Digitale Readymades
Wie der Computer sein Wesen als Verwandlungsmaschine offenbart

Sie sind die Baupläne des Lebens, die DNA-Moleküle. Mittlerweile lassen sich beliebige Daten – wie etwa das Grundgesetz – auf synthetisch hergestellter DNA speichern. Was hier geschieht, führt uns tief hinein in das Wesen des Computers.

Von Roberto Simanowski |
Digital erstelltes Bild von DNA-Strängen und Data Processing.
Die Transformation von Daten aus einem Zustand in einen anderen gehört zur DNA des Computers (IMAGO / VectorFusionArt / IMAGO)
Dass DNA-Moleküle ein sehr wirkungsvolles und langlebiges Speichermedium sind, hat die Natur über Jahrmillionen bewiesen. Aber werden wir bald unsere Texte, Fotos und Filme auf künstlicher DNA speichern? Und verschränken sich damit Technik und Leben immer mehr?
Speichern heißt immer auch, Daten von einem Träger auf einen anderen zu transformieren. Schon jetzt kann Tinte aus dem Grundgesetz bestehen, kann ein Bibelspruch in Bakterien „leben“ oder passt das Gesamtwerk von Shakespeare in ein pointillistisches Bild. Diese Transformation von Daten aus einem Zustand in einen anderen gehört zur DNA des Computers. Und schafft trotzdem faszinierende Gegenstände.
Roberto Simanowski, geboren 1963, lebt nach Professuren für Kultur- und Medienwissenschaft in den USA, der Schweiz und Hongkong als Publizist in Berlin und Rio de Janeiro. Zu Simanowskis Büchern gehören "Data Love" (2014/engl. 2018), "Facebook-Gesellschaft" (2016/engl. 2018) und "Abfall", "Das alternative ABC der neuen Medien" (2017, engl. 2018). Sein Buch "Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz" erhielt den Tractatus-Preis für philosophische Essayistik 2020.

Am 24. Mai 2024 erhielt, so berichtete die Süddeutsche Zeitung, die damalige rheinland‑pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer auf dem Demokratiefest in Berlin zum 75. Jahrestag des Deutschen Grundgesetzes als Geschenk einen Füllfederhalter. Ein Füllfederhalter ist eigentlich noch keine Meldung wert. Wohl aber die Tinte, die er enthielt. Es war das Grundgesetz.
Doch, die Tinte bestand aus dem Grundgesetz! Mitarbeiter der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und der Technischen Universität München hatten das Grundgesetz in Tinte verwandelt. Dazu muss man nur den Text als Binärcode speichern, also als Code, der Information durch die Sequenzierung von zwei verschiedenen Symbolen darstellt. So wie das Morsealphabet, das aus Punkten und Strichen besteht, oder eben der Computercode, der aus Nullen und Einsen besteht. Diese Symbolfolge wird dann in einem biotechnologischen Labor in die DNA‑Codierung ATCG übersetzt, also in eine Folge der Basen Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin, aus denen unser genetisches Material besteht.
Aber lassen wir die technischen Details, entscheidend ist, dass die entstandene DNA-Kette der Tinte beigemischt wurde, die der Füllfederhalter enthielt, den die Ministerpräsidentin zum Geburtstag des Grundgesetzes geschenkt bekam. Es war ein Geschenk der gemeinnützigen Projektgruppe DNA of Democracy von Medienschaffenden, Künstlern und Wissenschaftlern. Der Sinn des Ganzen: Die Tinte sollte mit jedem Strich an die Bedeutung der Demokratie erinnern. Wer mit dieser Tinte schreibt und signiert, tut dies nicht nur im eigenen Namen, sondern immer auch im Namen des Grundgesetzes.
Das erinnert sehr ans Blut, mit dem früher wichtige Verträge unterschrieben wurden; dieser „ganz besondere Saft“, wie es in Goethes Faust heißt, dessen Titelheld sich mit dem eigenen Blut dem Teufel verschreibt. Wird mit Blut unterschrieben, bürgt der Unterschreibende nicht nur mit seinem Namen als dem symbolischen Identifikationsmittel seiner Person, sondern mit einem biologischen Teil dieser Person. Das ist die mittelalterliche Methode: Haut aufritzen, Blutstropfen herausdrücken, Feder eintunken. Heute unterschreibt man ganz ohne Körperverletzung, mit der DNA, nicht der eigenen Person, aber dessen, was einem heilig ist. Der Effekt ist vergleichbar: Das Material, mit dem etwas bezeugt wird, ist selbst Zeugnis von etwas. Es repräsentiert nicht nur etwas auf der Bezeichnungsebene, es präsentiert auf der Materialebene.
