Tagesschau: „Guten Abend meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie zur Tagesschau. In Kasachstan sind die regierungskritischen Proteste eskaliert. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gab es vor allem in der Millionen-Stadt Almaty viele Tote. 1000 Menschen sollen verletzt, etwa 2000 festgenommen worden sein. Es wird von Plünderungen und Brandschatzungen berichtet. Russland schickte Soldaten zur Unterstützung von Staatschef Tokajew.“
Es war ihr erster Einsatz, und er war auch nach wenigen Tagen beendet: Im Januar entsandte die OVKS 2.500 zumeist russische Soldaten in einen ihrer Mitgliedstaaten – nach Kasachstan. Die OVKS, die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“, ist ein von Russland dominiertes Sicherheits- und Verteidigungsbündnis auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
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Dieses Selbstbewusstsein war Anfang Februar auch bei einer Konferenz in Moskau zu spüren. Wenige Wochen nach dem Einsatz in Kasachstan trafen sich dort die stellvertretenden Außenminister der sechs Mitgliedsstaaten der OVKS. Es sind dies Russland und Belarus, Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Eingeladen hatte der „Valdai-Klub“, ein in Moskau ansässiges Diskussionsforum – zugleich Sprachrohr der außenpolitischen Großmachtideologie der russischen Führung. Kurz vor dem Treffen hatte Russland seine unerfüllbaren Forderungen an die NATO und die USA geschickt – im Mittelpunkt: Eine neue Sicherheitsordnung für Europa und russische Einflusszonen.
Der Grund für den Einsatz der Truppen: Im autokratisch regierten Kasachstan hatte die Bevölkerung zunächst friedlich gegen steigende Energiepreise demonstriert. Dann war es zu Gewalt gekommen, die kasachische Führung war im Begriff, die Kontrolle zu verlieren. Der Präsident sprach von „ausländischen Terroristen, die Kasachstan bedrohten“, bat die OVKS um Hilfe und ließ auf Demonstranten schießen. Bald darauf war die Ruhe wieder hergestellt.
Einsatz in Kasachstan hat Putins Selbstbewusstsein gestärkt
Richard Giragosian ist Direktor der Denkfabrik „Regional Studies Center“ in der armenischen Hauptstadt Eriwan. Auch Armenien ist Mitglied in der OVKS. Giragosian sieht einen Zusammenhang zwischen dem Einsatz des Bündnisses in Kasachstan und dem Angriff Russlands auf die Ukraine: „Die recht erfolgreiche Operation der OVKS in Kasachstan hat das Selbstbewusstsein der Russen gestärkt. Sie hat Putin selbstgewiss gemacht, ihm eine übertriebene Selbstgewissheit verliehen – für seine Aggression und Invasion in der Ukraine.“
Fjodor Lukjanow vom Valdai-Klub schlug den großen Bogen: „Bis vor kurzem hatten wir alle die NATO als Vorbild für die OVKS im Kopf. Es hieß, sie sei eine echte Allianz, und wir sollten versuchen, ihrem Beispiel zu folgen. Aber jetzt ist offensichtlich, dass, selbst wenn man die NATO für effektiv hält – worüber man lange streiten kann – man sie nicht kopieren muss, das Modell passt für andere.“
Russland und seine Partner bräuchten dagegen eine andere Form der Sicherheit, so Lukjanow, und die gelte es zu entwickeln. Der Titel der Konferenz in Moskau lautete dementsprechend: „Kollektive Sicherheit in einer neuen Ära. Erfahrung und Perspektiven der OVKS.“
Als erstes sprach der russische Diplomat Aleksandr Panknin: „Was ist die Lehre aus den Ereignissen in Kasachstan? Ich denke, die Lehre ist, dass wir praktisch augenblicklich reagiert haben. Das gab es vorher noch nicht. Das war eine blitzartige, gut umgesetzte Operation. Daran waren Eliteeinheiten beteiligt, in denen, soweit ich das verstehe, ein Kämpfer hundert Soldaten aufwiegt.“
Allerdings hatten die Soldaten der OVKS nicht gekämpft. Das konstatierte der Vertreter Kasachstans, sie hätten lediglich strategische Objekte geschützt. Dennoch sah auch der Generalsekretär der OVKS, der Belaruse Stanislav Zas, eine neue Ära anbrechen: „Das erste und wichtigste Fazit dieser Friedensoperation ist, dass sie es geschafft hat, die Lage in Kasachstan zu stabilisieren und das Blutvergießen durch die terroristischen Angriffe zu stoppen. Das zweite Fazit ist politisch. Wir, alle Staaten der OVKS, haben Einigkeit bewiesen, die Bereitschaft, die Interessen und die Sicherheit unserer Staaten gemeinsam zu verteidigen. Und das dritte Fazit ist militärischer Natur: Wir haben erste praktische Erfahrungen gewonnen und uns davon überzeugt, dass der Einsatz der Kräfte, die wir in den letzten 20 Jahren aufgebaut haben, zum Erfolg führt.“
Russland dominiert das Bündnis
Die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ wurde 2002 gegründet. Der Vertrag selbst war bereits zehn Jahre zuvor von den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken unterzeichnet worden – als eine Art Gegengewicht zur NATO. Das selbstgesteckte Ziel: Das Bündnis soll die Sicherheit, Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit seiner Mitgliedsstaaten gewährleisten. Es verfügt über schnelle Eingreiftruppen. Der Vorsitz der Organisation rotiert, das Sekretariat befindet sich in Moskau. Auf dem Papier bekennt sich die „OVKS“ auch zu Demokratie und Völkerrecht. Die meisten Mitgliedsstaaten werden allerdings autoritär oder sogar diktatorisch regiert. Obwohl die Mitglieder formal gleichberechtigt sind, dominiert Russland das Bündnis. Das räumt Nikolaj Bordjuscha, von 2003 bis 2016 Generalsekretär der „OVKS“, frei heraus ein: „Russland ist das systembildende Mitglied der OVKS.“
Wegen dieser russischen Dominanz schied das ehemalige Mitglied Georgien 1999 aus dem Vertrag aus. Georgien suchte schon damals den Anschluss an die NATO und fühlte sich von Russland eher bedroht als geschützt. Auch Aserbaidschan und Usbekistan verließen damals die Gemeinschaft.
