Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Kiewer Vorort Butscha wurden dort Hunderte tote Zivilisten entdeckt, sie lagen auf der Straße, neben ihren Autos, teilweise mit auf den Rücken gefesselten Händen und Kopfschüssen. Es waren Bilder, die um die Welt gingen und die der Frage, ob russische Truppen in der Ukraine Kriegsverbrechen begehen, noch mal neue Dringlichkeit gegeben haben.
Russland weist diese Vorwürfe - ohne entlastende Beweise vorzulegen – zurück. Damit diese und andere Verbrechen dennoch irgendwann vor Gericht verhandelt werden können, recherchieren NGOs in der ganzen Ukraine, machen Fotos und Videos, sammeln Aussagen von Zeugen der Verbrechen und versuchen sie zu bestätigen.
Anonyme Recherchen
Die Arbeit von Truth Hounds ist nicht ungefährlich. Deswegen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der NGO anonym im Land unterwegs, wenn sie recherchieren und mutmaßliche Kriegsverbrechen dokumentieren. Eine von ihnen nennt sich Kazanova.
„In den letzten Tagen haben wir versucht, Zeugen zu finden, die unter der russischen Besatzung gelitten haben, vielleicht gefangengenommen wurden oder deren Angehörige ermordet wurden und so weiter. Wir versuchen, alle möglichen Aussagen zu bekommen, sie zu sammeln und zu verifizieren.“
Um die Hauptstadt Kiew, wo die russische Armee vertrieben wurde, war sie zuletzt aktiv, erzählt Kazanova auf Englisch – Russisch möchte sie wegen der Umstände nicht sprechen. Ausgangspunkt der Recherchen sind oft Videos oder Fotos in den sozialen Medien: Die zeigen etwa zerschossene Wohnhäuser, Luftangriffe auf zivile Ziele oder Artilleriebeschuss. Mutmaßliche Kriegsverbrechen.
Diese Meldungen versucht das Team von Truth Hounds zu bestätigen. Sie fahren an die entsprechenden Orte, fotografieren, filmen und suchen Zeugen, die etwas beobachtet haben. Oft erfolgreich, sagt Kazanova, aber nicht immer:
„In manchen Dörfern ist gerade einfach niemand. Die Menschen wurden entweder evakuiert oder sie versteckten sich in ihren Kellern, als ihre Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dann saßen sie da, kamen nicht mehr raus, warteten und starben. Es ist schwierig, dort Augenzeugen zu finden, die Beschuss beobachtet haben.“
Beweise zur Verwendung vor Gericht
Truth Hounds – die Wahrheitshunde – ist eine von mehreren NGOs in der Ukraine, die mögliche Kriegsverbrechen dokumentiert. Das Ziel: Beweise sammeln, die in offiziellen Ermittlungen oder vor Gericht verwendet werden können, um Täter zu bestrafen. Kateryna Busol hält diese Arbeit für unverzichtbar. Die ukrainische Anwältin hat sich auf die Internationalen Menschenrechte spezialisiert.
„Ich weiß nicht, ob Ermittler und Staatsanwälte offen betonen würden, dass sie Material einer bestimmten NGO benutzt haben. Aber wir müssen mal in die Praxis schauen: Die meisten NGOs haben seit 2014, seit dem Kriegsbeginn in der Ostukraine, an diesen Fällen gearbeitet, sie kennen die Menschen, die Muster der Verbrechen, den lokalen Kontext, sprechen die Sprache.“
Hilfe also, die für Ermittlungen von möglichen Kriegsverbrechen essenziell sei.
Einfühlsam arbeiten und Informationen verifizieren
Auch Truth Hounds hat in den letzten Jahren mehrere Berichte veröffentlicht und einige an den Internationalen Strafgerichtshof weitergeleitet. Busol mahnt die NGOs aber zur Vorsicht: Der Umgang mit Menschen, die Opfer von Verbrechen wurden, sei keine einfache Aufgabe.
„Die Dokumentation von willkürlichem Beschuss ist etwas anderes als die Dokumentation von sexueller Gewalt. Die NGOs müssen beurteilen, was sie gut können. Wichtig ist auch, ob es vulnerable Gruppen gibt, Überlebende von Folter oder Vergewaltigungen etwa, da braucht es einen einfühlsamen Umgang. Viele Menschenrechtler haben nicht viel Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit solchen Überlebenden.“
Auch müssen die gesammelten Informationen stimmen, damit sie verwendet werden können. Das Team von Truth Hounds wurde deswegen von international bekannten Völkerrechts- und Dokumentationsexperten geschult. Truth Hounds-Mitarbeiterin Kazanova:
„Wir machen immer die Gegenprobe und versuchen, alle verfügbaren Informationen zu einem Vorfall zusammenzutragen. Für einen Bericht über militärischen Beschuss 2015 haben wir mit zehn verschiedenen Quellen gearbeitet: öffentlich verfügbare Informationen, Aussagen von Sanitätern, Rettungsteams und Zivilisten, wir haben Satellitenbilder von Google Maps benutzt – damit versuchen wir zu verstehen, was passiert ist. Erst dann geben wir die Informationen an Experten und Behörden weiter.“
Doppelarbeit vermeiden und gründlich dokumentieren
Diese Zusammenarbeit zwischen NGOs und der Justiz ist in den letzten Jahren weltweit gewachsen. Ausgangspunkt war der Syrien-Krieg, aus dem es viel Video- und Fotomaterial gab. Inzwischen gebe es erste Urteile, die auf solchen dokumentierten Beweisen aufbauen, sagt Anwältin Kateryna Busol.
In der Ukraine sei jetzt wichtig, meint Busol, dass NGOs wie Truth Hounds und Ermittler sich gut absprechen, Doppelarbeit vermeiden und gründlich dokumentieren. Nur so ließen sich Staatsanwälte in der Ukraine oder im Ausland überzeugen, das Material zukünftig als Beweis zu verwenden. Und nur so könnten Täter bestraft werden. Darauf hofft auch Truth Hounds-Mitarbeiterin Kazanova:
„Die Praxis zeigt uns: Wenn Täter nicht bestraft werden, dann begehen sie ihre Verbrechen immer wieder.“