Muskeln und Seele
Wie das Kino die Arbeiterinnen entdeckte

In "Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino" entdeckte Siegfried Kracauer den Film als Vergnügen für die Angestellten und Arbeiterinnen des frühen 20. Jahrhunderts. Aber das Kino war nicht nur für die Arbeiterinnen da, sondern handelte auch von ihnen.

Von Thekla Dannenberg |
Landarbeiterinnen auf den Reisfeldern in der Poebene in Piemont in dem Film "Bitterer Reis" (Riso Amaro) von Giuseppe De Santis von 1949.
In dem Film "Bitterer Reis" erzählt Giuseppe De Santis von den Saisonarbeiterinnen, die für die Reisernte monatelang im Wasser stehen, und von ihrem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen (imago images / United Archives )
Denn bevor das Kino bürgerlich wurde, war es proletarisch: Asta Nielsen, aus kleinsten Verhältnissen aufgestiegen zum ersten großen Schauspielstar des deutschen Kinos, verband in ihren Filmen existenzielle Not mit Sinnlichkeit und weiblichem Heldentum, wie es später nur noch der italienische Neorealismus schaffte. Heute ist der moderne Mainstream selbstverständlich politisch, seine Heldinnen sind tough, aber bessergestellt, ihre Körper erscheinen unversehrt von den Zumutungen der Lohnarbeit. Und selbst im feministischen Film haben Queerness, Ethnizität und Postkolonialismus die sozialen Fragen an den Rand gedrängt. Doch manchmal erzählt das Kino auch heute noch von Arbeiterinnen und ihren Lebenswegen, von individueller Emanzipation und solidarischem Miteinander – mal zärtlich wie Aki Kaurismäki, mal wütend wie Ken Loach, mal poetisch wie Agnès Varda, aber immer ergreifend.
Thekla Dannenberg, 1970 geboren, studierte Politikwissenschaft am Otto‑Suhr‑Institut in Berlin, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München und arbeitete als Redakteurin bei der taz. Seit 2002 ist sie Redakteurin beim Perlentaucher und schreibt für etliche andere Medien als Autorin und Kritikerin. Sie unterrichtet Filmjournalismus an der Universität Marburg.

Beinahe wäre 2023 ein gutes Jahr für den Feminismus im Kino geworden. Zwei der drei großen Filmfestivals in Europa vergaben ihre Hauptpreise an Regisseurinnen, was eigentlich schon keine Besonderheit mehr ist: Nach Jahrzehnten der Unterrepräsentation haben sich Regisseurinnen ihren Platz in Cannes, Venedig und Berlin erkämpft. Spannender ist dagegen eine veritable Revision der Filmgeschichte: In der alle zehn Jahre durchgeführten Umfrage der britischen Filmzeitschrift Sight and Sound wählten die Kritikerinnen und Kritiker Chantal Akermans Film „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ von 1975 zum besten Film aller Zeiten, ein feministisches Meisterwerk, ästhetisch so radikal wie faszinierend. Drei Stunden lang verfolgt die Kamera die alltäglichen Routinen der bürgerlichen Hausfrau Jeanne Dielman, die an der Entfremdung ihres Lebens zerbricht: Kochen, Abwaschen, Staubwischen, Schuhe putzen. Wenn die Hausarbeit erledigt ist, sorgt Jeanne Dielman auch noch für die Herren aus der Nachbarschaft: Sie verkauft ihnen Liebesdienste. In strenger Kadrierung, also der puristischen Wahl des Bildausschnitts, und nahezu wortlos zeigt Akermans Film den Haushalt nicht als heimische Idylle, sondern als Hort sexueller Unterdrückung und finanzieller Ausbeutung.
Akermans Film verdrängte damit Alfred Hitchcocks kultisch verehrten Thriller „Vertigo“ von Platz eins, eine dunkel-romantische Männerfantasie von Liebe, Erotik und Obsession. Auch auf den weiteren Plätzen wurden die Hierarchien durchgeschüttelt. Filme von Frauen und aus dem Globalen Süden finden nun stärker Berücksichtigung. Die Erhabenheit und Eleganz der großen Filmklassiker steht nun neben dem Rebellischen und Subversiven, das moderne intellektuelle Kino neben überbordender Sinnlichkeit.
