verschärfen wird und nicht erleichtern wird, weil sie sich damit überfahren fühlen, weil sie das Gefühl haben werden, oder viele das Gefühl haben werden, ihren Sohn, ihre Tochter nicht schützen zu können. Das sind einfach die Aussagen, die wir von den Angehörigen auch kennen. Und das würde die Widerspruchslösung, glaube ich, massiv verschärfen."
Bedeutung des Hirntods bleibt strittig
Der Kopf des jungen Mannes ist mit Elektroden verkabelt. Die Hirntoddiagnostik geht in die entscheidende Phase. Es gilt sicherzustellen, dass der Ausfall seines Gehirns unumkehrbar ist. Dazu werden jetzt die Hirnströme gemessen, mithilfe einer Enzephalografie, kurz EEG. Das Gerät ist so empfindlich, dass es kleinste Störbewegungen registriert, solche Artefakte müssen ausgeschlossen werden. Erst dann startet der Neurologe die Aufzeichnung. Wie erwartet, leitet das Gerät eine Nulllinie ab. Das Gehirn zeigt keinerlei elektrische Aktivität. Nach einer halben Stunde brechen die Ärzte die Aufzeichnung ab. Der Hirntod ist sicher festgestellt.
Was der Hirntod bedeutet, bleibt strittig. Die Diagnose dieses Zustands jedoch gilt, korrekt ausgeführt, als eine der sichersten in der Medizin. Nur an der Praxis gab es in den vergangenen Jahren Zweifel. Zum Beispiel fehlten präzise Vorgaben, wie die mit der Aufgabe betrauten Ärzte qualifiziert sein müssen. Auch das kann Menschen Angst machen und sie von einer Organspende abhalten. Haben die Ärzte etwas übersehen, weil sie vielleicht zu unerfahren sind? Geben sie einen Patienten zu früh auf?
Die Widerspruchslösung könnte solche Ängste noch verstärken, weil sie die Organspende zum gesellschaftlichen Normalfall und Auftrag erklärt. Immerhin: Die Bundesärztekammer hat reagiert und die Anforderungen an die Qualifikation genauer gefasst. Seit 2015 müssen zwei besonders erfahrene Fachärzte den Hirntod unabhängig voneinander feststellen. Dass sie die nötigen Kenntnisse besitzen, dürfen sie sich allerdings selbst bescheinigen.
"Ich halte es für nötig, dass dieses geregelt wird", findet Hans-Christian Hansen. Er ist neurologischer Chefarzt in Neumünster und Mitglied der Ständigen Kommission Organtransplantation. "Ich habe eine eigene Klinik mitten in Schleswig-Holstein, wo viele meiner Kollegen sich einarbeiten in Hirntoddiagnostik. Und wir handhaben das so, dass der zuständige Chefarzt darüber dann mit dem Mitarbeiter spricht und den Zustand gemeinsam beschreibt und niederlegt. Und damit ist dann auch jeder Mitarbeiter in so einem Team abgesichert, weil er vom Vorgesetzten und Ausbilder eine entsprechende Notiz hat, auf die man sich später immer berufen kann."
Mehr Effizienz durch mobile Hirntodteams
Auch Gesundheitsminister Spahn hat seinen Teil beigetragen, die Hirntoddiagnostik zu verbessern. In wenigen Jahren soll es einen bundesweiten Bereitschaftsdienst mit mobilen Hirntod-Teams geben. Die Maßnahme verfolgt einen doppelten Zweck: Auch kleinen Kliniken auf dem Land sichere Diagnosen zu ermöglichen und ein Grundproblem der Organspende anzugehen. Kliniken erkennen und melden mögliche Organspender viel zu selten, wie Kieler Forscher 2018 belegten. Sie hatten Krankenhausdaten aus den Jahren 2010 bis 2015 auswertet. In dem Zeitraum war zwar die Zahl möglicher Organspender deutlich gestiegen. Doch während in einem Modellprojekt unter optimalen Bedingungen fast ein Drittel davon an die Deutsche Stiftung Organtransplantation gemeldet wurden, waren es in der Fläche 2015 nur noch 8,2 Prozent. Der Bereitschaftsdienst soll vor allem kleinere Kliniken mit Expertise unterstützen. Im Prinzip eine gute Idee, sagt Hansen. Nur:
"Ich sehe finanzielle Probleme, das ist eine hochaufwändige Arbeit. Gutachter arbeiten in der Regel nicht nachts. Dieses wird aber auch nachts und am Wochenende abgefordert. Und ich denke, man wird sich einfallen lassen müssen, in diesem Bereich auch Geld hinein zu stecken, um einen Rund-um-die-Uhr-Konsiliardienst zur Verfügung zu stellen. Denn die Zahl der Leute, die das jetzt können, die ist relativ begrenzt."
