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Wie ich nach Chihuahua kam. Eine amerikanische Reise

Bernd Wagner liebt den Nichtstuer, den sinnlos Herumlungernden. In seinem Roman Club Oblomow hatte er die Arbeits-, Quassel- und Schreibverweigerer, die schrägen Taugenichtse unserer Tage beschworen. Und wie Eichendorffs Taugenichts liebt Bernd Wagner auch das Reisen, etwa von Ostdeutschland nach und durch ein fremdes Westdeutschland mit seinen fremden Sitten und Gebräuchen, wie es die Heldin in Wagners Roman "Paradies" erlebt. Das Reisen ist bei Wagner keine Sight-Seeing-Tour, keine Studiosus-Bildungsreise, kein Fun-Urlaub, sondern ein zielloses Flanieren durch die Peripherien, auf der Oberfläche der Alltagsgegenwart, wie es der Autor einige Monate lang auch durch die USA einschließlich eines Abstechers nach Mexico unternommen hat, ein Unternehmen, das seine jüngste Arbeit "Wie ich nach Chihuahua kam. Eine amerikanische Reise" dokumentiert. Wagner:

Christoph Schmitz |
    Einmal ist es grundsätzlich meine Art so zu reisen, dass ich meiner Nase folge und dem, was mir interessant erscheint, und zum anderen ist jede Planung über den Haufen geschmissen durch die finanzielle Lage. Also ich hatte mich völlig verrechnet und kam nicht mit den von mir geplanten 50 Dollar am Tag aus, sondern musste mir ein 60-Tage-Ticket bei Greyhound kaufen, zum Teil die Nächte in den Bussen verbringen oder nach dem Plan einer Jugendherberge reisen. Und davon war dann ein großer Teil der Reiseziele bestimmt: Wo war die nächste billige Herberge. Hinzu kommt, dass ich aus der DDR stamme, wo man nie länger als für drei Wochen ein Visum bekam, ich also auch die Erfahrung machen wollte, länger am Stück unterwegs zu sein und so in eine fremde Umgebung hinein zu wachsen.

    Der Schriftsteller aus der sächsischem Wurzen-Provinz, der heute in Berlin Kreuzbergprovinz lebt, reist in die große, weite Welt. Und wie ein Provinzler stolpert er sympathisch kindlich durch die Fremde und provinzlert tüchtig drauflos, wenn er die Schwarzen "Neger" nennt, die Ureinwohner "Rothäute" und die Mexikaner "Amigos". Dem Klein-Blick aus dem kleinen, einst von der Welt abgeschotteten Wurzen aber wohnt ein dialektisches Potenzial inne, was in der weiten Welt zum Tragen kommt. Der Blick wird auf unerwartete Weise ein freier - für ein Land, das für Westeuropäer, vor allem Westdeutsche, gleich welchen Alters, gleich ob alt68er oder 78er oder 89er, mythenbeladen ist, von John-Wayne über Easy-Rider bis Woody Allen und Bill Gates. Der Ostdeutsche aus muss unterwegs im Land der Träume nicht jenen Träumen hinterherhecheln und sie abarbeiten. Außerdem:

    Der Unterschied zu dieser Generation von Westdeutschen, sagen wir mal meiner Generation, die diese Reisen auch gemacht haben, ist, dass sie die vor zwanzig, dreißig Jahren gemacht haben. Also als das Hotel nicht 40 Dollar, sondern vier Dollar gekostet hat, als vor allem auch mit einer Amerikareise eine große Selbstbefreiung und Selbstentdeckung verbunden war. Und das ist für mich als erwachsener Mensch überhaupt nicht das Problem gewesen. Ich bin dorthin wie in jedes andere Land auch gefahren, hatte dort nichts abzuarbeiten, hatte dort keine Erfüllung zu suchen, sondern konnte mich frei bewegen, wie es mir als Reisendem tunlich erschien.