Das macht die Tinte in Malu Dreyers Füllfederhalter gewissermaßen heilig und führt sogleich zur Frage der Gotteslästerung: Wenn sich in dieser Tinte die demokratische Grundlage unserer Gesellschaft entäußert, was passiert dann, wenn man mit ihr banale Dinge schreibt? Eine Einkaufsliste etwa. Und was ist mit dem Ermächtigungsgesetz eines Diktators? Ist das demokratisch abgesichert, wenn es mit der Grundgesetztinte unterschrieben wird? Oder piept der Stift, wenn er das Falsche schreibt, so wie ein Auto piept, wenn es rückwärtsfährt? Man sieht: Die symbolische Aufladung des Geschriebenen durch den besonderen Saft der Schrift führt sehr schnell zu sehr seltsamen Gedanken und Fragen.
Aber lassen wir die Spitzfindigkeiten einmal beiseite. Halten wir fest, dass es der Projektgruppe DNA of Democracy darum geht, dem Grundgesetz in seinem 76. Jahr konkret Leben einzuhauchen.
Festzuhalten ist auch, dass die Menschen hinter der Projektgruppe DNA of Democracy keineswegs die ersten sind, die auf die Idee kommen, DNA als symbolträchtiges Schreibmaterial zu nutzen. Schon gar nicht kam das Verfahren zuerst an einem politischen Glaubensbekenntnis zum Einsatz. Im Gegenteil: Am Anfang stand die Anrufung nicht der Demokratie, sondern der Engel. Schauen wir uns die Sache einmal genauer an.
Hier ist die Frage, mit der alles begann: Wie bringt man 200 Millionen Milliarden Engel auf einen Stecknadelkopf? Also 2,417 Quintillionen Engel, für diejenigen, die wissen, was eine Quintillion ist. Ganz einfach, sagte sich der amerikanische Wissenschaftskünstler Joe Davis: Man nimmt den arabischen Spruch „Subhan Allah“ (سبحان الله), was soviel wie „hallelujah“ heißt, also „gepriesen sei Gott“. Dieser Spruch wird im arabischen Kulturkreis seit mehr als 1.000 Jahren als Anrufung zur Erschaffung von Engeln wiederholt. Wann immer man „Subhan Allah“ sagt oder schreibt oder anderweitig reproduziert, wird ein Engel geschaffen. Soweit die magische Seite der Geschichte.
Man nimmt also den Spruch „Subhan Allah“, transformiert ihn in Morsezeichen und übersetzt diese in eine DNA-Sequenz, die 200 Millionen Milliarden Mal kopiert wird und damit noch immer klein genug ist, um auf einem Stecknadelkopf Platz zu finden. Das ist die wissenschaftliche Seite.
Am Ende gibt es über 2,4 Quintillionen Engel mehr. Jedenfalls wenn es stimmt, dass die Wiederholung des Spruchs „Subhan Allah“ jeweils einen Engel erschafft, was empirisch natürlich nicht nachgewiesen werden kann, zumal es sich bei Engeln, so der letzte Stand der Engelforschung, um immaterielle Wesen handelt, was das Zählen etwas komplizierter macht. Ob der Künstler, der kein Muslim ist, selbst an die astronomische Engelsvermehrung glaubt, bleibe dahingestellt. Jedenfalls sagt er über sein Werk, er habe damit die gesamte Demografie des Himmels verändert.
Wer so viele Engel generiert, kann natürlich auch einige verschenken. Oder verkaufen, wie Davis dies tut mit einem Automaten in der Ausstellung, wie man sie von Bahnhöfen kennt. Nur gibt dieser Automat eben keine Schokoladenriegel oder Erdnusstüten aus, sondern Tüten, in denen sich eine Stecknadel befindet, auf der, so die Produktbeschreibung, einige Millionen Engel hocken. Das Ganze für nur 25 Dollar, womit ein Engel lediglich den Bruchteil eines Pennys kostet. Wenn das mal kein Schnäppchen ist!