Die Kür von Chantal Akermans Film zum besten Film aller Zeiten war eine gezielte Setzung, das Fanal für eine überfällige Neubewertung der Filmgeschichte. In den Großstädten nahmen etliche Kinos das Werk wieder in ihr Programm. Das Publikum blieb überschaubar.
Dagegen pilgerten die Zuschauerinnen scharenweise in Greta Gerwigs pinke „Barbie“-Komödie, die in einer cleveren Kombination aus Wokeness, Selbstironie und Hedonismus Millionen von Frauen mit dem sexualisierten Plastikspielzeug ihrer Kindheit versöhnte. Der Film spielte über eine Milliarde Dollar ein, kommerziell ist er einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Ein infantilisierter Feminismus, der sich unverhohlen in den Dienst eines Konzern stellt, stand im Kinojahr 2023 diametral einem künstlerisch anspruchsvollen Feminismus gegenüber, der neue Sichtweisen oder Wege der Emanzipation eröffnen will, dem es aber offenkundig nicht gelingt, ein größeres Publikum anzulocken. Die Kluft zwischen Filmkunst und populärem Kino scheint auch in der feministischen Variante unüberbrückbar.
Aber seltsamerweise haben beide Richtungen doch etwas gemein: Die Frauen, die in ihnen vorkommen, mögen unabhängig und selbstbestimmt sein, gequält oder verloren - sie sind in den meisten Fällen von gehobener Herkunft. Aus der Arbeiterschicht sind sie selten. Für Arbeiterinnen scheint sich weder der Mainstream zu interessieren, der doch das große Publikum sucht, noch die Filmkunst, die ihre kritischen Inhalte mit avancierter Ästhetik verbinden muss, um nicht als sozialdemokratisches Polit-Kino verschmäht zu werden. Als wäre ein Kino unmöglich, das Arbeiterinnen zugleich anspricht und ihrem Leben gerecht wird, das innovativ und doch mitreißend ist. Aber das ist es nicht. Denn bevor das Kino bürgerlich wurde, war es proletarisch. Seine Heldinnen und seine Stars kamen aus einfachen Verhältnissen. Und immer wieder erinnert es sich daran, wie ein Blick in die Filmgeschichte zeigt. Das Kino hat wunderbare Filme hervorgebracht, in denen Arbeiterinnen uns zum Träumen bringen.
Der große Star des frühen Kinos war die Dänin Asta Nielsen. Ihre Filme waren eine Sensation, sie lockten die Massen ebenso in die Kinos wie das bürgerliche Publikum. Der Dichter Guillaume Apollinaire schwärmte mit der ihm eigenen Flamboyanz:
„Sie ist alles: Sie ist die Vision des Trinkers und der Traum der Einsamen. Sie lacht wie ein Mädchen, das glücklich ist, und ihr Auge weiß von Dingen, die so zart und scheu sind, dass nie ein Wort über sie fällt.“
Auch kühlere Gemüter verfielen ihrer Erscheinung: Für Siegfried Kracauer war Asta Nielsen schlicht die faszinierendste Persönlichkeit der frühen Ära; Béla Balázs beschrieb ihre Erotik als eine vergeistigte, die weniger dem schlanken Körper entspringe als den brennenden schwarzen Augen.
