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"Widerstandsfähiger als jedes Tier"

Warlam Schalamow, der 18 Jahre seines Lebens in den schlimmsten Arbeitslagern des fernöstlichen stalinistischen GULag verbracht hat, stand immer im Schatten von Solschenizyn. Obwohl in den 70er und 80er Jahren schon eine Auswahl seiner "Erzählungen aus Kolyma" in deutscher Übersetzung publiziert wurde, war er bei uns kaum bekannt.

Von Karla Hielscher |
    Nun wird mit dem ersten Band seiner geplanten Werkausgabe im Matthes & Seitz -Verlag die herausragende literarische Bedeutung Schalamows schlagartig offenbar. Sie stellt den 1982 gestorbenen Autor in eine Reihe mit Imre Kertész, Primo Levy oder Jorge Semprun, die mit ihrem Werk das Konzentrationslager als verdichtetste Form der Schrecken des 20. Jahrhunderts ins literarische Wort gebannt haben. Schalamow nennt "die Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates" die "Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral". Seine Texte sind eine Antwort auf Adornos Frage nach der Möglichkeit des "Schreibens nach Auschwitz".

    Im Gegensatz aber zu Solschenizyn, der in seiner Verarbeitung des GULag-Themas ganz in der russischen literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts steht und deren belehrende, moralisierender Funktion fortführt, ist Schalamow ein Schriftsteller der Moderne.

    Der klassische Roman mit seinem allwissenden Erzähler und seinen individuellen, sich entwickelnden Charakteren ist für ihn tot. Die insgesamt sechs Zyklen der "Erzählungen aus Kolyma", alle entstanden in den 50er bis 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, demonstrieren eine Prosa von erschreckender Radikalität, Erbitterung und Unerbittlichkeit. Schalamows Figuren haben keine Vergangenheit außerhalb des Lagers, sie sind keine Helden und er gewinnt ihrem entsetzlichen Leiden keinen Sinn ab. Das Lagersystem nimmt den Häftlingen in kürzester Zeit ihr menschliches Antlitz und zeigt somit "die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation."

    Zunächst sind die 33 Kurzgeschichten des ersten Bandes authentische Zeugnisse des stalinistischen Terrors, dem Millionen sowjetischer Bürger ausgesetzt waren, Dokumente der Erinnerung an die Epoche der Arbeitsvernichtungslager, die vor dem Vergessen bewahrt werden müssen. Durchgehendes Thema Schalamows ist die Frage: Was macht der GULag aus den Menschen?

    Härteste Arbeit unter extremsten Bedingungen: in den Goldgruben im eisigen Wasser oder beim Holzfällen bei bis zu 60 Grad Kälte, ständiger Hunger, die Schläge der Begleitposten, Skorbutgeschwüre und Furunkel am ausgemergelten Körper führten schnell zu vollkommener Gleichgültigkeit und Abstumpfung aller Gefühle.

    Der Frost, derselbe, der die Spucke in der Luft gefrieren ließ, ergriff auch die menschliche Seele. Wenn die Knochen einfrieren konnten, konnte auch das Hirn einfrieren und stumpf werden, konnte auch die Seele einfrieren. Im Frost konnte man an nichts denken ( ... )

    Schalamow erzählt von Häftlingen - früher einmal Ärzte - die einen Toten ausgraben, um an dessen Unterwäsche zu kommen; von einem Wachhabenden, der einen Häftling beim Beerensammeln erschießt, nur weil der ein paar Schritte über den abgesteckten Raum hinausgegangen ist; von den im Lager herrschenden kriminellen Ganoven, die beim Kartenspielen einen Häftling ohne mit der Wimper zu zucken ermorden, um sich dessen Wollpullover anzueignen; von einem Arzt, der einen Mithäftling mit einer qualvollen Schocktherapie als Simulanten überführt, nur um sein ärztliches Können zu demonstrieren.

    Unter solchen Bedingungen verwandelt sich der Mensch in eine rein physische Kreatur, die allein der Lebensinstinkt und Selbsterhaltungstrieb am Leben hält.