Das mag geschmacklos oder habgierig anmuten; aber nur, wenn man die Ironie verkennt, ohne die ein Projekt wie dieses nicht auskommt. Denn natürlich ist Davis nicht der erste, der die Frage stellt, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen. Im Gegenteil, es handelt sich um ein altes Scholastikerproblem, das im Mittelalter die Gemüter der Gelehrten erhitzte. Was damals niemand wissen konnte: wie leicht sich Engel auf so wenig Raum platzieren lassen, wenn man bereit ist, den Umweg über eine andere Religion zu nehmen – und eben das nötige wissenschaftliche Werkzeug zur Hand hat.
Joe Davis jedenfalls ist nicht bekannt als ein gottesfürchtiger Künstler. Er hat sich seinen Namen nicht als Engelsanbeter gemacht, sondern als Pionier der BioArt, einer Kunstbewegung, die sich auf die Verbindung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Bio- und Gentechnologie konzentriert. So erregte Davis bereits in den 1980er Jahren Aufmerksamkeit, als er mit seinem Kunstwerk „Microvenus“ die germanische Rune für die weibliche Göttin der Erde und des Lebens – eine ikonische Darstellung des weiblichen Genitals – in einen Binärcode überführte und diesen in das Genom von E.coli-Bakterien injizierte.
Seitdem haben viele mit DNA-Codierung und E.coli-Bakterien experimentiert. Der brasilianische Künstler Eduardo Kac bediente sich dafür nicht des muslimischen, sondern des christlichen Glaubens, nämlich des Spruchs in Genesis 1,28, wo Gott den Menschen zur Herrschaft auf Erden ermächtigt: „füllet die Erde und machet sie euch untertan; und herrschet über die Fische des Meeres und über das Geflügel des Himmels und über alles Getier, das sich auf der Erde regt!“. Kac übersetzte 1998 in seinem Werk Genesis diesen Spruch in Morsecode, dessen Zeichen er wiederum in die Anfangsbuchstaben der vier Basen des genetischen Codes transformierte.
Wichtig ist, was der Künstler mit seiner genetischen Umwandlung des Bibelspruchs macht. Kac verband sie mit einem fluoreszierenden Protein, das er E.coli-Bakterien eingab, und er brachte das Publikum ins Spiel. Denn die Bakterien befanden sich in einer Ausstellung auf einer Petrischale unter ultraviolettem Licht, das von den Besuchern vor Ort und den Besuchern einer angeschlossenen Webseite eingeschaltet werden konnte und die Mutation der DNA‑Sequenz der Bakterien bewirkte.
Da das Licht einen interessanten Effekt ergab, klickten fast alle ohne Zögern und Rücksicht auf den Schalter – und übten damit genau jene Macht über die Bakterien aus, die der Bibelspruch ihnen über alle anderen Lebewesen erteilt hatte. Da dies die Mutation der DNA-Sequenz beförderte, war der Bibelspruch allerdings, als Kac die DNA-Sequenz nach einer gewissen Zeit zurückübersetzte, unlesbar geworden, worin die Ironie dieser biogenetischen Transformation liegt: Durch die Ausübung seiner Macht über die Erde zerstört der Mensch zugleich die Grundlage dieser Macht, den Spruch aus Genesis 1,28, der diese Macht autorisiert.
Die beschriebenen Transformationsspiele zeigen: Das Biomolekül DNA ist Speichermedium nicht nur für die biologischen Informationen des menschlichen Organismus, die dieser an seine Nachkommen weitergibt. Die DNA kann auch als Archiv für die kulturellen Informationen dienen, die der Mensch im Verlauf seiner Geschichte produziert hat und der nächsten Generation übermitteln will.
Die DNA erweist sich gewissermaßen als Doppelarchiv, das Natur und Kultur mittels Technik zusammenbringt. Ein äußerst platzsparendes Archiv, wie die Millionen Engel auf der Stecknadel bezeugen. Kein Wunder also, dass nicht wenige darin inzwischen das Archiv der Zukunft sehen, einer Zukunft, in der an jedem Tag mindestens doppelt so viele Informationen produziert werden wie am Vortag.
