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"Wie eine offene Wunde"

Nach den Anschlägen herrsche in Norwegen Trauer und Verzweiflung, sagt Merete Kristin Wilhelmsen, Gesandte und Leiterin der politischen Abteilung der norwegischen Botschaft in Berlin. Am Kampf für Offenheit in der norwegischen Gesellschaft dürfe das Geschehene nichts ändern.

Merete Kristin Wilhelmsen im Gespräch mit Silvia Engels |
    Silvia Engels: Am dritten Tag nach dem Doppelattentat in Norwegen mit mindestens 93 Toten ist das weltweite Entsetzen über die Kaltblütigkeit des mutmaßlichen Täters unverändert groß. Der festgenommene 32-jährige Norweger hat gestanden, erst den Bombenanschlag in der Innenstadt von Oslo verübt und anschließend Dutzende von Jugendlichen auf einer vorgelagerten Insel erschossen zu haben. Heute erinnern die Menschen in Norwegen mit einer Schweigeminute der Opfer.
    Am Telefon begrüße ich Merete Kristin Wilhelmsen, sie ist Gesandte und Leiterin der politischen Abteilung der norwegischen Botschaft in Berlin. Zurzeit vertritt sie den dort gerade abwesenden Botschafter Norwegens in Deutschland. Guten Morgen, Frau Wilhelmsen.

    Merete Kristin Wilhelmsen: Guten Morgen.

    Engels: Wie haben Sie von der Nachricht erfahren, welches Ausmaß diese Bluttat in Ihrer Heimat angenommen hat?

    Wilhelmsen: Also das ist so wie unwirklich, oder mindestens ein Albtraum. Ich bin ja hier in Deutschland und erlebe das von außen so wie Sie. Ich sitze erschreckt vorm Fernseher und kann ja gar nicht verstehen, was passiert in meinem Heimatland.

    Engels: Sie sprechen bestimmt auch mit Freunden, mit Verwandten in Norwegen. Wie nehmen Sie nun, ein paar Tage später, die Stimmung dort wahr?

    Wilhelmsen: Die Stimmung? Es ist so, wie so eine offene Wunde ist. Es ist nur Trauer, Verzweifeltheit, ja, es ist nur, nur, nur schrecklich. Alle sind verzweifelt. Aber es ist ja auch etwas Gutes zu sehen, dass man zusammenfindet und dass man diese Trauer teilt. Es ist ja auch so: Einer von diesen Mitgliedern in dieser Jugendbewegung, die AOS, die Jugendpartei von der Arbeiterpartei in Norwegen, die hat ja so gesagt, wenn ein Mann so viel Hass zeigen kann, wie viel Liebe können wir denn zusammen zeigen. Und ich fand ja auch, gestern waren Gottesdienste, glaube ich, überall in Norwegen, aber auch ein großer in Oslo im Dom, der Ministerpräsident hat eine Rede gehalten. Und in den deutschen Medien habe ich gelesen, dass diese Rede so wie ein Ventil war. Das finde ich sehr gut ausgedrückt. Seine Rede hat sozusagen die Gefühle freigelegt.

    Engels: Wir haben den norwegischen Ministerpräsidenten ja gerade noch einmal gehört. Er hat gesagt, dass er erwartet, dass der Doppelanschlag das Land verändern wird, aber dazu aufgerufen, dass die Geschlossenheit, dass auch die Offenheit des Landes erhalten bleibt. Denken Sie, das kann sich realisieren lassen?

    Wilhelmsen: Es ist ja so ein großer Anschlag an unsere Gesellschaft und wir haben ja immer so für diese Offenheit gekämpft. Das ist so ein Wahrzeichen, glaube ich, für Norwegen. Und das will man ja nicht ändern. Das denken ja alle. Alle Leute, die sich jetzt in Norwegen äußern, sagen das. Auch die jungen Politiker, die so in diesem Kampf waren, wir müssen weiterkämpfen für unsere Werte, für unsere politischen Werte, und das soll sich nicht ändern.

    Engels: Frau Wilhelmsen, Sie selber, Sie haben es gesagt, waren in den letzten Tagen in Berlin. Wie war in den letzten Tagen die Atmosphäre rund um die norwegische Botschaft?

