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Widerspruchslösung bei Organspende
"Solidarität üben über unseren Tod hinaus"

Es gebe eine Pflicht, sich zur Organspende zu entscheiden, sagte der Transplantationsmediziner Eckhard Nagel im Dlf. Jedes Jahr stürben Tausend Menschen, "weil wir nicht genug Organspenden haben". Darum sollte die Widerspruchslösung greifen, wenn jemand keine eigene Entscheidung getroffen habe.

Eckhard Nagel im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Infotafel für Organspenden im niedersächsischen Sozial- und Gesundheitsministerium in Hannover am 5. Juli 2016
    "Aus medizinischer Sicht ist die Transplantation ein großer Erfolg", sagte der Mediziner Eckhard Nagel, der auch Mitglied des Ehtikrats ist, im Dlf (dpa / Julian Stratenschulte)
    Jürgen Zurheide: Die Zahl der Organspenden ist in Deutschland, so eine Bilanz in dieser Woche, wieder leicht gestiegen. Das wird vor allem natürlich jene freuen, die auf ein Spenderorgan warten, und das sind viele. Wir wissen das. Unabhängig davon gibt es eine Debatte, übrigens von Bundesgesundheitsminister Spahn angestoßen, über die sogenannte Widerspruchslösung. Kurz gefasst heißt das ja, wenn ich nicht ausdrücklich sage, was ich möchte, dann darf man mir Organe entnehmen. Wenn ich das nicht möchte, dann muss ich widersprechen. Über diese Themen und das Thema Transplantationsmedizin möchte ich mit dem Mediziner und Ethiker Eckhard Nagel reden, den ich zunächst einmal herzlich begrüße. Guten Morgen, Herr Nagel.
    Eckhard Nagel: Einen schönen guten Morgen, Herr Zurheide!
    "Aus medizinischer Sicht ist die Transplantation ein großer Erfolg"
    Zurheide: Herr Nagel, für Transplantationen sind Sie natürlich. Warum ist das aus Ihrer Sicht ein wichtiges medizinisches Feld?
    Nagel: Man muss darauf hinweisen, dass die Transplantationsmedizin im Verhältnis zu vielen anderen Maßnahmen, die wir therapeutisch ergreifen können, eine sehr hohe Erfolgsrate hat. Wenn man Lebern transplantiert, dann leben nach einem Jahr noch 90 Prozent aller Patienten. Bei den Nierentransplantierten sind es sogar 95 Prozent, die noch nach fünf Jahren eine funktionierende Niere haben. Wenn wir mal auf andere Bereiche gucken, wie zum Beispiel eine Tumorerkrankung des Darmes, da sind die Prozentzahlen viel geringer, da sind es nur 75 oder vielleicht dann nach fünf Jahren nur 60 Prozent, die noch leben. Also aus medizinischer Sicht ist die Transplantation ein großer Erfolg.
    Katholische Kirche stehe hinter Organspende
    Zurheide: Jetzt haben allerdings nicht wenige Menschen auch ein Problem. Ich sage das mal zugespitzt: Die sagen so unter dem Motto, Menschen und vor allen Dingen auch tote Menschen sind kein Ersatzteillager. Was halten Sie dem entgegen. Sie sehen das anders?
    Nagel: Nein, ich sehe das nicht anders. Ich sehe auch, dass Menschen kein Ersatzteillager sind, sondern ich bin fest davon überzeugt, dass wir weit mehr sind als nur ein Apparat, der funktioniert und wo man einfach mal ein Organ austauschen kann. Wir sind sehr komplexe Wesen, und das, was uns auszeichnet, ist wissenschaftlicher Fortschritt im Sinne von Erkenntnis. Und wir haben die Erkenntnis gewonnen, die viele Jahrhunderte immer schon ein großes Ziel war, nämlich dass man Menschen mit schweren Erkrankungen helfen kann. Und das sollte uns freuen, auch in dem Moment, wo wir Solidarität üben können, wenn wir selbst sterben, über unseren Tod hinaus. So ist auch die Auffassung zum Beispiel der katholischen Kirche. Insbesondere Johannes Paul II. hat das so formuliert: "Ein Stück weitergeben der Existenz, der Liebe, mit einem Organ an einen Menschen, der das braucht". Das ist eben etwas, was zu unserem Fortschritt gehört, und was man dann auch realisieren sollte, wenn das dann tatsächlich medizinisch möglich ist.