Dabei sind auch die digitalen Medien schon recht platzsparend. So lässt sich zum Beispiel das gesamte Werk von Shakespeare in ein einziges Bild komprimieren. Man muss nur jeden Buchstaben in einen farbigen Pixel umwandeln und diese Pixel eng nebeneinander anordnen. Der US-amerikanische Künstler Caleb Larsen unternahm genau dies im Jahr 2007, wobei er den Buchstaben sinnvollerweise jeweils eine Farbe zuordnete, die mit diesem Buchstaben begann: R wurde so zu einem roten Pixel für red, B zu einem blauen Pixel für blue, G wurde grün für green und Y gelb für yellow.
Dieses rund 100x400 cm große Bild aus lauter Pixeln ist nicht nur in archivalischer Hinsicht interessant, es ist auch aus kunstgeschichtlicher und medientheoretischer Perspektive hoch spannend. Denn es wirkt zunächst wie ein verspätetes Exemplar eines abstrakten pointillistischen Gemäldes, das Farbe und Form von jeglicher Bezeichnungspflicht befreit hin zur reinen Materialität ihrer selbst. So wie die Farbtropfen in einem Jackson Pollock-Gemälde. In Wahrheit aber liegt sogar eine doppelte Bezeichnung vor: Die Pixel verweisen auf Buchstaben und die Buchstaben verweisen, in ihrer Komposition zu Wörtern, auf die Gedankenwelt des William Shakespeare.
Und wer sein Alphabet der Farben auswendig lernt, kann dieses Pixel-Bild sogar lesen wie ein Buch, von links nach rechts, von oben nach unten.
Das Geheimnisvolle, das sich bei all diesen Verwandlungsgeschichten zeigt, ist die Transformation, die Verwandlung selbst, nicht im Sinne des Zaubers, sondern im Sinne der Umwandlung. Denn die Verwandlung von Zeichen in einen anderen Aggregatzustand – sei es als DNA-Kette oder als Pixel-Bild – gehört zur DNA des Computers selbst, das ist um bei Goethes Faust zu bleiben, des Pudels Kern. Denn ganz gleich, welche Gestalt die Zeichen auf dem Bildschirm haben, sei es Text, Sound, Farbe oder Form: Auf der tiefsten Operationsebene handelt es sich immer um einen Binärcode aus 0 und 1. Einmal digitalisiert verlieren hinter dem Bildschirm alle Phänomene ihren Körper und leben als Nullen und Einsen.
Zur DNA des Computers gehört auch, dass er nahtlos und verlustfrei Informationen aus einem Kontext in einen anderen übertragen kann. Dieses Transformationsgesetz erzeugte in den 2000er Jahren sogar eine eigene Kunstgattung: Mapping Art, die darin besteht, Daten im Internet zu erfassen – „to map“ wie es im Englischen heißt – und in eine beliebige andere Gestalt umzuwandeln.
Ein berühmtes Beispiel dafür ist die US-amerikanische Künstlerin Laurie Frick, die ihren Schlaf aufzeichnet, mit einem handelsüblichen Schlaf-Tracker, der festhält, wann sie sich im Tiefschlaf befindet, wann im Leichtschlaf, wann im REM-Schlaf der Traumphase und wann sie aufwacht, ohne es zu merken. Diese Daten übersetzt Frick erst in Farbsequenzen auf einem Zeitstrahl, dann in Holz: Die violetten Phasen des Tiefschlafs ergeben ein hohes violettes Holzstück, der grüne Leichtschlaf ein mittelhohes grünes Holzstück und die Wachphasen ein flaches orangefarbenen Stück Holz. Diese Holzstücke verschiedener Stärke und Farbe setzt Frick schließlich in 21 Reihen zu einem 100x120 Zentimeter großen Reliefbild zusammen.
In anderen Versionen visualisiert Frick die Tätigkeiten eines Tages: die Phasen des Schlafens, Essens, Lesens, Telefonierens, Arbeitens, Denkens und so weiter. Sie alle erhalten ihre jeweilige Form und Farbe, was wiederum ein großes, recht dekoratives Reliefbild ergibt. Ginge es nach Frick, würden bald alle Menschen ihre Wände mit solchen Relief-Bildern füllen. Bilder, in denen sich ihre Tätigkeiten, Stimmungen und Biofunktionen äußern. Eine andere Art des menschlichen „Fingerabdrucks“, wie Frick sagt, oder Data-Selfies, die sich von selbst erzeugen, denn die Daten werden größtenteils automatisch digital erfasst und könnten mit 3D‑Druckern auch mehr oder weniger automatisch in physisches Material umgewandelt werden.
