"Kohabitation" mit Rassemblement National?
Wie realistisch eine rechtspopulistische Regierung in Frankreich ist – und welche Alternativen es gibt

Nach der ersten Runde der Parlamentswahl in Frankreich steht die Frage im Raum, ob der rechtspopulistische Rassemblement National erstmals Regierungsverantwortung übernehmen könnte. Ist das tatsächlich ein realistisches Szenario? Welche Alternativen gibt es? Fragen und Antworten.

01.07.2024
    Das Foto zeigt den Innenhof des Hotel Matignon.
    Vor der zweiten Runde der Parlamentswahl in Frankreich stellt sich die Frage: Ist eine rechtspopulistische Regierung möglich? (AFP / Ludovic Marin)
    Der Rassemblement National und seine Verbündeten haben im ersten Wahlgang laut dem offiziellen Endergebnis rund 33 Prozent der Stimmen erzielt. In der Nationalversammlung könnte das einen Anteil von 230 bis 280 Sitzen bedeuten. Für eine absolute Mehrheit sind 289 Sitze erforderlich. Auf Platz zwei und drei folgen das Linksbündnis Nouveau Front populaire (28 Prozent) und das Regierungsbündnis Ensemble von Präsident Macron (20 Prozent).

    Was ist die sogenannte "Kohabitation"?

    Zu einer Kohabitation kommt es, wenn im Parlament ein anderes Lager als das des Präsidenten die Mehrheit erringt und den Premierminister stellt. In diesem Fall verliert der Staatspräsident, der in Frankreich weitreichende Befugnisse besitzt, deutlich an Einfluss. Der französische Verfassungsrat schreibt, das Machtzentrum in Paris verschiebe sich dann vom Elysée-Palast (dem Sitz des Präsidenten) zum Hôtel Matignon (dem Sitz des Premiers). Das gemeinsame Regieren wird noch schwieriger, wenn die beiden Lager politisch weit voneinander entfernt sind.

    Wie sieht es bei dieser Parlamentswahl aus?

    Das Linksbündnis und Macrons Regierungsblock Ensemble werden versuchen, einen Sieg und eine absolute Mehrheit des Rassemblement National abzuwenden. Das heißt für die Stichwahl am kommenden Sonntag: In den einzelnen Wahlkreisen könnten sich Drittplatzierte zurückziehen - zugunsten von Kandidaten, die gegen die Bewerber des Rassemblement National gewinnen könnten. Bei der vergangenen Wahl etwa hatten die Parteienblöcke dafür strategische Allianzen geschmiedet.
    Sollte der Rassemblement National am Ende doch eine absolute Mehrheit der Sitze erringen, wäre Macron mehr oder weniger gezwungen, einen Premier aus dessen Reihen zu ernennen. Er ist dazu nicht per Gesetz verpflichtet. Es gilt aber als politischer Usus, dass der Präsident einen Premier aus dem Lager ernennt, das im Parlament über die Mehrheit verfügt. Ernennt er einen Politiker ohne diesen Rückhalt, ist ein Misstrauensantrag gegen die Regierung wahrscheinlich.
    Für den Fall einer absoluten Mehrheit des Rassemblement National hat dessen 28-jähriger Parteichef Bardella bereits den Anspruch auf das Amt des Premiers erhoben. Bardella will aber nicht Regierungschef werden, wenn seine Partei nur eine relative Mehrheit erzielt – und danach sieht es im Moment eher aus.
    Auch ein Wahlsieg des Linksbündnisses ist zumindest nicht auszuschließen. Die Allianz hat aber noch keinen Kandidaten für das Amt des Premierministers benannt.

    Wie würde eine rechtspopulistische Regierung in einer Kohabitation mit Präsident Macron arbeiten?

    Macron würde zwar weiter die Sitzungen des Ministerrates leiten. Er müsste sich aber damit arrangieren, dass die ganze Bandbreite der Innenpolitik in die Kompetenz des Premiers und dessen Regierung fällt, also etwa die Haushalts-, Sozial- und Kulturpolitik. Der Rassemblement National dürfte dann rasch Entscheidungen auf den Weg bringen, die weit von Macrons Agenda entfernt sind. Bardella hat bereits ein "Notgesetz" zur Einwanderung sowie die Abschaffung des "droit du sol" angekündigt, des Rechts auf die französische Staatsbürgerschaft durch die Geburt im Land, auch wenn beide Eltern Ausländer sind.
    Der Rassemblement National hat im Wahlkampf auch die traditionellen Machtbefugnisse des Präsidenten in der Außen- und Verteidigungspolitik zur Debatte gestellt. In diesen Politikfeldern herrschte bei früheren Phasen der Kohabitation überwiegend Einigkeit zwischen Präsident und Premier. Die französische Verfassung lässt allerdings Interpretationsspielräume, was die genauen Kompetenzen von Staatsoberhaupt und Regierungschef angeht.

    Welche Erfahrungen hat Frankreich mit der Kohabitation?

    In der Geschichte der fünften Republik gab es drei Phasen der Kohabitation. Der sozialistische Präsident Mitterrand ernannte 1986 den Konservativen Jacques Chirac zum Premierminister. Hintergrund war die Niederlage der Sozialisten bei der Parlamentswahl. Im Jahr 1993 kam es erneut unter Mitterrand zu einer Kohabitation - dieses Mal mit dem konservativen Premier Balladur. Die dritte Kohabitation kam 1997 zustande. Mittlerweile war Chirac selbst Staatspräsident und musste den Sozialisten Jospin zum Premier machen.

    Was passiert, wenn es nach der Wahl keine klaren Mehrheitsverhältnisse gibt?

    Das Szenario einer blockierten Nationalversammlung ist durchaus denkbar. Jacob Ross von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sagte der Nachrichtenagentur AFP: "Es konkretisiert sich die Gefahr, dass Frankreich sich in einer Situation ohne parlamentarische Mehrheit wiederfindet. Entsprechend dürfte die politische Instabilität zunehmen."
    Sicher ist: Gibt es für niemanden eine absolute Mehrheit, stünde Frankreich vor zähen Koalitionsverhandlungen. Derzeit ist nicht absehbar, wie die grundverschiedenen politischen Akteure für eine Regierung zusammenkommen könnten. Eine Möglichkeit wäre, dass Macron einen Technokraten als Regierungschef ernennt, der parteiübergreifend akzeptabel wäre. Dieser könnte dann bis zur nächsten Präsidentschaftswahl im Jahr 2027 eine Übergangsregierung führen.

    Was würde eine rechtspopulistische Regierung für die Rolle Frankreichs in der EU bedeuten?

    Auf den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs wird Frankreich traditionell vom Präsidenten vertreten. Bei früheren Kohabitationen nahmen Präsident und Premierminister mehrfach geneinsam teil. Bei den verschiedenen Ministerräten wären die EU-kritischen Ressortchefs des Rassemblement National am Zuge. Der Leiter der grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Paris, Marc Bertold, sagte im Deutschlandfunk, Frankreich drohe dann "mit mehreren Stimmen" zu sprechen. Wörtlich sprach er von einem "enormen Risiko auf europäischer Ebene", auch weil Frankreich dann - so wie Ungarn und Italien - versuchen könnte, Europa weiter nach rechts zu rücken.

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    Diese Nachricht wurde am 01.07.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.