    "Es gibt eine Pflicht, sich zu entscheiden"
    Zurheide: Nun ist die Zahl der Spender, ich habe es gerade schon angesprochen, zwar leicht gestiegen, aber wir sind in Bereichen von 800 oder so im Jahr. Das ist insgesamt sehr wenig. Und weil das ja so ist, will der Gesundheitsminister da eine andere Lösung einführen, die sogenannte Widerspruchslösung. Da sagen manche, das geht gar nicht. Sie sind da weniger skeptisch. Warum?
    Nagel: Die wichtige Frage dabei ist, kann jeder und soll jeder für sich selbst bestimmen im Hinblick auf diese Frage, was mit meinen Organen nach meinem Tod geschieht. Bei einer Lebendspende darf ich das ja auch. Und das ist vielleicht ein so wichtiger Punkt, auch im Hinblick auf die Sichtweise meiner eigenen Vorstellung, was passiert nach dem Tod, dass ich das nicht aus der Hand geben sollte. Der Nationale Ethikrat hat im Jahr 2007 bereits aufgeschrieben, was wir denken, in diesem Land auch umsetzen zu sollen, nämlich dass es eine Pflicht gibt, sich zu entscheiden. Was heißt das? Wir haben heute ja auch eine sogenannte Entscheidungslösung. Da schickt uns ab und zu mal jemand eine Information zu, und dann legen wir das auf den Schreibtisch, und der Organspenderausweis bleibt da liegen, weil wir nicht so richtig wissen, habe ich das jetzt verstanden, will ich das eigentlich? Und mit meinem eigenen Tod will ich mich ja auch nicht beschäftigen. Das, glaube ich, ist der Sache nicht gerecht. Sie haben darauf hingewiesen, viele Menschen warten auf ein Organ. Tausend oder über tausend sterben jedes Jahr, weil wir nicht genug Organspenden haben. Ich betreue Kinder und Jugendliche, und wenn Sie sehen, was für ein Glück es ist, ein Organ zu bekommen, was für eine Tragödie es ist für die ganze Familie, wenn ein Kind stirbt, weil es kein Organ gibt, dann ist relativ klar, wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung. Und diese gesellschaftliche Verantwortung sollte sich ausdrücken, so ist unsere Meinung, darin, dass die Gesellschaft insgesamt sagt, Organspende ist gut. Das wollte der Bundestag ja auch immer mit den Gesetzen. Das kann man am besten dadurch tun, dass man sagt: Wenn du dich nicht entscheidest, wenn du keine eigene Entscheidung triffst, obwohl es eigentlich eine Pflicht gibt – wenn die nicht vorhanden ist, dann sollte es eine Widerspruchslösung geben. Dann ist die Gesellschaft dafür, dass Organe gespendet werden. Aber wir sind unabhängig davon, als Ergänzung oder ersten Eintritt in die Widerspruchslösung, dafür, dass es eine Entscheidungspflicht gibt, also dass jeder Einzelne sich entscheidet, zum Beispiel beim Eintritt in die Krankenkasse, zum Beispiel bei dem Beantragen eines Personalausweises. Die Entscheidungspflicht ist die Grundlage. Die Widerspruchslösung läuft sozusagen nur hintendran.