    Wilhelmsen: Also wir haben sehr viele Bekundungen bekommen. Von der Botschaft müssen wir uns ganz herzlich bedanken. Sie kommen von ganz Deutschland. Wir haben eine Menge E-Mails bekommen, aber auch zur Botschaft kommen viele Leute und legen Blumen und Briefe, Kerzen und haben so eine kleine Minute für sich selber da. Und wir haben auch ein Protokoll, ein Kondolenzprotokoll, wo sich schon mehrere Hunderte Leute eingeschrieben haben.

    Engels: Der Schock über den sinnlosen Tod von so vielen Menschen, besonders auch der jungen Menschen, sitzt tief. Sie haben es beschrieben. Wie kommen denn da die weltweiten Appelle an, trotz aller neuen Ängste die Offenheit und Liberalität der Gesellschaft zu verteidigen? Ist das vielleicht auch ein bisschen viel verlangt für die Menschen in Norwegen im Moment?

    Wilhelmsen: Ich glaube, gerade jetzt ist es so, dass es nur diese starken Gefühle, diese Verzweifeltheit, dieses, wie ich gesagt habe, so wie eine offene Wunde gibt. Aber das große Mitleid vom ganzen Land, von der ganzen Welt, das wärmt. Das muss ich nun sagen. Und dann kommt es vielleicht in einigen Tagen zu anderen Gefühlen auch. Vielleicht kommt auch Wut und Zorn dann, das müssen ja auch die Leute fühlen. Aber an diesen zwei ersten Tagen war Verzweiflung, glaube ich, das Wichtigste.

    Engels: Wir können nur spekulieren im Moment über die Motive des Täters, der sich selber auch im Internet offenbar mit Pamphleten doch eine sehr wirre und auch von Rechtsextremismus durchsetzte Ideologie zueigen gemacht hat. Lässt sich schon absehen, ob dem Schock jetzt, der Wut, die folgt, auch möglicherweise eine Forderung nach strengerer Überwachung von Extremisten folgen wird?

    Wilhelmsen: Ich bin ein bisschen zögernd. Ich glaube das nicht, weil gegen solche Situationen oder solche Täter ist es sehr, sehr schwierig für eine Gesellschaft, sich zu wehren. Da, glaube ich, muss man so eine Gesellschaft haben, in der es nicht so gut für die Leute zu leben ist, und wir möchten sehr gerne eine gute Gesellschaft haben, wo es gut zu leben ist, und für diese wollen die Politiker und alle Bürger in Norwegen kämpfen.

    Engels: Bislang galt ja die rechtsextremistische Szene in Norwegen im Vergleich zu anderen Ländern als vergleichsweise schwächer ausgeprägt. Hat man rechtsextremistische Tendenzen in Norwegen möglicherweise unterschätzt?

    Wilhelmsen: Jetzt muss man ja die Arbeit der Polizei und so verfolgen und sehen, was sie finden von dieser Situation. Jetzt wissen wir, es gibt einen Täter und er ist ja in Haft, und wir wissen nicht, ob er zu einer großen Organisation oder zu einer Organisation gehört oder so. Er sieht ja aus, wie ein Alleingänger zu sein.

    Engels: Ein Alleingänger. Aber gibt es in Teilen der norwegischen Gesellschaft eine wachsende Wut vielleicht, die man bislang nicht so wahrgenommen hat?

    Wilhelmsen: Das kann ich nicht sagen, das haben wir nicht bemerkt. Rechtsradikale Gruppen waren kein großes Problem. Jetzt haben wir diese schreckliche Situation und da muss die Zeit so ein bisschen gehen und dann können wir lernen, was ist denn da passiert.

    Engels: Frau Wilhelmsen, wie werden Sie die nächsten Tage verbringen?

    Wilhelmsen: In der Botschaft. Jetzt wollen wir alle Kollegen treffen und darüber diskutieren, wie wir uns verhalten sollen. Heute ist die Schweigeminute um zwölf Uhr für alle und es kommen, glaube ich, auch noch viele Deutsche, die so ihr Beileid zeigen wollen.

    Engels: Wir sprachen mit Merete Kristin Wilhelmsen, sie ist Gesandte und Leiterin der politischen Abteilung der norwegischen Botschaft, vertritt dort gerade den abwesenden Botschafter in Berlin. Vielen Dank, dass Sie sich heute Morgen die Zeit genommen haben, und Ihnen alles Gute, Frau Wilhelmsen.

    Wilhelmsen: Danke schön.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.