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Wie der Kapitalismus die Demokratie zerstört

Nach wie vor wird um den Euro heftig diskutiert, meist aber nur darüber, wie man ihn retten kann. Der Soziologe Wolfgang Streeck, Geschäftsführender Direktor am Max-Planck-Institut in Köln, will den Euro hingegen abschaffen. In seinem neuesten Buch liefert er dazu eine ausführliche Begründung.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 17.07.2013
    John Locke, der Begründer des Liberalismus, verteidigte im 17. Jahrhundert das private Eigentum gegen staatliche Eingriffe, also gegen die Erhebung von Steuern im Zeitalter des Absolutismus, der die ökonomischen Aktivitäten der Bürger durch zu hohe Besteuerung und Regulierung beeinträchtigte. Für Wolfgang Streeck haben sich die Verhältnisse durch den Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte umgekehrt. Er schreibt in seinem neuesten Buch "Gekaufte Zeit":

    "Ich sehe in der staatlichen Finanzkrise der Gegenwart die zeitgemäße Ausformung eines schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts diagnostizierten Funktionsproblems des modernen Staates, das darin besteht, dass dessen Fähigkeit, einer Gesellschaft von Privateigentümern die Mittel abzuringen, die er zur Erfüllung seiner - wachsenden - Aufgaben benötigt, tendenziell hinter dem Notwendigen zurückbleibt."

    Thatcher und Reagan setzen auf Neoliberalismus
    Der Neoliberalismus, der seit Mitte der 1970er Jahre Fahrt aufnimmt und sich mit den Regierungen unter Lady Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA in den achtziger Jahren massiv durchsetzte, macht für Staatsverschuldung indes nicht nur geringe Einnahmen des Staates, sondern zu hohe Ausgaben verantwortlich. Schuld daran trage die Demokratie, in der Parteien ihre Wähler mit Wahlgeschenken befriedigen müssen. Dem widerspricht Wolfgang Streeck:

    Vielmehr "fällt es schwer, in der seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gewachsenen Verschuldung der westlichen Demokratien ein Ergebnis demokratischen Drucks auf Parteien und Regierungen zu erkennen. Tatsächlich erweisen sich Auf-, Ab- und Wiederaufbau der öffentlichen Verschuldung als eng mit dem Sieg des Neoliberalismus über den Nachkriegskapitalismus verknüpft, der mit einer politischen Entmachtung der Massendemokratie einherging."

    Vor allem in den USA wurden massiv die Steuern für die Reichen gesenkt, was zu einer immensen Staatsverschuldung führte, die erst die Regierung Clinton in den neunziger Jahren zu bremsen vermochte. Weltweit aber stieg der Druck auf die demokratischen Wohlfahrtstaaten, ihre Programme sozialer Gerechtigkeit einzuschränken und sich stattdessen der liberalen Marktgerechtigkeit anzupassen, also Kontrollen und Beschränkungen des Kapitalverkehrs und des Wirtschaftshandelns weitgehend aufzugeben. Denn, so konstatiert Streeck:

    "Mit einem demokratischen Staat dagegen ist der Neoliberalismus unvereinbar, sofern unter Demokratie ein Regime verstanden wird, das im Namen seiner Bürger mit öffentlicher Gewalt in die sich aus dem Marktgeschehen ergebende Verteilung wirtschaftlicher Güter eingreift."

    Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter
    Denn nach Friedrich von Hayek, dem geistigen Vater des Neoliberalismus ist die Marktgerechtigkeit vor Störungen durch soziale Gerechtigkeit, also vor der Demokratie zu schützen. Diese Logik führte zur sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich. Seit den achtziger Jahren gibt es für die US-Arbeitnehmer keine Vermögenszuwächse mehr gemessen an der Produktivität. Zwischen 1983-2009 wuchs das Vermögen der reichsten fünf Prozent um 81 Prozent, während die unteren 60 Prozent sogar Vermögenseinbußen von 7,5 Prozent hinnehmen mussten. In dieser Hinsicht sprechen die Fakten eindeutig für Streecks Analysen. Die letzten Finanzmarkt-, Euro- und Staatsschuldenkrisen bekräftigen noch eine andere Perspektive, wie Wolfgang Streeck bemerkt:

    "Dabei sollen die Staaten des fortgeschrittenen Kapitalismus so umgebaut werden, dass sie das Vertrauen der Kapitaleigner und Kapitalbeweger dauerhaft verdienen, indem sie durch in ihnen institutionell fest verdrahtete Politikprogramme glaubhaft garantieren, dass sie nicht in 'die Wirtschaft' intervenieren werden."