Aber es waren nicht nur die freizügigen Szenen und aufreizenden Tänze, mit denen Asta Nielsen ihr Publikum hinriss. Sie faszinierte durch die Ausdrucksstärke ihres Minenspiels und den Reichtum ihrer Gebärden. Das Kino machte den Menschen in seiner ganzen Körperlichkeit wieder sichtbar, schrieb 1924 der Filmkritiker Béla Balàzs: Jahrhundertelang herrschte in Europa eine abstrakte Kultur des Wortes, die den menschlichen Körper aus dem Blick verloren hatte. Das Kino machte den Körper wieder sichtbar:
„Die ganze Menschheit ist heute schon wieder dabei, die vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebärden wieder zu erlernen.“
Und es war zuallererst Asta Nielsen, die ihrem Publikum den Reichtum dieser Sprache näherbrachte. In einem ihrer frühesten Erfolge von 1911, in Urban Gads Film „Im großen Augenblick“, spielte sie eine junge Frau, die ihr Kind weggeben muss, um arbeiten zu können. Ganz selbstverständlich erzählt der Film von einer alleinerziehenden Mutter, deren Kind nicht vereinbar ist mit der Arbeitsleistung, die einer Proletarierin abverlangt wird. In dem kurzen Werk paaren sich auf spektakuläre Weise materielle Misere und weiblicher Heroismus. Die schwedische Zensurbehörde verbot den Film, sie erkannte in ihm das Potenzial zu „Nerven-Erschütterung und Verrohung“.
Frauen in seelischer und materieller Not waren Asta Nielsens Paraderolle. Sie war selbst in einfachen Verhältnissen aufgewachsen – „voller Sorge und Entbehrung, Streit und Laster“, wie sie in ihrer Autobiografie schrieb. Aber das tat ihrem Aufstieg und ihrem Ruhm keinen Abbruch. In der Anfangszeit des Kinos, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es dabei war, sich von der Jahrmarktsattraktion zur Kunst emporzuheben, erzählte es mit den Mitteln des Sozialen Dramas von Vagabunden und Trunkenbolden, von Dirnen und Dienstmädchen. Die Filme handelten vom vereinzelten Menschen, der in einer erbarmungslosen Gesellschaft um sein Überleben kämpft, und von Frauen, die in der Großstadt um einen neuen, eigenständigen Status rangen.
Siegfried Kracauer hat dies ideologiekritisch gedeutet, er sah in der Wahl proletarischer Sujets vor allem eine ökonomische Entscheidung:
„Die Filme sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft. Sie werden aus den Mitteln von Konzernen bestritten, die zur Erzielung von Gewinnen den Geschmack des Publikums um jeden Preis treffen müssen. Das Publikum setzt sich gewiss auch aus Arbeitern und kleinen Leuten zusammen, die über die Zustände in den oberen Kreisen räsonieren, und das Geschäftsinteresse fordert, dass der Produzent die gesellschaftskritischen Bedürfnisse seiner Konsumenten befriedige.“
Stimmt ja, möchte man sagen: Die Filme erzählen individuell von Unglück, Verzweiflung und Not, nicht politisch. Es gibt kein gemeinsames Entkommen, keine kollektive Revolte, keine Arbeiterbewegung. Aber die Dringlichkeit, mit der die frühen sozialen Dramen die Verzweiflung einer Proletarierin in Szene setzten, konnte das Publikum nicht unbeeindruckt lassen. Ganz zu schweigen von der ästhetischen Raffinesse.
Als die Kinopaläste pompöser wurden und auch das bürgerliche Publikum in die Abendvorstellungen strömte, da spielte Asta Nielsen nicht mehr mit verzehrender Leidenschaft die gefallene Frau, sondern mit betörender Melancholie den edlen Prinzen Hamlet. Das Kino wurde feinsinniger, vor allem aber nobler: Prachtvolle Interieurs und schöne Kleider geben einfach schönere Bilder als die Dachkammern der Dienstmädchen. Die niederen Stände mussten sich jetzt nach solchem Wohlstand sehnen. Aber träumen die Scheuermädchen wirklich davon, einen Rolls‑Royce-Besitzer zu heiraten? Das fragte schon Siegfried Kracauer. Träumt nicht eher der Rolls-Royce-Besitzer davon, dass alle Scheuermädchen ihn heiraten wollen? Andererseits: Träumte vielleicht der Gutsherr von Asta Nielsen, wenn er sich wieder sein Dienstmädchen gefügig machte?