Transplantationsmediziner entnehmen einem Verstorbenen das Herz. 
Entnahmekrankenhäuser bekommen mehr Geld, damit die aufwändige Organspende nicht zum Verlustgeschäft wird. (dpa / Bernd Wüstneck)
Die mobilen Hirntodteams sind nur eine der Maßnahmen, mit denen Gesundheitsminister Spahn mögliche Organspender effizienter identifizieren will. Entnahmekrankenhäuser zum Beispiel bekommen mehr Geld, damit die aufwändige Organspende für sie nicht zum Verlustgeschäft wird. Zudem erhalten Transplantationsbeauftragte neue Befugnisse. Wenn ein Patient als Organspender in Frage kommt, sollen die Transplantationsbeauftragten schon vor der Hirntodfeststellung hinzugezogen werden, sagt Gerold Söffker:
"In dem besonderen Fall, dass eben auch Organspende in Betracht kommt, gibt es eben jetzt die wichtige Frage: wäre Organspende ein Ziel? Dann würde man nämlich intensivmedizinische Maßnahmen eben nicht abstellen. Denn sonst hätte man eventuell eine Situation, dass man Organspender, die dieses werden wollen, nicht rechtzeitig erkennt und damit auch verliert."
Diese Maßnahme weicht ein Prinzip auf, das für das Vertrauen in die Transplantationsmedizin bislang wesentlich war: Die Trennung der Interessen von hirngeschädigten Patienten auf Intensivstationen und von Schwerstkranken auf der Warteliste. Nun dürfen Transplantationsbeauftragte bereits vor Feststellung des Hirntods unter Patienten auf einer Intensivstation nach möglichen Organspendern fahnden. Dazu bekommen sie auch Zugriff auf die Patientenakten, erklärt der Kölner Verfassungsrechtler Wolfram Höfling.
"Worüber wir jetzt reden müssen, ist, dass sich mit der neuen Stärkung der Stellung der Translationsbeauftragten - Zugriff zu allen Daten, Zugang zu allen Intensivstationen, Einbeziehung in alle Entscheidungsprozesse, mit dem klaren Auftrag, die vermeintlichen Defizite der Identifikation von potentiellen Organspender zu beheben - dass sich die Kultur des Sterbens auf Intensivstation jetzt erheblich verändern wird."
Wolfram Höfling ist Mitglied des Deutschen Ethikrats.
"Um das an einem Beispiel zu illustrieren: Es kommt ein 50-Jähriger nach einem Hirnschlag ins Krankenhaus und wird jetzt intensivmedizinisch behandelt. Nach drei Tagen stellt man fest: Da können wir jetzt nichts mehr machen. Das würde medizinethisch und medizinrechtlich bedeuten, nach einer solchen infausten Prognose, wir lassen diese Person palliativ begleitet sterben."
Was Höfling schildert, ist ein Erfolg der medizinethischen Diskussion der letzten Jahrzehnte. Ärzte müssen einen sterbenskranken Patienten nicht bis zum letzten Atemzug mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln behandeln. Wenn Therapien medizinisch keinen Sinn mehr machen oder dem Patientenwillen widersprechen, dürfen und müssen sie ihn unter Abschirmung seines Leidens sterben lassen, so Höfling:
"Ist das aber jemand, von dem man glaubt, wenn man ihn jetzt noch drei, vier Tage weiterbehandelt, vor allen Dingen beatmet, der dann möglicherweise in ein Stadium gerät, wo wir eine Hirntoddiagnose machen können, dann gilt der als ein potentieller Organspender. Eine solche Person dann ohne Einverständnis weiter zu behandeln, zu einem Zeitpunkt, wo er zweifellos noch lebendig ist, Hirntod hin oder her, ist etwas, was absolut unvereinbar ist mit dem geltenden Medizinrecht."
Patientenverfügung bindender als Organspendeausweis
Jeder Eingriff in den menschlichen Körper setzt die aufgeklärte Einwilligung des Patienten voraus. Doch die liegt in der Regel nicht vor, wenn ein potentieller Organspender mit den sogenannten organprotektiven Maßnahmen behandelt wird, die nicht mehr ihm selbst nützen, sondern seine Organe schützen sollen - im Interesse des späteren Empfängers. Solche Maßnahmen sind zum Beispiel medikamentöse Behandlungen, Hormongaben oder auch die Herzdruckmassage. Selbst wenn ein Patient einen Organspendeausweis hat, muss das nicht heißen, dass er von der Möglichkeit dieser Therapien weiß und damit einverstanden wäre. Noch heikler ist die Situation mitunter, wenn ein potentieller Organspender eine Patientenverfügung besitzt.
