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Wie kann das deutsche Bildungssystem verbessert werden?

Lange: Wir haben uns ja schon daran gewöhnt. Wenn das Stichwort Pisa fällt, dann folgt für das deutsche Bildungssystem höchst selten ein Lob, sondern eine unerbittliche Analyse nicht enden wollender Schwachstellen. Das ist auch jetzt nicht anders. Bildungsforscher vom Max-Planck-Institut in Berlin haben die Pisa-Ergebnisse noch einmal gedreht und gewendet und nach neuen Fragestellungen ausgewertet. Mit dem Ergebnis wollen sich heute die Kultusminister befassen, aber in Teilen ist diese Auswertung schon bekannt geworden. Es wird in der Schule zu wenig für die Integration ausländischer Schüler getan. Das ist ein Befund. Ein anderer lautet, Schulnoten sind selbst in den sogenannten exakten Wissenschaften etwas sehr Subjektives. Am Telefon ist nun Klaus Klemm. Er ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Essen. Guten Morgen, Herr Klemm.

    Klemm: Guten Morgen, Herr Lange!

    Lange: Herr Klemm, wir kennen bisher nur Bruchstücke dieser Pisa-Auswertung. Gibt es unter dem, was da gestern in den Zeitungen zu lesen war, irgend etwas, was Sie besonders überrascht hat?

    Klemm: Das, was der große Trend dieser Aussagen ist, schlechte Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund, nicht leistungsgerecht vergebene Schulnoten in Deutschland, sind Kenntnisse, die wir seit langem haben. Ich kenne die Studie auch noch nicht so genau, aber diese Erkenntnisse hatten wir bisher noch nicht so präzise und genau belegt, wie das jetzt heute Abend vorgestellt werden wird.

    Lange: Bei der Integration von Kindern mit nicht-deutschen Eltern hapert es. Das schlägt auf das Leistungsniveau der betreffenden Klassen durch. Wer ist aus Ihrer Sicht dafür verantwortlich? Wer hat hier ein Bring- bzw. Holschuld?

    Klemm: Ich möchte eine kleine differenzierende Bemerkung machen. Ich kenne die Studie noch nicht. Aber ich kann definitiv sagen, dass in der Pisa-Studie keine kompletten Klassen untersucht worden sind. Wir können aus der Studie keine Aussagen darüber ableiten, was in einzelnen Klassen ist. Es sind Stichproben aus Klassen untersucht worden. Komplette Klassen gibt es da nicht, insofern bin ich hinsichtlich der Pressemeldung, die in den letzten Tagen möglicherweise verkürzt durch die Welt gegangen sind, etwas skeptisch. Gleichwohl wissen wir, dass in den Schulen, vor allem dort, wo Kinder mit Migrationshintergrund lernen, zu wenig für diese Gruppen geschieht. Das sind viele Schulen, vor allen Dingen Hauptschulen.

    Lange: Wer hat da die Bring- und die Holschuld? Ist es zu wenig, was die Lehrer tun? Ist es zu wenig, was die Eltern tun? Tut die Schulbürokratie zu wenig oder ist das ein Gemengelage aus allem?

    Klemm: Ja, das ist eine Gemengelage. Das gesamte System tut da zu wenig. Ich würde mich sehr dagegen wehren, jetzt auf einzelne Gruppen, etwa auf die Eltern, auf die Lehrer, auf die Schüler abzuheben. Ich werde das mal an einer Stadt wie Essen deutlich machen. Es gab hier kürzlich eine Studie, die gezeigt hat, dass in Essener Grundschulen insgesamt Kinder mit 107 unterschiedlichen Sprachen lernen. 107 unterschiedliche Sprachen sind an den Grundschulen hier in Essen vertreten. Das ist vielleicht überall so heftig, aber das zeigt das ganze Spektrum. Wer diese Problemlage wirklich angemessen bearbeiten will, kann das nicht in Hauptschulklassen, wenn es dann auf Klasse 8 bis 9 zugeht, mit bis zu 30 Kindern. Das kann kein noch so guter Lehrer. Da kommt auch kein einzelner Schüler mehr mit. Da machen uns andere Länder vor, dass sie für solche Gruppierungen in ganz anderem Umfang Anstrengungen unternehmen.