Im Frankreich der Zwischenkriegszeit dominierte der Poetische Realismus das Filmemachen. Jean Renoir und Marcel Carné erzählten in betörend schönen Bildern vom Leben am Rand der Gesellschaft, von Kleinganoven, arbeitslosen Proletariern, Frauen, die in die Prostitution gezwungen wurden. Das Schicksal dieser Verdammten war vorgezeichnet, aber bevor es zuschlug, durften sie noch einmal hoffnungslos lieben. Jean Gabin und Michèle Morgan bildeten das ideale Paar in diesen wunderbaren Werken, doch die weiblichen Rollen waren zweitrangig.
Der italienische Neorealismus der Nachkriegszeit verband in seinen besten Werken Poesie, Wahrhaftigkeit und revolutionären Humanismus. Der Regisseur Giuseppe De Santis gehörte zu den markantesten Vertretern dieser Bewegung, auch weil der überzeugte Kommunist seine Filme oft als flammende Aufrufe zu Sozialreformen gestaltete. 1949 schuf er mit „Bitterer Reis“ ein unvergessliches Werk mit Silvana Mangano und Vittorio Gassman in den Hauptrollen. Der Film ist Sozialdrama, Film Noir und krachende Kolportage in einem. Er erzählt von Saisonarbeiterinnen, die für die Reisernte monatelang unter der brütenden Sonne Norditaliens im Wasser stehen - und von ihrem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. Der Krieg ist vorbei, aber noch nicht ganz ausgestanden: Die Arbeiterinnen werden in Baracken untergebracht, aus denen Soldaten gerade erst abziehen. In diese Gemeinschaft der Arbeiterinnen schmuggelt sich die junge Francesca, die nach einem Juwelendiebstahl Unterschlupf braucht. Ausgerechnet sie zettelt einen Arbeitskampf an, doch seine Berechtigung und sein Erfolg machen ihre zweifelhaften Motive vergessen. Ihre Gegenspielerin ist die lebenshungrige Silvana, der jedes Mittel Recht erscheint, um sich aus der Armut zu befreien. Während Silvana dabei immer tiefer sinkt, emanzipiert sich Francesca von ihrem Ganovenfreund. Für sie, die bereits so viel menschliche Verkommenheit erlebt hat, sind die schmutzigen Baracken ein sauberer Ort.
Furore machten beim großen Publikum weniger die wunderschön gestalteten Bilder von der Arbeit auf den Reisfeldern als vielmehr die freizügigen Aufnahmen der umwerfenden Silvana Mangano. Bemerkenswert ist aber, wie wenig normiert die Frauen sind, die hier ins Bild gesetzt werden: Wir sehen junge Bäuerinnen, Fabrikarbeiterinnen und Verkäuferinnen, deren Körper von harter Arbeit gezeichnet sind. Sie raffen ihre Röcke hoch, wenn sie im Wasser stehen, und entblößen krumme und muskulöse, aber eben echte Beine.
Bei allen Schwächen, etwa dem kindlich-empathischen Schauspiel und den melodramatischen Wendungen, bleibt De Santis mit seinem „Bitteren Reis“ dem Neorealismus treu: Die Gegenwart kann aus politischen Gründen abgelehnt werden, aber um ihrer selbst willen, einfach weil sie unsere ist, muss sie auch ein bisschen geliebt werden.
Die sechziger Jahre brachten von allen Seiten frischen Wind in das staubig gewordene Kino der fünfziger Jahre: die französische Nouvelle Vague, das revolutionäre Kino des Globalen Südens, junge Regisseure in den sozialistischen Ländern, der Neue Deutsche Film, der Aufbruch der Autorinnen. Das junge Kino war urban und intellektuell, es war politisch, feministisch und antikolonialistisch. Es schuf erschütternde Dokumentationen und liebevolle Porträts über das Leben von Arbeiterinnen, aber es erreichte mit seiner Low-Budget-Ästhetik kein großes Publikum.
