War es die Naturgewalt des unerbittlichen Winters, der die Große Armee bezwang, wie Napoleon behauptete? Oder war es, wie Tolstoi in "Krieg und Frieden" suggerierte, der einäugige Kutusow, der im Bunde mit dem lieben Gott das Heilige Russland rettete?
"Kein anderer Feldzug in der Geschichte wurde so unverhohlen für politische Zwecke vereinnahmt",
notiert Adam Zamoyski in seinem Buch "1812". Tatsächlich lädt dieser Krieg zu zweckbestimmten Deutungen geradezu ein, so rätselhaft war sein Ausgang. Nicht eine der großen Schlachten wurde von den Russen gewonnen. Und trotzdem endete der Feldzug für die "Grande Armée", die größte, die bis dahin gesehen worden war, mit dem Untergang. Die Zeitgenossen konnten sich das von niemandem Erwartete nur mit dem Wirken übersinnlicher Kräfte erklären. Was von nationalen Geschichtsschreibungen lange mystifiziert und verbogen wurde, rückt Adam Zamoyski gerade. "1812" ist ein großes Werk, unbestechlich im Urteil und unübertrefflich in der Darbietung.
"Mein Hauptziel beim Verfassen dieses Buches bestand darin, eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen, von der jeder gehört hat, aber von der nur wenige genaue Kenntnisse besitzen.Vor allem habe ich mich bemüht aufzuzeigen, was diese Ereignisse auf allen Ebenen für die Betroffenen bedeutet haben – denn es ist eine menschliche Geschichte schlechthin, von Hybris und Nemesis, von Triumph und Katastrophe, von Ruhm und Elend, von Freude und Leid."
Die Betroffenen kommen in allen Kapiteln ausführlich zu Wort. Es ist erstaunlich, wie viele Teilnehmer auf beiden Seiten Zeugnisse hinterlassen haben, keineswegs bloß gebildete Offiziere. Auch einfache Soldaten, Wundärzte, Marketenderinnen schrieben Briefe oder Tagebücher. Der Autor versammelt das Material, und so subjektiv es ist – in der Gesamtschau ergeben die Berichte jene besondere Wahrheit, wie sie das impressionistische Gemälde kennt. Indessen ist das Buch des britischen Historikers mit polnischen Wurzeln bei Weitem nicht bloß eine Geschichtsschreibung von unten. Souverän zeichnet der Autor die großen Linien der Politik und der Kriegführung nach. Mancherlei Fehlurteile werden aus dem Weg geräumt. Überzeugend legt Zamoyski dar, dass beide Seiten gleichermaßen den Ausbruch des Krieges verschuldeten. Wohl war Napoleon bestrebt, die vom Zaren durchlöcherte Kontinentalsperre, also das Wirtschaftsembargo gegen England, wieder zu schließen. Doch bis zuletzt bemühte er sich, Alexander zur Erneuerung des Bündnisses zu bewegen. Zamoyski zitiert aus einem Brief Napoleons an den Zaren:
"Meine militärischen Vorbereitungen werden bewirken, dass Eure Majestät seine eigenen verstärken, und wenn die Nachrichten solcher Handlungen mich erreichen, werde ich mich gezwungen sehen, weitere Truppen aufzustellen, und das alles wegen nichts!"
Zamoyski folgert:
"Sie hatten sich in einer Spirale des Misstrauens und der Machtpolitik verfangen, die es ihnen schwer machte, zu vertraglichen Einigungen zu kommen."
Das Buch zerstäubt eine weitere hartnäckige Legende, die von der Steppenfalle. Es gab keinen ausgeklügelten Plan des zaristischen Lagers, den Feind durch kontrolliertes Ausweichen in die Weiten der russischen Steppe zu locken, um ihn dort auszuzehren. Zwar geschah genau das, aber es war nicht das Ergebnis eines strategischen Vorgehens, sondern das Resultat eines permanenten Durcheinanders in der russischen Armeeführung. Napoleon war keineswegs blind für die Gefahr, die ihm drohte. Doch sein Feldzug war widersprüchlich. Erst setzte er auf einen Blitzkrieg, dann wollte er in Witebsk haltmachen oder in Smolensk. Stattdessen marschierte er weiter nach Moskau, immer in der Hoffnung auf einen den ungewollten Krieg beendenden großen Sieg. Der misslang ihm bei Borodino. Krank und unentschlossen versäumte der bewunderte Kriegsgott, Kutusow den Gnadenstoß zu versetzen, was nach dem Urteil Clausewitz’, der in russischen Diensten stand, leicht möglich gewesen wäre. So wurde Borodino zu einem schalen Sieg und einer schrecklichen Schlachterei. Zitat:
"Es war das größte Massaker seit Menschengedenken und würde erst wieder 1916, am ersten Tag der Schlacht an der Somme, übertroffen werden."