    Lange: Wir nehmen den Pisa-Prozess jetzt mal als Ganzes. Das waren ja nun schon, ich weiß nicht wie viele, einige Studien, die bekannt gegeben wurden. Was ist denn für Sie als Bildungsforscher die wichtigste Konsequenz aus dem, was aus den Untersuchungen bekannt geworden ist?

    Klemm: Wir haben einige zentrale Erkenntnisse, die uns vorher nicht so deutlich waren. Dazu gehören die Mittelmäßigkeit unserer Leistungen und die hohe soziale Selektivität unserer Schulen. In keinem Land der untersuchten Welt ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg so eng wie in Deutschland. Wir haben jetzt das Feld der nicht angemessenen Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund, was jetzt wieder im Mittelpunkt steht. Diese drei Erkenntnisse sind, und das ist wirklich ein Novum und ein Fortschritt, in aller Munde. Sie werden endlich einmal fundamental und grundsätzlich diskutiert. Das ist ein Gewinn. Ich habe in den letzten Jahren keine so intensive öffentliche Debatte über Bildungs- und Schulfragen erlebt wie bisher. Ein weiterer, darauf aufbauender Effekt ist, dass die Kultusministerkonferenz damit begonnen hat, in eine besser gezieltere Politik umzuschwenken. In den letzten ein oder zwei Jahren gab es in der Kultusministerkonferenz mehr zielgerichtete Aktivität als all die Jahre zuvor. Das ist ebenfalls ein Fortschritt. Problematisch ist bei allem, was im Augenblick geschieht, und was durch Pisa angeregt worden ist, dass es durch Pisa und die Studien vorher immer noch zwei große Tabus gibt, die uns in der wirklichen Weiterentwicklung blockieren. Das eine Tabu besteht darin, dass nicht ernsthaft über zusätzliches Geld für das Bildungssystem geredet wird, obwohl uns das erfolgreiche Ausland vormacht, das Geld zwar nicht alles, aber schon etwas Wesentliches ist. Außerdem beharren wir auf unsere Schulstruktur, obwohl wir sehen, dass sich all die Länder, wie in Skandinavien oder wie Frankreich, England, USA, die deutlich vor Deutschland rangieren, längst von einem Schulsystem verabschiedet haben, das die Kinder nach der vierten Klasse sortiert. Jetzt möchte ich auf die aktuellen Presseergebnisse zurückkommen. Es gibt da wieder einen Befund dieser jetzt publizierten Daten, der zeigt, dass zum Beispiel innerhalb eines Landes, wie etwa in Bayern, 40 Prozent der Realschüler Leistungen erbringen, die sie ohne weiteres berechtigen würden, in einem bayerischen Gymnasium zu lernen. Wir sortieren die Kinder ungerecht und produzieren uns dadurch eine ganze Reihe von Problemen. Die beiden Tabus Geld und Struktur blockieren die Politik zur Zeit, wenn es um eine fundamentale Verbesserung des Systems geht.

    Lange: Herr Klemm, Pisa wird ja auch von vielen Bildungsexperten als Einladung zum Experimentieren begriffen. Andererseits ist inzwischen der Schulwechsel von einem Bundesland ins andere oder sogar von einer Stadt in die andere zu einem unkalkulierbaren Risiko für Schüler und Eltern geworden. Sind da jetzt wirklich neue Experimente gefordert oder eigentlich genau das Gegenteil?