Anders Rainer Werner Fassbinder: Das aufrührerische Genie des deutschen Kinos schaffte es immer wieder mit einer Mischung aus Melodram, Pracht und Gift, das große Publikum ins Kino zu locken - und natürlich mit seinem Star-Ensemble. Wer sonst hätte einen Film wie „Angst essen Seele auf“ machen können? Ein bisschen gewollt, ein bisschen theatralisch, aber von mitreißender Wucht. Brigitte Mira spielt eine 60-jährige Putzfrau, die eine Liebesbeziehung zu einem 20 Jahre jüngeren Gastarbeiter aus Marokko beginnt, gespielt von El Hedi ben Salem. Wie Fassbinder die beiden gegen die Vorurteile und Feindseligkeit ihrer Mitmenschen lieben und tanzen lässt, gehört zu den großen Momenten der Filmgeschichte: „Nix viel denken gut. Viel denken, viel weinen“, tröstet sich Ali über die Bitterkeit hinweg.
Weniger bekannt ist seine Fernsehserie „Acht Stunden sind kein Tag“, für die Fassbinder von allen Seiten angefeindet wurde. Interessanter kann man kaum scheitern. „Acht Stunden sind kein Tag“ erzählt in Star-Besetzung aus dem Leben einer Kölner Werkzeugmacherfamilie: Gottfried John gibt den jungen Draufgänger Jochen, Hanna Schygulla die reizende Angestellte Marion. Erklärtes Ziel der WDR‑Serie war es, nicht immer nur ein Mariacron schwenkendes Kleinbürgertum in die Wohnzimmer zu bringen, sondern auch mal die Arbeiterschaft. Fassbinder ging gewohnt artifiziell und vielleicht auch gewohnt schludrig ans Werk: Seine Arbeiter sehen umwerfend gut aus, reden viel dummes Zeug und kämpfen für die gerechte Sache. Manche Szenen sind grober Unfug, andere von brillanter Komik. Eben typisch Fassbinder. Die linke Zeitschrift Konkret empörte sich über die Inszenierung „geschminkter Proleten“, Hanna Schygulla befand im Nachhinein auf Klassenverrat und stieg nach der ersten Staffel aus. Dabei ist die Grundidee genial: Tagsüber geht es um die handfesten Probleme des Kapitalismus: Wie die Arbeiter in der Fabrik mobilisieren? Was tun gegen die Entfremdung der Arbeit? Abends geht es dann um die Freuden des Lebens und der Liebe. Es ist eine ungewohnt affirmative Tonart, die Fassbinder hier anschlägt: Arbeiter kämpfen glücklich für eine noch glücklichere Gesellschaft. Selbst im Betriebsrat herrscht gute Laune!
Die Politisierung der Kultur erfasste in den siebziger Jahren jedoch auch das Mainstream-Kino. Hollywoods erfolgreichstes Genre jener Zeit war der Polit-Thriller, der linke Politik mit klassischen Narrativen zu Filmen voller Suspense und Action verband: Schuld waren am Ende die CIA, das Militär oder eine anderweitige faschistische Verschwörung.
Aus der Spätzeit jener Ära stammt auch Martin Ritts großer humanistischer Film „Norma Rae“, der vom Kampf einer Arbeiterin um gewerkschaftliche Rechte erzählt. Die Feuilletons sind immer ein bisschen gelangweilt von Filmen, in denen das Gute siegt, und sie waren es auch von „Norma Rae“. Naja, heißt es dann, die Welt mag vielleicht besser werden, wenn es mehr Norma Raes gäbe, aber eben nicht das Kino!
Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit in den amerikanischen Südstaaten. Norma Rae Webster heißt die Frau, die in der ganzen Stadt für ihr lockeres Mundwerk und ihren ebenso lockeren Lebenswandel bekannt ist. Sie hat zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern und will nun einen dritten heiraten. Da taucht aus New York ein Gewerkschaftsfunktionär auf, der Inbegriff eines linken jüdischen Intellektuellen, der die Arbeiterinnen in der Baumwollspinnerei organisieren will, und zielsicher sucht er sich die rauflustige Norma Rae als seine Mitstreiterin aus. Und tatsächlich kämpft sie wie eine Löwin: um ihren Job, ihre Ehe und ihre Kinder, gegen den Akkord und den Schmutz in der Fabrik und gegen die Boshaftigkeit einer Stadt, in der Rassismus und Antisemitismus nicht als ehrenrührig gelten. Die Bosse versuchen, alle gegeneinander auszuspielen: Arbeiter gegen Arbeiterinnen, Weiße gegen Schwarze, Katholiken gegen Juden.