Für Frick zeigen diese Daten-Selfies, wer wir eigentlich sind. Aber bin ich wirklich nicht mehr als mein Schlafrhythmus und mein Tagesablauf? Wäre das nicht ein ziemlich reduktionistisches Verfahren, wenn mein Selbst auf die Daten reduziert werden würde, die ich bewusst oder unbewusst produziere? Nicht für überzeugte Self-Tracker, nicht für Anhänger der Quantified‑Self-Bewegung, deren Losung ja lautet: Self-Knowledge through Numbers - Selbsterkenntnis durch Zahlen.
Alle anderen werden hier wohl nur eine sehr äußerliche, rein technische Art der Selbsterkenntnis sehen, bei der man nicht mehr in sich geht, um zu sich selbst zu kommen, sondern nur noch die Daten seines Daseins aufzeichnet. Das Kunstwerk, das daraus entsteht, könnte minimalistisch genannt werden, nicht im Hinblick auf die dargebotene Informationsmenge, wohl aber, was die künstlerische Aufbereitung dieser Informationen betrifft, die sich in der Transkription technischer Daten in eine visuell ansprechende Form erschöpft. Kunst basiert hier wieder ganz auf Können: auf der Fähigkeit, die Daten aus dem einen Zustand - als Zahlen - in einen anderen Zustand zu transformieren, in den Zustand eines ausstellungsfähigen Holz-Reliefs.
Aber wer weiß, vielleicht bewertet man die Idee hinter dieser technischen Transformation einmal als ebenso kunstwürdig wie einst Marcel Duchamps Idee, Gegenstände aus dem Alltag ins Museum zu tragen und zu Kunst zu erklären: eine Schaufel, ein Urinal, einen Flaschentrockner. Duchamp hatte damit eine neue Kunstform kreiert: das Readymade – denn die Gegenstände, die er ausstellte, hatte er nicht selbst gebaut, sie waren schon fertig, durch andere für andere Zwecke.
So könnte man auch auf Laurie Fricks Daten-Selfies schauen: Sie transformiert Daten aus dem Kontext ihres Lebens in den Kontext der Kunst. Und produziert damit abstrakte Gebilde, die ein authentisches Paradox darstellen: Paradox, weil sie zwar abstrakt wirken, im Grunde aber sehr informativ sind, denn sie bilden sehr genau menschliche Realität in der Zeit ab. Authentisch, weil sie diese Realität objektiv und unverfälscht ausdrücken, denn es ist nicht, wie etwa beim klassischen Selbstportrait, die Künstlerin, die sagt, wer sie ist, es sind die Daten, die ihr Leben produziert. Was dabei herauskommt, ist in medienphilosophischer Hinsicht eine Fotografie ohne Foto und in ästhetischer Hinsicht die Verbindung von Kunst und Leben.
Stellen wir uns ein Mapping nicht unseres Schlafs, sondern unserer Gedanken vor, also der Informationen, die wir nicht im Schlaf produzieren, sondern mit hellem Bewusstsein in einer konkreten Kommunikationssituation äußern: in unseren Briefen und E-Mails, in unseren Tagebüchern und Textnachrichten, in unseren Publikationen on- oder offline. Wenn man all die Wörter, die dabei zusammenkommen, erfassen würde, würde das nicht viel mehr als mein Schlafmuster etwas darüber aussagen, wer ich eigentlich bin?
Genau das muss sich der US-amerikanische Künstler Chris Mendoza gedacht haben, als er sein Werk Every Word I Saved konzipierte. Dieses Werk verzeichnet jedes Wort, das Mendoza zwischen 2000 und 2006 auf seinem Computer tippte - und zwar in alphabetischer Anordnung: erst alle Wörter, die mit A beginnen, und zwar so oft, wie das jeweilige Wort in Mendozas Computer vorkommt, dann die mit B, dann die mit C und so weiter. Das Ergebnis ist ein Video, das mehrfach das Wort „abstraction“ auflistet, danach, viel öfter, das Wort „all“ und später, viel weniger, das Wort „asshole“. Wörter, die viel benutzt wurden, stehen still in diesem Video, jedenfalls ist das der Eindruck, wenn hunderte von Bildern mit der exakt gleichen Wortanordnung ablaufen. Wörter, die wenig benutzt wurden, treten entsprechend kurz auf.