    Der Neoliberalismus wollte die Staatstätigkeit zurückschneiden. Realisieren konnte er sich erst mit der Globalisierung und der Euro-Einführung, der die europäischen Institutionen gegenüber den nationalen Demokratien stärkte: Der europäische Fiskalpakt bindet die Staaten langfristig an die neoliberale Marktgerechtigkeit und entzieht damit den Staatsvölkern ihre demokratischen Rechte. Die Finanzminister tauschen sich gerne mit den Topmanagern jener Fonds aus, die primär Staatsanleihen kaufen. Die Parlamente können deren Entscheidungen nur noch absegnen. Die Macht in Europa besitzt letztlich der EZB-Chef Mario Draghi, der vormals Vizepräsident von Goldman Sachs war. In Italien und Griechenland wurden ehemalige EZB-Topbanker als Regierungschefs installiert: Mario Monti und Lukas Papadimos. Daher fordert Streeck denn auch konsequent die Abschaffung des Euro:

    "Die Forderung nach einem Rückbau der Währungsunion als eines gesellschaftlich rücksichtslosen technokratischen Modernisierungsprojekts unterscheidet sich fundamental von nationalistischen Forderungen nach einem Ausschluss von Schuldnerländern aus dem Euroland; Ziel ist nicht die Bestrafung, sondern die Befreiung und Rehabilitierung von Ländern."

    Streeck fordert ein europäisches Bretton Woods
    Die schwachen Länder brauchen wieder die Möglichkeit der Abwertung ihrer Währung, um ökonomischen Ungleichgewichten zu begegnen. Daher fordert Streeck ein neues europäisches Bretton Woods, also eine neue Währungsschlange mit bestimmten Relationen zwischen den einzelnen Währungen, die sich dann auch verändern lassen. Streeck:

    "Der Vorschlag eines europäischen Bretton Woods kann auf der Ebene des öffentlichen politischen Diskurses den zu erhoffenden Widerstand 'der Straße' gegen das markttechnokratische Durchregieren der Eurofanatiker und die endgültige Institutionalisierung des Konsolidierungsstaates ergänzen."

    Streeck ist nicht sehr optimistisch. Momentan funktioniert noch das Bündnis zwischen der nordeuropäischen, speziell deutschen Exportindustrie und den Mittelschichten der Mittelmeerländer, die ihre Luxusautos möglichst billig erstehen wollen und dafür die Renten und Löhne der Armen kürzen lassen. Daher setzt er auch auf den Widerstand auf der Straße protestierender Bürger. Außerdem schlägt er vor:

    "Wenn konstruktive Opposition unmöglich ist, bleibt für diejenigen, die sich nicht damit begnügen wollen, auf Lebenszeit Schulden abzuzahlen, die andere für sie aufgenommen haben, nur destruktive Opposition. Sie ist nötig, um die retardierende Wirkung der Restdemokratie in den Nationalstaaten zu verstärken. Wenn demokratisch organisierte Staatsvölker sich nur noch dadurch verantwortlich verhalten können, dass sie von ihrer nationalen Souveränität keinen Gebrauch mehr machen und sich für Generationen darauf beschränken, ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Kreditgebern zu sichern, könnte es verantwortlicher erscheinen, es auch einmal mit unverantwortlichem Verhalten zu versuchen. Wenn Vernunft heißt vorauszusetzen, dass die Forderung der 'Märkte' an die Gesellschaft erfüllt werden müssen, und zwar auf Kosten ebenjener Mehrheit der Gesellschaft, der nach Jahrzehnten neoliberaler Marktexpansion nichts bleibt als Verluste, dann könnte in der Tat das Unvernünftige das einzig Vernünftige sein."

    Streeck weiß, dass eine Demokratie ohne Kapitalismus ziemlich unwahrscheinlich erscheint. Mit nationalen sozialen Marktwirtschaften im Rahmen Europas wäre die Demokratie wieder etwas gerettet. Dass das an Ludwig Erhard erinnert, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.


    Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp, Berlin 2013, 271 Seiten, 24,95 Euro


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