Martin Ritt zeichnet mit großer Zärtlichkeit die Arbeiter und Arbeiterinnen des amerikanischen Südens, in ihrer Überforderung, Unsicherheit und Kurzsichtigkeit. Armut und Tradition sind Gift für die Vorstellungskraft. Seine Heldin Norma Rae aber liebt er geradezu. Er hüllt sie in sanftes, flirrendes Licht und in den bewegendsten Momenten lässt er sie von Staubflocken umtanzen. Aber Martin Ritts Liebe für diese Arbeiterin ist ansteckend. Norma Rae bleibt, auch als sie ins Gefängnis geworfen wird, ein freier Mensch. Am Ende siegen nicht die Guten, sondern die, die kämpfen und großzügig lieben.
Wenn es um energiegeladene Fabrikarbeiter und freudvolle Angestellte gehen soll, liegt es nahe, an den sozialistischen Realismus zu denken, dessen Produkte immer einem erzieherischen Dogmatismus glichen.
Ein Ausnahmefilm in der DDR war lediglich Evelyn Schmidts Film „Das Fahrrad“ von 1982. Ganz unspektakulär, sehr feinsinnig erzählt sie von dem Versuch einer jungen Frau, alleinerziehende Mutter und Arbeiterin in einer Stanzfabrik in Halle, aus ihrem eintönigen Alltag auszubrechen. Ihr Widerstand richtet sich nicht gegen das System, sondern gegen das Immergleiche, gegen die Stagnation. Sie kündigt unter dem berühmten Ausruf: „Macht doch Euern Dreck alleine.“ Aber den Freiraum, den sie sich erstritten hat, kann sie nicht nutzen: Denn was sie will, ist ihr eigentlich nicht ganz klar. Ihre Emanzipation besteht am Ende nicht darin, sich von der Gesellschaft frei zu machen, sondern ihre eigene Rolle darin zu finden.
Im Gegensatz zur proklamierten, vermeintlich klassenlosen Gesellschaft der DDR ist die britische Gesellschaft durch und durch eine Klassengesellschaft. Und das lebensnahe britische Kino hat diesen Antagonismus immer gespiegelt. Aber es hat auch einen sozialen Realismus hervorgebracht, der die Arbeiterklasse stets im Blick behielt: nicht nur ihre Not, sondern auch den Hedonismus der Raver, den Nihilismus der Hooligans oder die stilbildende Ska- und Skinkultur der achtziger Jahre, an die zum Beispiel Shane Meadows mit seiner schillernden Saga „This is England“ erinnert. Er zeichnet darin das Porträt einer Generation, die - im Großbritannien von Margaret Thatcher orientierungslos und mit dem Falkland-Krieg vaterlos geworden – ihren Sinn in karibischer Musik und englischem Nationalstolz sucht, aber Drogen und Gewalt findet. Maggie Thatchers Kinder sind arm, bitter und verloren, aber ungeheuer sexy.
Der alte Haudegen Ken Loach widmet der Arbeiterklasse seit 60 Jahren mal wütende, mal liebevolle Porträts. Seine ultralinken Positionen ziehen ebenso viel Kritik auf sich wie seine konventionellen Erzählstrategien, aber in seinen besten Arbeiten hat er die Tragik von Arbeitern, Jugendlichen und Migranten gezeigt, die sich einfach nicht aus ihrer Misere befreien können, sei es, weil sie vom System um ihre Chancen gebracht werden, sei es, weil sie sich selbst ihre Möglichkeit verderben.