Sehr ernst kann der Künstler diese Variante der Selbsterkenntnis durch Zahlen – die Anzahl der benutzten Wörter – nicht gemeint haben. Was sagen schon Wörter aus, die aus ihrem Bedeutungszusammenhang gerissen sind! Gewiss, man sieht, welche Wörter Mendoza wie oft benutzt hat, und da besagt es schon etwas, dass „nice“ für „nett“ und „schön“ in seinem Sprachschatz viel öfter erscheint als „bad“ für „schlecht“ und „böse“. Aber man wird den Verdacht nicht los, dass sich dieses Beispiel des Mappings eher lustig macht über das Konzept der Mapping Art - und genau darin läge der künstlerische Anspruch des Werks, das dann nicht mehr lediglich eine visuell interessante Transformation langweiliger Daten darstellt, sondern einen subjektiven Kommentar zu dieser Form der Transformation.
Anders verhält es sich mit dem Mapping der Wörter, die im Kontext der künstlichen Intelligenz und ihrer Sprachmodelle wie ChatGPT oder Gemini erfolgt. Hier wird nicht nur festgehalten, wie oft ein Wort in den Trainingsdaten der KI benutzt wird, sondern in welchen Konstellationen dies geschieht. Formen sich Wörter zu einer bestimmten Reihenfolge, verlieren sie ihre Unschuld; sie formulieren dann Gedanken. Diese Reihenfolgen, diese Gedanken hält der Vektor-Raum der Sprachmodelle fest. Er weiß, wie oft welche Wörter in welcher Konstellation in den Trainingsdaten auftreten und weiß also auch, wie der Satz „Sie ging nicht nach rechts, sondern …“ mit großer Wahrscheinlichkeit endet.
Das Mapping, das in die Sprachmodelle eingeht, verlässt die Ebene der bloßen Analyse. Denn die Sprachmodelle sind durch die vermessenen Wortkonstellationen in der Lage, selbst Wortkonstellationen zu produzieren, also Gedanken, obwohl ein Sprachmodell natürlich gar nicht denken kann, sondern nur rechnet, wenn es spricht. Und da die Rede des Sprachmodells so sehr von den statistischen Relationen der Wörter abhängt, liegt hier eine Art mathematisches Sprechen vor. Diese Statistik geht in die „Tinte“ des Sprachmodells ein, weshalb dessen Texte auch zumeist sehr konventionell sind; nicht falsch, aber eben auch nicht besonders. Der Durchschnitt und damit die Durchschnittlichkeit ist, um es mit der Metapher vom Anfang zu sagen, die DNA der Sprachmaschine.
KI-Anwendungen wie GPT und Gemini generieren nicht nur Texte, sondern auch Bilder. Und auch in diesem Fall basieren die Ergebnisse auf statistischen Relationen. Allerdings nicht allein der Bilder, sondern der Bild-Text-Konstellationen. Die Vorstellung eines Bildgenerators von einer Katze oder einem Pferd ist wesentlich davon bestimmt, welche Bilder von Katzen und Pferden der Generator gesehen und erfasst hat. Dabei sind die sprachlichen Zuordnungen entscheidend. Welches visuelle Gebilde wird mit welchem Wort versehen. Sähe eine KI tausende von Katzenbildern, die aus Schabernack den Titel „Pferd“ tragen, die Katze, die diese KI generiert, würde auf kein Sofa passen.
Und das Pferd, das die KI generiert, sieht ohne jeden Schabernack aus wie ein Durchschnittspferd, errechnet aus all den Pferdebildern, die der KI zur Verfügung standen. Und da es nur wenige Bilder von Pferden mit Gasmaske gibt, trägt im berühmten KI-Bild eines „Astronauten, der ein Pferd reitet“, zwar der Astronaut einen Raumanzug, nicht aber das Pferd. Das kommt davon, wenn man nicht denkt beim Bildermachen, sondern rechnet, sich also an der Mehrzahl der vorhandenen Pferdebilder orientiert, statt logisch von Weltall auf Sauerstoffmangel zu schließen und von da auf Raumanzug auch für das Tier.