Sigrid Graumann: "Es gibt immer wieder Patienten, die haben auf der einen Seite eine Patientenverfügung, in der steht: keine lebensverlängernden Maßnahmen, nicht an Schläuchen, nicht an eine Beatmungsmaschine und so weiter, und auf der anderen Seite einen Organspendeausweis."
"Das ist ein Konflikt, der schwierig zu lösen ist, denke ich. Die Patientenverfügungen sind rechtlich verbindend. Und von daher müssen sich die Ärztinnen und Ärzte und auch die Angehörigen an diese Patientenverfügung halten."
Organspendeausweis in einem Portemonnaie mit Bundesadler.
Für Ärzte ist es ein schwieriger Konflikt, wenn ein Patient sowohl eine Patientenverfügung als auch einen Organspendeausweis besitzt. (dpa/picture alliance/Bildagentur-online)
Der Deutsche Ethikrat hatte den Gesetzgeber bereits 2015 aufgefordert zu regeln, welche organschützenden Maßnahmen vor der Hirntoddiagnose unter welchen Bedingungen und wie lange durchgeführt werden dürfen. Geschehen ist nichts. Die neuen Pläne von Gesundheitsminister Spahn würden das Problem sogar noch verschärfen.
Wolfram Höfling: "Dieses Problem der organprotektiven Maßnahmen jetzt zu koppeln mit einem Widerspruchsmodell, das würde dann in der Tat bedeuten, dass keiner mehr darauf vertrauen kann, dass die Integrität seines Körpers gewahrt bleibt, auch wenn er schweigt. Sondern schon der Übergriff auf seinen lebendigen, unzweifelhaft lebendigen Status - den muss er schon im Vorfeld abwehren. Und das halte ich für einen elementaren Verstoß gegen geltendes Verfassungsrecht."
Der Transplantationsbeauftragte ist zu den beiden Fachärzten gestoßen. Er wird in Kürze mit den Angehörigen sprechen. Seine Aufgabe umfasst aber weit mehr. Er berät seine Kollegen, wie der hirntote Patient nun intensivmedizinisch weiter behandelt werden soll. Schwillt ein Gehirn massiv an und wird es im Schädel eingeklemmt, so führt das zu einem typischen Krankheitsbild. Der Kreislauf kann zusammenbrechen, die Hormonproduktion entgleisen, im Körper kann es zu Entzündungsreaktionen bis hin zu einer Sepsis kommen. All das müsste behandelt werden, um Herz, Niere, Lunge des jungen Mannes zu schützen, dessen Gehirn tot ist.
Zielkonflikt bei Organspende-Kampagnen
Wissen die Menschen von all den Voraussetzungen und Bedingungen einer Organspende und Transplantation? Wie gut sind die Informationen, die Krankenkassen, Transplantationskliniken oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung den Bürgern zur Verfügung stellen? Die Göttinger Medizinethikerin Solveig Lena Hansen, die die bisherigen Organspende-Kampagnen analysiert hat, sieht einen Zielkonflikt.
"Da muss man nur die ersten beiden Paragrafen des Transplantationsgesetzes angucken. Der erste sagt, das Ziel ist es, Organspende zu fördern, und der zweite sagt, über Organspende soll ergebnisoffen und neutral aufgeklärt werden. Und wie bekommen Sie das hin?"
Um das Fazit vorwegzunehmen: nicht besonders gut. Da ist zum Beispiel eine Kampagne der Technikerkrankenkasse von 2008, gezeichnet im Comicstil. Ein Supermann im wehenden roten Umhang hält ein Kind unter seinem Arm und fliegt mit ihm vor einem Wirbelsturm davon. In Großbuchstaben steht auf dem Plakat: Das kannst du auch, Untertitel: Pro Organspende sein kann Leben retten – auch das eigene. Solveig Lena Hansen:
"Aufklärung ist es, aus meinem Verständnis nicht, es ist einfach eher Werbung für Organspende. Was ich besonders problematisch daran finde, ist der Untertitel: Pro Organspende sein kann Leben retten - auch das eigene, weil es einfach so nicht stimmt. Also wenn ich in Deutschland einen Organspendeausweis mit ja ausgefüllt habe, gibt mir das keine Priorität, wenn ich selber ein Organ benötige."
Til Schweiger mit Spenderpass Prominente warben im Berliner Club Bungaluu fuer das Thema Organspende.