Ken Loachs großer Counterpart war immer Mike Leigh, mit seinen 81 Jahren ebenfalls ein alter Recke. Leigh legt in seinen Filmen mit Feingefühl den Finger auf die Wunden der britischen Gesellschaft. In seinem bewegendsten Film „Lügen und Geheimnisse“ erzählt er von einer Frau fortgeschrittenen Alters, Cynthia, die ihrer nunmehr erwachsenen Tochter begegnet, die sie gut 20 Jahre zuvor zur Adoption freigegeben hatte. Cynthia ist weiß, Arbeiterin, vom Leben erschöpft und krank vor Einsamkeit. Die entfremdete Tochter Hortense ist schwarz, gebildet und schön. Die ganzen Widersprüche der britischen Gesellschaft treffen in diesem ungleichen Paar aufeinander, zu dem sich die beiden Frauen nicht aus edlen Motiven heraus zusammenschließen, sondern um der eigenen Traurigkeit zu entkommen. Cynthias Familie ist entsetzt: Die jüngere Tochter, von grober Gestalt und ebensolchem Naturell, sieht sich in ihrer Deklassiertheit offenbart; die kinderlose Schwägerin neidet Cynthia die gut geratene Tochter. Der warmherzige Bruder hat dagegen als Hochzeitsfotograf schon in ganz andere Abgründe geblickt.
Die Schauspielerin Brenda Blethyn geht sprachlich und körperlich in der Rolle der emotional bedürftigen Cynthia auf, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu schützen und ihre Würde zu bewahren: Sie kann weder ihre Gefühle verbergen noch ihre Affekte kontrollieren. Sie plappert noch, wenn andere schon vor Schmerz und Scham im Boden versinken. Sie kommt jedem zu nah, und ihre Kleidung enthüllt den unperfekten Körper, anstatt ihn zu verhüllen. Der Körper einer Arbeiterin ist vom Leben gezeichnet, nicht von den Träumen des Publikums.
In der Literatur sind die soziale Herkunft und Klassenunterschiede in den vergangenen Jahren wieder Thema geworden, das Kino trottet ein wenig unbeholfen hinterher. Mit Oscars überhäuft wurde vor drei Jahren Chloé Zhaos „Nomadland“. Der Film basiert auf einer Reportage der amerikanischen Journalistin Jessica Bruder und zeigt den Mittleren Westen der USA in seiner ganzen niederschmetternden Tristesse: Moderne Arbeitsnomaden, die von ihrer mickrigen Rente nicht leben können und ihr Zuhause aufgeben mussten, ziehen in Wohnmobilen umher, immer auf der Suche nach einem Gelegenheitsjob: Donuts verkaufen in South Dakota, Rüben ernten in Nebraska oder Kartons schleppen bei Amazon in Kansas.
Die große Frances McDormand spielt hier Fern, eine Frau um die sechzig, die vom Leben erschöpft, ihre Zelte abbricht und sich den hochmotorisierten Nomaden anschließt. McDormand ist die einzige professionelle Schauspielerin in diesem Film, alle anderen auftretenden Personen spielen sich selbst: Die blanke Not hat sie auf die Straße getrieben.
Es ist immer sympathisch, wenn sich Schauspielstars für eine gute Sache ins Zeug legen. Filmisch bleibt es eine heikle Angelegenheit. Ob sie will oder nicht, sie zieht alle Aufmerksamkeit auf sich - und weg von den Menschen, um die es dem Film eigentlich gehen soll. Ohne Stars geht es im Mainstream-Kino nicht, aber mit ihnen offenbar auch nicht immer.
Ähnlich ist es der französischen Schauspielerin Juliette Binoche ergangen. Zusammen mit dem Schriftsteller Emmanuel Carrère hat sie eine Reportage der bekannten Journalistin Florence Aubenas verfilmt. Aubenas hat sich für ihre Recherche beim Arbeitsamt im nordfranzösischen Caen unter falschem Namen gemeldet, um in den Putzkolonnen der Hafenstadt anzuheuern. Dort erlebt sie die brutale Realität des modernen Arbeitsregimes: Sie reinigen die Kanalfähren, die zwischen Ouistreham und dem englische Portsmouth verkehren, im Akkord: Vier Minuten pro Kabine gewährt ihnen das Kommando, sie fangen morgens um fünf Uhr an und schuften bis abends um elf, die Pausen dazwischen müssen sie nur unnütz vertrödeln.