    Wagner schaut direkt auf die Dinge und das Leben, reist auf dem Boden der Tatsachen und dies größtenteils zu Fuß. "Wenn ich schon New York verlassen musste, dann sollte es zu Fuß sein (...) Draußen zündete ich eine Zigarette an und machte mich auf den Weg." So beginnt diese Reise, die eine komplette Fußreise durch die USA geworden wäre, wenn sich die Entfernungen nicht als so groß herausgestellt hätten. Der gute alte Greyhound tut seine Dienste. Go West heißt zuerst die Marschrichtung: Niagara-Fälle, Mittlere Westen, Kalifornien. Dann Mexico, Texas, Mississippi. Dennoch ist es eher der Zufall, der den unkomfortablen Weg lenkt. Die Absteigen sind heruntergekommene Jugendherbergen, versiffte Pensionen und schäbige Hotels – das Reisebudget ist knapp bemessen, ständig hockt dem Reisenden der Sparzwang im Nacken, was den Kopf aber nicht blockiert: Bernd Wagner nimmt alles auf, schreibt alles nieder - die Wetterverhältnisse, die Farben des Wüstensandes, das Material der Gehwege (meist Beton), die Do-it -Floskeln, das marvellous - und nice - Gerede der Leute, ihren Sternenbanner-Fetischismus. Bernd Wagner ist ein Ethnograf der nordamerikanischen Alltagskultur in der Provinz in den USA.

    Es war ein Gefühl der Suche nach Leben. Also ich bin in eine sehr menschenkarge Landschaft gekommen, wo das wenige Leben motorisiert oder auch standardisiert abläuft - es ist alles begrenzt auf ein paar Highways oder Motels. Das ist mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben: Eine große Leere und eine große Langeweile. Die Diskrepanz, dass ich im langweiligsten Land, das ich kenne, nämlich die USA, die aufregendste Stadt, New York, kennen gelernt habe, das ist für mich im Nachhinein ein fester Punkt. Und sicherlich hat auch der problemlosere Umgang mit Mexiko damit zu tun, weil es ähnlicher war zu Reisen, die ich früher im Ostblock erlebt habe. Der Umgang mit der Polizei beispielsweise war für mich nicht so furchterregend, weil ich genau die gleichen Typen aus Bulgarien, der DDR oder der Tschechoslowakai kannte.

    Tapfer steht Wagner die Leere durch, deren Langeweile nur hin und wieder durch seltsame Begegnungen vertrieben wird, etwa mit einem Sonnentanzritual in den Badlands, mit einer ehemals hessischen Kolonie namens New Braunfels oder mit Sioux´ und Dakotas, die in der Nähe ihres Reservats in einem Park neben Segmenten der Berliner Mauer den Tag genießen. Der Reisende setzt sich zu ihnen und erzählt seinen stummen Zuhörern in Gedanken von ihrer Blutsbrüderschaft: Schließlich sei auch er, Bernd Wagner, in einem Reservat, der DDR, aufgewachsen, gehöre darüber hinaus zum Stamme der Sachsen, die sich seit Karl May nebenberuflich als Rothäute betrachteten.

    Wohl fühlt sich Wagner in Amerika aber erst, als er die USA verlässt und nach Mexiko reist:

    Die erste Woche oder die ersten zwei Wochen habe ich mich ausschließlich wie in einem Barackenlager erlebt. Aber trotzdem war etwas unter den Menschen, obwohl ich die Sprache weniger beherrschte als das Englische, was mir die Menschen näher gebracht hat. Also zuerst einmal ein größere Nähe der Menschen zueinander, wenn auch nicht ohne Reibung, aber doch ein ständiges Sich-Beschäftigen etwa mit den Kindern, eine größere Fülle von Leben auf den Straßen, und ich möchte es mal an einem entgegengesetzten Beispiel schildern: Als ich wieder rauskam aus Mexico und nach Texas rein, hatte ich plötzlich wieder das Gefühl der Leere... und ein typisches Beispiel war, dass ich mir dort Streichhölzer kaufen wollte und mir ein Verkäufer fünf Streichhölzer in einer kaputten Schachtel gab und sie mit zehn Cent an der Kasse berechnete. Und das ist eine Sache, die in Mexiko unvorstellbar wäre, weil sich da nicht alles durch Geld aufrechnen lässt. Und diese Bestimmung durch das Geld und das Geldverdienen, das also wichtiger ist als die menschlichen Beziehungen untereinander, das fiel mir in den USA besonders auf. Der Unterschied ist der: In Amerika habe ich mich auf niedrigstem Level bewegt. Und dieser niedrigste Level, also die Hamburgerstuben, die Greyhound-Busfahrer, das hat, ich will nicht sagen etwas Asoziales, aber doch Disoziales und eine große Härte und Kälte untereinander. Während der niedrige Level in Mexico, der dort allgemein ist, von einer großen menschlichen Wärme und Nähe geprägt ist.