Napoleons Kriegführung litt von Anfang an darunter, dass die politischen Ziele des Feldzugs unbestimmt und halbherzig waren. Vor Ausbruch des Krieges hatte er seinen Großstallmeister Caulaincourt gefragt, was er ihm rate. Die Antwort des Russlandkenners Caulaincourt lautete: Entweder vom Krieg ablassen oder ihn in der erklärten Absicht führen, das polnische Reich wiederherzustellen und als Pufferstaat gegen Russland zu etablieren. Der Kaiser entschied sich für den Krieg. Zugleich unterließ er es, den polnischen Nationalismus zu mobilisieren, was ihn dringend benötigte Verstärkungen kostete. Einmal in Moskau, zauderte Napoleon. In der Annahme, Alexander werde nach dem Verlust der heiligen Stadt doch noch Frieden machen, vergeudete er wertvolle Zeit. Der Rückzug wurde zu spät angetreten. Er entwickelte sich zum eigentlichen Drama. Napoleons Sieg an der Beresina konnte an der Tatsache, politisch und militärisch gescheitert zu sein, nichts mehr ändern. Die "Große Armee" hatte aufgehört zu existieren. Das Buch dokumentiert, dass der Russland-Feldzug, wie jeder Krieg, zwar auch Helden schuf, vor allem aber Opfer. Von ihnen sprechen die vielen Zeitzeugenberichte, die Zamoyski vorlegt. Sie verschweigen nichts, nicht das grausige Los der Verletzten und der Gefangenen, auch nicht den Kannibalismus, zu dem es auf dem Höhepunkt des Hungerwahnsinns kam. Mit "1812" ist Zamoyski der gültige Bericht einer großen menschlichen und militärischen Katastrophe gelungen, zugleich ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung.
Adam Zamoyski: "1812 – Napoleons Feldzug in Russland"
C. H. Beck, 720 Seiten, 29, 95 Euro.
"Kein anderer Feldzug in der Geschichte wurde so unverhohlen für politische Zwecke vereinnahmt",
notiert Adam Zamoyski in seinem Buch "1812". Tatsächlich lädt dieser Krieg zu zweckbestimmten Deutungen geradezu ein, so rätselhaft war sein Ausgang. Nicht eine der großen Schlachten wurde von den Russen gewonnen. Und trotzdem endete der Feldzug für die "Grande Armée", die größte, die bis dahin gesehen worden war, mit dem Untergang. Die Zeitgenossen konnten sich das von niemandem Erwartete nur mit dem Wirken übersinnlicher Kräfte erklären. Was von nationalen Geschichtsschreibungen lange mystifiziert und verbogen wurde, rückt Adam Zamoyski gerade. "1812" ist ein großes Werk, unbestechlich im Urteil und unübertrefflich in der Darbietung.
"Mein Hauptziel beim Verfassen dieses Buches bestand darin, eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen, von der jeder gehört hat, aber von der nur wenige genaue Kenntnisse besitzen.Vor allem habe ich mich bemüht aufzuzeigen, was diese Ereignisse auf allen Ebenen für die Betroffenen bedeutet haben – denn es ist eine menschliche Geschichte schlechthin, von Hybris und Nemesis, von Triumph und Katastrophe, von Ruhm und Elend, von Freude und Leid."
