Seuchen wie die Pocken, die Pest oder die Cholera sind Menschheits-Katastrophen, gelten als "Geißel der Gesellschaft" – und verändern sie. Doch vieles bleibt ähnlich, wie man 2020 in der Corona-Pandemie sehen konnte, zuletzt bei den Reaktionen auf die in Großbritannien entdeckte neuartige Coronavirus-Variante. Abschottung war das Mittel der Wahl zur Seuchenbekämpfung quer durch die Jahrhunderte, so der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven.
Dabei waren Ärzte auch früher nur beratend tätig. Schon immer war die Exekutive gefragt, wenn es um die Eindämmung von Epidemien ging.
"Pestbekämpfung ist Politik"
Schon im Spätmittelalter hätten sich in Hafenstädten wie Venedig erste Gesundheitsbehörden gebildet als Maßnahme gegen die Pestbedrohung. In Nürnberg habe der Magistrat entsprechende Gesetze erlassen. "Das waren politische Regeln. Ärzte haben nicht entschieden."
Für den Historiker ist aber interessant, dass wir hier in einer vormordernen Gedankenwelt angekommen sind. "Die Seuchenbekämpfung des 21. Jahrhunderts ist vormodern. Man kann eine Krankheit, die über die Luft verbreitet wird, nicht mit den Maßnahmen des 16. Jahrhunderts kontrollieren, das muss man sehen."
Leven forscht als Direktor des Insituts für die Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg seit vielen Jahren über Seuchen, auch des Altertums. Die Kenntnisse der Vormorderne, die sich von der Antike übers Mittelalter bis in die frühe Neuzeit erstreckt, über Seuchen waren gering.
Der Schwarze Tod in Europa
Die Pest, die Europa im 14. Jahrhundert heimsuchte, "kam so schlagartig, dass die Menschen dachten, es handele sich um eine Vergiftung der Atemluft, das war die medizinische Erklärung der Zeit", so Karl-Heinz Leven.
Auch das Konzept der Ansteckung war schon bekannt: "Die Sterblichkeit damals lag bei 30, 40 oder sogar 50 Prozent, und zwar bei allen Bevölkerungs- und Altersgruppen. Die Pest breitete sich so schnell aus, dass kaum eine Reaktion möglich war: "Das war ein Hammerschlag, der auf keinerlei Widerstand oder Abwehr traf, da war nichts. Nur ein vollständiger Zusammenbruch."
Der Pestarzt mit Maske hat wohl nie existiert
Die erste literarische Überlieferung findet sich in Homers "Ilias", wo der Gott Appoll mit Pfeilen Mensch und Tier trifft, die unterschiedlos und schnell sterben - eine frühe Darstellung der Seuche mit metaphysischer Aufladung als 'Strafe der Götter'. 430 vor Christus hat Thukydides von Athen die Krankheit mitsamt ihren katastrophalen Folgen für die Gesellschaft beschrieben. Er schreibt von "Anomie", einer sich breit machenden Gesetzlosigkeit in der Stadt. Inzwischen fand sich ein Massenbegräbnis aus der Zeit mit Spuren, die nahelegen, dass es sich um eine Typhus-Infektion gehandelt haben muss.
Jede Epoche schaffe sich ihre eigenen Bilder, um die Bedrohung sichtbar zu machen. Der Pestarzt mit Schnabelmaske, das emblematische Symbol der Pest, hat auf Bildern existiert, wohl aber nicht in der Wirklichkeit, so Leven. Jedenfalls habe man keine einzige solcher Masken in Europa gefunden. Leven selbst vergleicht die aktuelle Abbildung des Coronavirus mit einem "kugeligen Raumschiff mit Noppen", das jeden Abend in unsere Wohnzimmer fliegt.
Auf der Suche nach dem Sinn von Seuchen
Heute wüssten wir nahezu alles über Seuchen. Doch die Suche nach dem Sinn in Form von Ersatzreligionen gehe weiter. "Manche fragen sich, ob nicht das Vordringen in die unberührte Natur, das Abholzen der Regenwälder für die Landwirtschaft ein großer Fehler ist. Damit verbindet sich die Vorstellung, der Planet strafe uns jetzt dafür. Dass die Natur in der Lage ist, den Menschen zu strafen, ist für viele Menschen wichtig. Das ist aber nur der Ersatz für die früheren einfachen Erklärungen."
Der Medizinhistoriker, so Leven, stelle auch betrübt fest, dass Phänomene wie Denunziantentum, Verfolgung von vermeintlich Schuldigen, Verschwörungsgerüchte zum eisernen Bestand jeder Seuchen gehöre.
Das sei aber erklärbar: "Wenn im Mittelalter geglaubt wurde, die Pest ist eine Art Vergiftung, dann ist der Schritt zur Vorstellung, dass man das Gift auch herstellen könne, ja nicht weit. Diese Gerüchte, die relativ wirkmächtig waren und über den Vorwurf der 'Brunnenvergiftung' dann dazu geführt haben, dass man Juden-Gemeinden in Europa ausgerottet hat - diese Gerüchte waren absurd, aber sie hatten eine gewisse Plausibilität, sonst hätten nicht so viele Leute daran geglaubt."