    Aber eines ist - wir reden ja immer über das Problem der Nation und des starken Nationalbewusstseins in den USA: Ich habe im Gegensatz dazu Mexico als eine einheitliche, kulturelle Nation erlebt, geprägt von Sprache und Religion, gleichzeitig von einer bestimmten Musik, von einer bestimmten Ernährung usw. Aber das, was den großen Halbkontinent USA zusammenhält, sind doch ziemlich äußerliche Symbole, von Stars-and-stripes angefangen bis zu Hamburger essen und Football spielen, das aber nicht zu einer großen kulturellen Identität wie in Mekico führt, aber gleichzeitig zu einer aggressiveren Nationalität oder Nationalbewusstsein.

    Er lege Wert darauf, den Wortschatz seiner Vorfahren an seinen Tochter weiterzugeben, schreibt Bernd Wagner einmal ironisch, als in New York seine Tochter bei ihm zu Gast ist und er ihr beim Skatspiel Sprüche wie "Hose runter" beibringt. Aber mit dem Wortschatz der Vorfahren meint es Wagner in seinem Reisebericht dann doch ernst. Die Anmut seines Textes besteht gerade darin, dass er einen altgewordenen Ton anschlägt, wenn Bäche murmeln, Tage noch jung sind, wenn er einen freigewordenen Platz ergattert, um das muntere Treiben auf der Tanzfläche zu betrachten, bevor er beschließt, in einem Hotel zu nächtigen. Dem Kreuzberger Sachsen aus Wurzen haben weder nüchterne Sprachkritik noch flotter Popjargon ins Erzählen gepfuscht. Selbstbewusst lässt er seine Herkunft durchscheinen, wenn er die Kellnerin DDR-mäßig Barkraft nennt, wenn er gut proletarisch ein Bier bestellt, um seinen mordsmäßigen Brand zu löschen.

    Ich habe keinen literarischen Spanziergang nach Syrakus vorgehabt. Aber natürlich fühle ich mich in einer literarischen Tradition, einmal die Welt zu erfahren und auch des Schreibens. Also ich halte Reisebücher für eine hochachtbare literarische Gattung jenseits oder dieseits des Journalismus. Aber ein Buch hat ganz gewiß eine große Rolle gespielt und mich befruchtet und auch zu dieser Reise ermuntert, das ist Mark Twains Reisebericht über Europa. Er schlendert im Grunde ähnlich und sieht alles mit einem wunderbar unvoreingenommenen unironischen Blick. Und ich habe gedacht, dass eigentlich ein Gegenbesuch in Amerika mit einem ähnlichen Blick, wie es Mark Twain auf Europa geleistet hat, an der Zeit sei.

    Es gab allerdings zwei Punkte, die ein allzu homogenes Bild gesprengt haben, das war die Intensität in New York, wo man mit einer einfachen Beschaulichkeit oder einem einfachen Schlendern nicht hinkommt, und die Langeweile und Leere in der amerikanischen Provinz. Da galt es eine Sprache zu finden, die diese Spannung aushält und zu beidem fähig ist.

    Wer mit Bernd Wagner reist, dem wird mancher Ton vertraut vorkommen. Doch muss er sich auch von vielem verabschieden, von Überschwang in der Fremde, von kalkulierten Spannungsbögen, von zu Sensationen aufgeheizten Entdeckungen und vermeintlichen Geheimtipps. Wagners Erzählmagie kommt all das ohne aus.