    Ein Pferd erträgt nicht einen Wintermonat des hiesigen Lebens im kalten Stall bei vielstündiger schwerer Arbeit im Frost ( ... ) Der Mensch jedoch lebt. Vielleicht lebt er von Hoffnungen? Aber er hat ja keinerlei Hoffnungen ( ... ) Doch der Selbsterhaltungstrieb, das sich Klammern ans Leben, ein wirklich physisches Klammern, dem auch das Bewusstsein unterworfen ist, rettet ihn. Er lebt von demselben, was den Stein, den Baum, den Vogel leben lässt. Doch er klammert sich fester ans Leben als sie. Und er ist widerstandsfähiger als jedes Tier.

    Die Begriffe der Lagersprache - wie die "Kolymka", das selbstgebaute Benzindampflämpchen; das nördliche Getränk "Tschifir", ein extrem starker Tee mit narkotisierender Wirkung; oder die Bezeichnung "dochodjaga" (von russ. dochodit ´/auf etwas zugehen) für einen schon vom Tod gezeichneten Häftling u.v.a. sind in Schalamows Texten aufbewahrt.

    Aber seine Erzählungen sind mehr als Dokumente des Lageralltags. Schalamow, der vor seiner Verhaftung in den 20er Jahren schon als Schriftsteller gearbeitet und der russischen linken Avantgardekunst nahe gestanden hatte, dachte beim Schreiben ständig darüber nach, wie es möglich ist, die Lager-Erfahrung in authentische Literatur zu verwandeln:

    Mehr als der Gedanke an den Tod beschäftigte mich der Gedanke an das Mittagessen, an die Kälte, an die Schwere der Arbeit - kurz, der Gedanke an das Leben. Aber war das überhaupt ein Gedanke? Das war eine Art instinktives, primitives Denken. Wie sich in diesen Zustand zurückversetzen und in welcher Sprache davon erzählen? Eine Bereicherung der Sprache bedeutet eine Verarmung der Erzählung im Sinne der Wahrheitstreue, der Wahrhaftigkeit.

    Aber gerade auch diese Umsetzung der Erfahrung in originelle Sprachkunst ist Schalamow gelungen. Jede der kurzen Erzählungen ist fest im jeweiligen Zyklus verankert, die durch ein Geflecht von Wiederholungen und Korrespondenzen miteinander verbunden sind. Die Aufsplitterung des Materials in Kurzgeschichten macht es möglich, das gleiche oder ähnliche Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven dazustellen. Jede der einzelnen Erzählungen endet in einer Pointe, die gerade in ihrer Beiläufigkeit das beschriebene Grauen zuspitzt. Seine berühmte Erzählung über den Tod des Dichters Osip Mandelstam in einem Transitlager endet wie folgt:

    Gegen Abend war er tot.
    Doch von der Liste gestrichen wurde er erst nach zwei Tagen - den erfinderischen Nachbarn war es gelungen, bei der Brotverteilung zwei Tage das Brot des Toten zu erhalten; der Tote hob die Hand wie eine Marionette. Also war er schon vor seinem Todesdatum gestorben - ein nicht unwichtiges Detail für seine künftigen Biographen.


    Schalamows Texte sind "keine Prosa des Dokuments, sondern eine Prosa, die durchlitten ist wie ein Dokument." Sie sind weit mehr als eine politische Anklage und ein Zeitdokument. Ihr Thema ist die Frage, wie es nach Aufklärung und humanistischer Kulturtradition zu Auschwitz und dem GULag kommen konnte, es ist die Frage nach dem Wesen des Menschen.

    Beide Seiten dieser Texte, die dokumentarische wie die künstlerische müssen vom deutschen Leser noch entdeckt werden. Die von Franziska Thun-Hohenstein herausgegebene und hervorragend kommentierte und von der renommierten Übersetzerin Gabriele Leupold übertragene verdienstvolle Ausgabe macht das möglich.

    Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma
    Erster Band der Werkausgabe
    Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein
    Matthes & Seitz Berlin, 2007, 342 Seiten