Auch der Schauspieler Til Schweiger macht sich für Organspenden stark. (picture-alliance / schroewig)
Solche Art von Fehlinformationen hat Solveig Hansen nicht nur einmal gefunden. Oftmals stellen sich Prominente zur Verfügung, um für die Organspende zu werben, etwa der deutsche Schauspieler Til Schweiger. Ein Plakat zeigt sein Porträt.
"Die Kampagne ist in schwarz-weiß gehalten, und über seinem Gesicht erscheint der Text. Du bekommst alles von mir. Ich auch von dir? Und unter dem alles ist ein kleines Sternchen, und unten steht eben noch mal: Du bekommst mein Herz, Lungen, Nieren, Leber, Bauchspeicheldrüse, Dünndarm, Teile der Haut, Gewebe oder kurz gesagt: alles von mir im Fall, dass nach meinem Tod eine Organspende möglich ist, da ich dann nicht mehr darauf angewiesen bin, es dir, deinen Verwandten und Freunden jedoch das Leben retten kann."
Die detaillierte Auflistung von allem, was gespendet werden kann, ist selten und in dieser Kampagne gelungen. Die Wissenschaftlerinnen legten das Plakat einer kleinen Diskussionsrunde vor. Solveig Lena Hansen:
"Viele Personen haben aber auch gleichzeitig gesagt, dass die durch die reine Darstellung des Gesichts auch moralischen Druck aufbaut, ein Design, dem man sich schwer entziehen kann. Und ich würde sagen: Ähnlich wie bei der Superheldenkampagne ist auch hier problematisch, dass man indirekt verspricht: Wenn du bereit bist zu spenden, dann bist du auch bevorzugt. Und wir haben in Deutschland einfach kein direktes Reziprozitätsmodell."
Marketing statt Aufklärung
Das Fazit der Wissenschaftlerin: Statt um Aufklärung handelt es sich bei den meisten Kampagnen um Social Marketing - den Versuch, das Thema Organspende mit Mitteln der Werbung bekannt zu machen. Gemeinsam hätten die Kampagnen zudem, dass sich Menschen, die keine Organe spenden möchten, nicht wiederfinden. Deren Gründe, Ängste und Sorgen werden nicht thematisiert, sagt Hansen:
"So eine Diskussion, wie sie über 20 Jahre geführt wurde, die die Spender sehr aufwertet und über die Nichtspender gar nicht redet, hat zur Folge, dass Nichtspendebereite als unwillig, als Feiglinge, als schlecht informiert, als bequem, zögerlich und so weiter abgestempelt werden. Und es macht auch Personen, die vielleicht nicht spenden wollen, es macht ihnen das auch sehr schwer, das überhaupt zu sagen – in der Familie, am Arbeitsplatz, unter Freunden oder gar auf öffentlichen Veranstaltungen."
Ergebnisoffene Aufklärung, wie sie das Gesetz eigentlich vorschreibt, sieht anders aus. Und könnte vielleicht das Vertrauen in die Transplantationsmedizin stärken, das durch die vielen Skandale der letzten Jahre gelitten hat. Hansen:
"Umfassende Informationsmaterialien sollten erst mal zum Nachdenken über das Thema anstoßen und möglichst breit verschiedene Perspektiven zu Organspende einfangen. Das heißt: Perspektiven von Empfängern, von Spendern, von Angehörigen, von Ärztinnen, von Pflegenden und vielleicht auch nicht nur die Perspektiven, wo alles gut geklappt hat, sondern auch die Perspektiven, wo etwas vielleicht nicht so gut geklappt hat."
Und noch etwas ist wichtig aus ihrer Sicht.
"Zumindest alle Handlungsoptionen sollten gegeben sein in solchen Kampagnen. Das beinhaltet für mich Aufklärung, also Menschen dahin zu befähigen, dass sie für sich eine gute Entscheidung treffen können, und dafür müssen ihnen alle Entscheidungsoptionen zugänglich sein."
Sigrid Graumann: "Wir wollen, glaube ich, alle kein autoritäres Entscheiden über die Menschen, die eben diese Klarheit noch nicht haben. Da kann man nur mit Information und mit guten Argumenten und mit dem Versuch der Überzeugung vorgehen und nicht mit Verpflichtung, was ja letztlich hinter der Widerspruchslösung steckt."
Vor der Intensivstation warten die Eltern des jungen Mannes. Der Transplantationsbeauftragte wird jetzt mit ihnen sprechen. Falls sie den Willen ihres Sohns nicht kennen, dürfen sie derzeit auch nach eigenen Wertvorstellungen entscheiden. Sollte die Widerspruchslösung kommen, dürfen sie das nicht. Dann gilt ihr hirntoter Sohn als Spender.