Die Betroffenen kommen in allen Kapiteln ausführlich zu Wort. Es ist erstaunlich, wie viele Teilnehmer auf beiden Seiten Zeugnisse hinterlassen haben, keineswegs bloß gebildete Offiziere. Auch einfache Soldaten, Wundärzte, Marketenderinnen schrieben Briefe oder Tagebücher. Der Autor versammelt das Material, und so subjektiv es ist – in der Gesamtschau ergeben die Berichte jene besondere Wahrheit, wie sie das impressionistische Gemälde kennt. Indessen ist das Buch des britischen Historikers mit polnischen Wurzeln bei Weitem nicht bloß eine Geschichtsschreibung von unten. Souverän zeichnet der Autor die großen Linien der Politik und der Kriegführung nach. Mancherlei Fehlurteile werden aus dem Weg geräumt. Überzeugend legt Zamoyski dar, dass beide Seiten gleichermaßen den Ausbruch des Krieges verschuldeten. Wohl war Napoleon bestrebt, die vom Zaren durchlöcherte Kontinentalsperre, also das Wirtschaftsembargo gegen England, wieder zu schließen. Doch bis zuletzt bemühte er sich, Alexander zur Erneuerung des Bündnisses zu bewegen. Zamoyski zitiert aus einem Brief Napoleons an den Zaren:
"Meine militärischen Vorbereitungen werden bewirken, dass Eure Majestät seine eigenen verstärken, und wenn die Nachrichten solcher Handlungen mich erreichen, werde ich mich gezwungen sehen, weitere Truppen aufzustellen, und das alles wegen nichts!"
Zamoyski folgert:
"Sie hatten sich in einer Spirale des Misstrauens und der Machtpolitik verfangen, die es ihnen schwer machte, zu vertraglichen Einigungen zu kommen."
Das Buch zerstäubt eine weitere hartnäckige Legende, die von der Steppenfalle. Es gab keinen ausgeklügelten Plan des zaristischen Lagers, den Feind durch kontrolliertes Ausweichen in die Weiten der russischen Steppe zu locken, um ihn dort auszuzehren. Zwar geschah genau das, aber es war nicht das Ergebnis eines strategischen Vorgehens, sondern das Resultat eines permanenten Durcheinanders in der russischen Armeeführung. Napoleon war keineswegs blind für die Gefahr, die ihm drohte. Doch sein Feldzug war widersprüchlich. Erst setzte er auf einen Blitzkrieg, dann wollte er in Witebsk haltmachen oder in Smolensk. Stattdessen marschierte er weiter nach Moskau, immer in der Hoffnung auf einen den ungewollten Krieg beendenden großen Sieg. Der misslang ihm bei Borodino. Krank und unentschlossen versäumte der bewunderte Kriegsgott, Kutusow den Gnadenstoß zu versetzen, was nach dem Urteil Clausewitz’, der in russischen Diensten stand, leicht möglich gewesen wäre. So wurde Borodino zu einem schalen Sieg und einer schrecklichen Schlachterei. Zitat:
"Es war das größte Massaker seit Menschengedenken und würde erst wieder 1916, am ersten Tag der Schlacht an der Somme, übertroffen werden."
Napoleons Kriegführung litt von Anfang an darunter, dass die politischen Ziele des Feldzugs unbestimmt und halbherzig waren. Vor Ausbruch des Krieges hatte er seinen Großstallmeister Caulaincourt gefragt, was er ihm rate. Die Antwort des Russlandkenners Caulaincourt lautete: Entweder vom Krieg ablassen oder ihn in der erklärten Absicht führen, das polnische Reich wiederherzustellen und als Pufferstaat gegen Russland zu etablieren. Der Kaiser entschied sich für den Krieg. Zugleich unterließ er es, den polnischen Nationalismus zu mobilisieren, was ihn dringend benötigte Verstärkungen kostete. Einmal in Moskau, zauderte Napoleon. In der Annahme, Alexander werde nach dem Verlust der heiligen Stadt doch noch Frieden machen, vergeudete er wertvolle Zeit. Der Rückzug wurde zu spät angetreten. Er entwickelte sich zum eigentlichen Drama. Napoleons Sieg an der Beresina konnte an der Tatsache, politisch und militärisch gescheitert zu sein, nichts mehr ändern. Die "Große Armee" hatte aufgehört zu existieren. Das Buch dokumentiert, dass der Russland-Feldzug, wie jeder Krieg, zwar auch Helden schuf, vor allem aber Opfer. Von ihnen sprechen die vielen Zeitzeugenberichte, die Zamoyski vorlegt. Sie verschweigen nichts, nicht das grausige Los der Verletzten und der Gefangenen, auch nicht den Kannibalismus, zu dem es auf dem Höhepunkt des Hungerwahnsinns kam. Mit "1812" ist Zamoyski der gültige Bericht einer großen menschlichen und militärischen Katastrophe gelungen, zugleich ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung.
Adam Zamoyski: "1812 – Napoleons Feldzug in Russland"
C. H. Beck, 720 Seiten, 29, 95 Euro.