    Klemm: Wir haben kein Experimentierdefizit. Wir haben kein Defizit an Versuchen, dieses oder jenes anders zu machen. Wir haben in Deutschland viele Erfahrungen. Wir haben intensiver nach der Pisa-Studie auf die Erfahrungen anderer Länder geschaut. Unser Defizit ist ein Handlungsdefizit. Wir müssten endlich anfangen, wirklich grundsätzlicher die Politik zu verändern. Ich habe heute Morgen in der Zeitung gelesen, dass jetzt darüber diskutiert wird, ob in Nordrhein-Westfalen das Halbjahreszeugnis nicht mehr Ende Januar, sondern Mitte Februar erteilt werden sollte. Wenn ich solche Debatten sehe, frage ich mich wirklich, in welcher Welt ich lebe.

    Lange: Nun hat man manchmal Eindruck, dass diese Pisa-Studie gerade von konservativen Bildungspolitikern wie so eine Monstranz hergetragen wird. Andererseits wird jetzt zum Beispiel in Niedersachsen erwogen, die Orientierungsstufe wieder abzuschaffen. Das deutet doch darauf hin, dass das in der bildungspolitischen Kleinstaaterei fröhlich so weiter geht.

    Klemm: Wir haben dieses merkwürdige Phänomen, dass sich aus der Pisa-Studie sowohl die konservativen wie auch die ich nenn sie mal fortschrittlich-orientierten Politiker beide meinen, Honig zu saugen und sich natürlich zugleich blockieren. Die Rolle rückwärts zum rigiden gegliederten System, die jetzt in Niedersachsen angegangen wird, ist kontrafaktisch. Das ist gegen alles, was wir international vorgemacht bekommen. Aber das Herumdoktern, mal hier und da was zu verbessern, ohne das System grundsätzlich in Frage zu stellen, so wie es von der Bundesregierung gemacht wird, bringt uns nicht weiter. Wir müssen an einem Strang ziehen und diese Kleinstaaterei in Frage stellen. Wir bräuchten auch tiefere Einschnitte.

    Lange: Viele Fehlentwicklungen werden den sozialliberalen Bildungsreformen der 70er Jahre ja gerade von konservativer Seite angelastet. Das suggeriert, dass vorher alles in Ordnung war. War das wirklich so?

    Klemm: Wir haben in den 60er Jahren, 1964, 1969 und 1970 eine deutsche Beteiligung an solchen internationalen Vergleichsstudien gehabt. Wir haben in einer Arbeitsgruppe diese Studien von damals noch mal kritisch gelesen und mit Verblüffung festgestellt, dass Deutschland damals auch schon mittelmäßig bis unterdurchschnittlich war. Also gab es das auch damals schon, dass Deutschland im unteren Mittelfeld rangierte. Also wenn man das sieht, können es die 68er Jahre nicht gewesen sein. Interessant ist, dass damals die deutsche Politik, keiner kann mehr rekonstruieren, warum, gesagt hat, wenn wir schon so schlecht sind, dann wollen wir nicht mehr mitspielen. Dann haben wir uns für 20 bis 30 Jahre aus den Studien verabschiedet. Als wir uns dann in den 90er Jahren wieder beteiligt haben, haben wir festgestellt, dass wir immer noch so schlecht sind, vielleicht sogar noch ein bisschen schlechter.

    Lange: Also war es vorher nicht gut, aber die Bildungsreform hat es auch nicht besser gemacht.

    Klemm: Sie hat es weder besser noch schlechter gemacht, muss man leider sagen. Was durch die Bildungsexpansion Ende der 60er, 70er und 80er Jahre erfolgt ist, ist eine größere Teilhabe von breiteren Jahrgangsanteilen an mittlerer und höherer Bildung. Das ist ein Gewinn, den man nicht klein reden sollte. Aber in der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit, in Fragen der sozialen Selektivität sind wir nicht weiter gekommen.

    Lange: Vielen Dank, Herr Klemm!

    Link: Interview als RealAudio