Die Generation von Bildern durch eine KI ist im vorliegenden Kontext der medialen Transformation natürlich hoch spannend. Denn was bedeutet es, wenn man mit Worten ein Bild bestellt?! Wenn man den Prompt eingibt: „Zeige eine schöne Landschaft“ oder: „Zeige eine schöne Frau“. Normalerweise unterscheiden sich Sprache und Bild ja genau darin, dass man im ersten Fall sagen kann: „dies ist eine schöne Landschaft“, im zweiten Fall aber nur eine Landschaft zeigen kann, die der Betrachter möglicherweise als „schön“ empfindet, vielleicht aber auch als „banal“ oder „kitschig“. Erst recht liegt die Schönheit im Auge des Betrachters, wenn es um Frauen geht oder Männer.
Der Bildgenerator vermischt nun beide Darstellungsformen. Er entscheidet für uns alle, wie das Wort „schön“ bei einer Landschaft oder einem Menschen zu verstehen ist. Oder das Wort „klug“, wenn es um das Bild einer klugen Frau geht, das dann übrigens wenig überraschend eine Frau mit Brille und Buch zeigt. Der Bildgenerator übersetzt problemlos sprachliche Zeichen in visuelle und wechselt so permanent vom Abstrakten eines vielschichtigen Wortes wie „schön“ oder „klug“ zum Konkreten seiner visuellen Darstellung.
Und er tut dies selbst dann, wenn die Konstellation der Wörter gar keinen Sinn ergibt. Oder wissen Sie, was ein „Shrimp Jesus“ ist? Der Bildgenerator hat da durchaus seine Vorstellungen und erzeugt, um eine realistische Darstellung von Jesus als Garnele gebeten, anstandslos einen Jesus mit Krabbenkörper und vielen dünnen Krabbengliedmaßen. Ein sehr verwirrendes Bild und für manchen gewiss auch eine Gotteslästerung. Ein Bild jedenfalls, das im Frühjahr 2024 als Internet-Meme Furore machte und zugleich eine Vorstellung davon gibt, wie die Zukunft des Internets aussieht.
Eines jedenfalls kann sich auch die KI nicht vorstellen: Dass Millionen Engel auf eine Stecknadel passen. Bittet man GPT-4o um einen Engel auf einer Stecknadel, bekommt man das Bild eines vergoldeten Engels auf dem Kopf einer Stecknadel. Bittet man um zehn Engel auf einer Stecknadel, zeigt das Bild zehnmal einen Engel auf einem Stecknadelkopf. Bittet man um 100 Engel, erhält man kein Bild, sondern die Nachricht: „Es scheint ein Problem bei der Erstellung des Bildes von 100 Engeln auf einer Nadel zu geben.“
Dieses Versagen des Bildgenerators ist verständlich, denn wie wir wissen, passen so viele Engel nur als DNA-Spur auf eine Stecknadel. Wir müssten GPT-4o also darum bitten, den arabischen Engelsspruch „Subhan Allah“ in eine DNA-Kette zu verwandeln. Damit wiederum hat die KI kein Problem. Dazu verwenden wir, so ihre Auskunft, für jeden Buchstaben eine spezifische Kombination der Anfangsbuchstaben der vier DNA-Basen Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin. Das ergibt für die 12 Position des Engelspruchs dann folgende Buchstabenreihe: TCG AGT CGT ATC GCT TAG TTT GCT GAC GAC GCT ATC. Na also, geht doch! Und was der KI mit Engeln gelingt, klappt natürlich auch mit dem Grundgesetz.
Problematisch wird erst der nächste Schritt, wenn man der KI sagt: „Verwandle diese DNA-Kette in Tinte“. Das Ergebnis ist das Bild eines Tintenfasses, aus dem Tinte in der Form einer DNA-Doppelhelix aufsteigt, umrankt von Buchstabenfolgen wie GGA, CCT oder CHA.
Nein, die KI kann noch keine immateriellen Zeichen in richtige Tinte verwandeln. Aber auch das wird noch. Denn wenn sich Zeichen in dreidimensionaler Form ausdrucken lassen, sollte es doch bald auch möglich sein, Tinte mit einer bestimmten DNA-Kette auszudrucken, die sich dann in einen Füllfederhalter füllen lässt. Ob diese Tinte das Grundgesetz enthält oder eher eine Engelsanbetung, das ist dann keine technische Frage mehr, sondern eine politische, die freilich geklärt sein sollte, bevor die Technik so weit ist.