Der Film hat hinreißende Momente: Zu Beginn wird die Undercover-Reporterin vom Arbeitsamt zur Schulung geschickt. Sie lernt dort aber nicht, richtig oder effizient zu putzen, sondern eine Lektion in Unterwerfung: Sie soll lernen, höflich zu grüßen, zu lächeln und sich zu bedanken, auch wenn sie unfreundlich behandelt wird: Lächeln, Guten Tag, Auf Wiedersehen, Danke.
In einer anderen Szene zeigt eine Reinigungsfrau der Reporterin, wie man auf französische Art Fenster putzt, im Gegensatz zur amerikanischen. Wie ernst und sorgsam sie dabei vorgeht, fängt die Kamera behutsam ein. Ein berührender Moment der Würde.
Aber wie Chloé Zhaos „Nomadland“ leidet auch „Ouistreham“ unter der großen Diskrepanz zwischen dem Schauspielstar in der Hauptrolle und den Laiendarstellerinnen in den Nebenrollen. Juliette Binoche bemüht sich um ein bescheidenes Auftreten, aber es hilft nicht. Sie brilliert nur um so mehr.
Ein Regisseur, der das einfache Leben stets ins Zentrum seiner Filme stellte, ist der Finne Aki Kaurismäki. Seine tragikomischen Filme wirken ein bisschen aus der Zeit gefallen in ihrer schrägen Lakonie, die das Lächerliche, das Sentimentale und das Sozialkritische so berührend verbindet wie einst Charlie Chaplin. Auch Kaurismäkis Figuren geraten immer wieder in Situationen, aus denen sie nur gedemütigt oder beschämt herauskommen, ohne jemals ihre innere Eleganz zu verlieren.
Schon 1990 erzählte der Regisseur in „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ von einer jungen Arbeiterin in Helsinki, die an der Kälte und Lieblosigkeit ihrer Umwelt verzweifelt. Und auch in seinem letzten Film „Fallende Blätter“ aus dem vorigen Jahr gewährt er seinen beiden proletarischen Figuren eine Tragik und Melancholie, wie sie lange der Aristokratie vorbehalten waren: Die einsame Ansa durchlebt stoisch die Schikanen der heutigen Arbeitswelt, der Trinker Holappa verliert immer wieder seinen Job auf der Baustelle. Wie so viele Figuren bei Kaurismäki sind auch Ansa und Holappa nahezu verstummt. Sie sehnen sich schweigend nach Liebe und schöpfen ihre Hoffnung aus dem Glauben an den anderen.
Aki Kaurismäki wirft wie nebenbei Licht auf das ausgebeutete Leben jener Menschen, deren Arbeit heute oft unsichtbar gemacht wird, an den Rand der Städte und in die Nacht gedrängt, wo ihnen die ins Kino gehende Mittelklasse kaum noch begegnet. So konsequent wie bei Kaurismäki muss der Film nicht sein, aber vielleicht sollte er Arbeiterinnen und ihr Streben nach Emanzipation nicht ebenso achtlos beiseiteschieben, wie es die Angestelltengesellschaft tut.
Das Kino ist groß, weil es uns so viele Facetten des Lebens und der Welt vor Augen führt: Junge Liebe, schöne Körper, große Schurken, mächtige Frauen, Verzweiflung und Erhabenheit, Rebellisches und Poetisches, Epos und Experiment. Da wird schon ein bisschen intelligente Solidarität ihren Ort finden - oder vielleicht sogar der Rausch einer gemeinsamen Welt, in der auch Dienstmädchen, Reispflückerinnen, Putzfrauen und Fabrikarbeiterinnen ihr Publikum zum Träumen bringen. Und wer weiß, vielleicht erzählt demnächst ein Film sogar die Geschichte einer chinesischen Arbeiterin, die für den US-amerikanischen Mattel-Konzern unter miserablen Bedingungen Barbie‑Puppen herstellt.