    Zurheide: Jetzt könnte man natürlich dagegenhalten, ethisch vielleicht auch so sagen: Wenn ich mich nicht entscheide, ist das ja eben auch eine Entscheidung – ich will mich nicht entscheiden. Und warum darf ich das nicht? Weil, wenn ich mich nicht entscheide, heißt das gut, dann bist du eben Spender. Warum ist das so falsch?
    Nagel: Wir haben ja in vielen anderen Bereichen unseres Gemeinwesens auch Entscheidungspflichten, insbesondere im Bereich der Sozialversicherung, insbesondere im Bereich der Gesundheit. Sie kämen ja auch nicht darauf, mir vorzuschlagen, ich solle mich vielleicht krankenversichern oder ich solle es auch lassen. Sie kämen auch nicht darauf, wenn ich ein Auto zulasse, zu sagen, Haftpflichtversicherung, um von anderen Leuten Schaden abzuwenden, brauchst du nicht, nur, wenn du es gern möchtest. Nein, da sagen wir ganz klar, zum Schutz der Gemeinschaft, und das steht im Vordergrund, bist du als Individuum verpflichtet, in die Gemeinschaft einzutreten und für die Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen. Und ich kann überhaupt nicht begreifen, was das für ein komischer Begriff von Freiheit ist, zu sagen, ich hab die Freiheit, wegzuschauen, dass tausend Menschen in diesem Land leiden und sterben, aber ich muss mich da nicht mit beschäftigen, das greift ja in meine Hoheitspflichten ein. Dieses Verständnis habe ich überhaupt nicht, finde ich auch ausgesprochen irritierend, und es zeigt so eine Form von Isolation, die wir, glaube ich, gerade im Bereich der Gesundheit gar nicht brauchen können.
    "Eine Organspende schadet dem Verstorbenen in keiner Weise"
    Zurheide: Jetzt argumentieren Sie natürlich vor dem Hintergrund auch Ihrer persönlichen Erfahrungen. Ich habe es gesagt, Sie sind Transplantationsmediziner, Sie haben es jetzt zwei-, dreimal schon so angesprochen. Weil Sie sagen, ich sehe, was man da Positives bewirken kann. Haben Sie so ein Beispiel, ohne natürlich Namen zu nennen, wo Sie sagen, das hat Sie so ganz besonders positiv gestimmt?
    Nagel: Wir haben ja gerade den Jahreskongress der Deutschen Stiftung Organtransplantation am Donnerstag eröffnet. Das ist die Einrichtung, die zuständig ist für Organspende. Und vor Beginn meiner Einführung kam eine junge Frau auf die Bühne, die ich gar nicht kannte, die so ganz in Anführungsstrichen normal aussah, mit 22 Jahren, und die erzählt hat, dass sie Bundesligatorhüterin bei einem Hockeyclub ist, in der Frauenmannschaft. Und als sie ihre Geschichte erzählte, stockte allen der Atem deshalb, weil sie mit zwölf Jahren eine Herzmuskelentzündung als Infektionserkrankung bekommen hat, das dann mit einem Kunstherz über anderthalb Jahre überlebt hat, bis die Transplantation gekommen ist. Und jetzt ist sie seit zwölf Jahren transplantiert, und es ist total eindrucksvoll, wie jemand eben ein ganz normales Leben führen kann, wie er Leistungssport wieder auch mit einer Herztransplantation machen kann, und ein glücklicher und ein mit großer Ausstrahlung versehener junger Mensch ist. Und wenn man das sieht, dass eben ein normales Leben durch eine Behandlungsmaßnahme möglich ist, die niemandem schadet – ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, eine Organspende schadet ja dem Verstorbenen in keiner Weise mehr –, dann ist es natürlich eine große Faszination. Und deshalb hoffe ich auch, dass wir uns als Gesellschaft dazu durchringen können, hier eine Veränderung auszuführen, die bedeutet, wir sind dafür, aber wir sind vor allem dafür, dass sich jeder wirklich entscheidet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.