Bei der Konferenz des „Valdai-Klubs“ hob dagegen Aleksandr Panknin, der stellvertretende Außenminister Russlands, die Gleichberechtigung der Mitgliedsstaaten hervor: „Es ist merkwürdig, dass die NATO die OVKS für eine russische Organisation hält, in der die übrigen Mitglieder einfach nur da sind. Wir tragen gemeinsame Verantwortung für unsere Sicherheit, und wenn einer bedroht wird, ist das eine Bedrohung für alle.“
Genau so ist es auch in Artikel 4 der Charta der OVKS festgelegt.
„Im Falle einer Aggression gegen einen der Vertragsstaaten (also eines bewaffneten Angriffs, der die Sicherheit, die Stabilität, die territoriale Unversehrtheit und die Souveränität bedroht) gewähren alle anderen Vertragsstaaten diesem Vertragsstaat auf dessen Ersuchen unverzüglich die erforderliche Hilfe.“
Beistand wird den Partnern selektiv geleistet
Doch mit dieser Beistandspflicht für alle ist es nicht weit her. Das hat das Mitgliedsland Armenien erst kürzlich erfahren müssen. Dessen stellvertretender Außenminister, Armen Ghevondyan, drückte sich bei der OVKS-Konferenz Anfang Februar in Moskau vage und klausuliert aus.
„Wir können Sicherheit für alle Mitgliedsländer nur dann garantieren, wenn wir die Strukturen vervollkommnen. Schutz vor dem Eindringen Dritter können wir nur dann garantieren, wenn die Peripherie genauso sicher ist, wie das Zentrum. Das zu erreichen, ist das Ziel für die OVKS.“
Ghevondyan bezog sich auf Berg-Karabach. Im Oktober 2020 wurden dort erneut Kampfhandlungen aufgenommen, in einem Krieg, der bereits seit 1992 geführt wird. Die Enklave liegt auf dem Gebiet Aserbaidschans, das nicht Mitglied der OVKS ist. Sie wird vor allem von Armeniern bewohnt und auch wirtschaftlich und militärisch von Armenien getragen. Armenien hatte in den 1990er Jahren mehrere Bezirke um Berg-Karabach herum besetzt. Als aserbaidschanische Truppen auf die Enklave Berg-Karabach und die umliegenden Gebiete vorrückten, bat Armenien die OVKS um Hilfe. Das Gesuch wurde abgelehnt, mit der Begründung, die Satzung des Bündnisses erlaube keinen Einsatz in Drittländern.
Tatsächlich wurde 2020 auch kein armenisches Staatsgebiet angegriffen. Das änderte sich ein halbes Jahr später. Da drangen aserbaidschanische Truppen auf armenisches Staatsgebiet vor. Der Territorialkonflikt entwickelte sich zunehmend zu einem Krieg, in dem sich Armenien und Aserbaidschan direkt gegenüberstanden. Doch erneut wurde Armenien nicht erhört. Richard Giragosian vom „Regional Studies Center“ in Eriwan:
„Das passierte vor allem, weil die anderen Mitglieder der OVKS, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan, engere Verbindungen zu Aserbaidschan unterhalten als zu Armenien. Sie waren voreingenommen, deshalb griff die OKVS nicht ein. Der Krieg im Jahr 2020 um Berg-Karabach hat die Begrenztheit des Bündnisses offenbart, dass es sicherheitspolitisch nicht wirklich tragfähig ist.“
Russland entsandte stattdessen eine eigene, sogenannte „Friedenstruppe“. Rund 2.000 russische Soldaten sichern seitdem den Waffenstillstand zwischen Aserbaidschan und Armenien – und sie sichern den Einfluss Russlands in der Region. Obwohl Armenien also keine Hilfe von der „OVKS“ bekam, hat das Land dem Militäreinsatz des Bündnisses in Kasachstan Anfang dieses Jahres zugestimmt, mehr noch, es hat ihn formal sogar angeordnet. Denn zufällig hat Armenien in diesem Jahr den Vorsitz inne. Premierminister Nikol Paschinjan schickte sogar siebzig Soldaten nach Kasachstan.
Sicherheitsexperte Richard Giragosian:„Der Premierminister Armeniens ist ja selbst durch einen gewaltlosen Sieg des Volkes an die Macht gekommen. Er wurde demokratisch gewählt. Aber er war gezwungen, sich an der Entsendung von OVKS-Truppen zu beteiligen und die autoritäre Regierung Kasachstans gegen demokratische Demonstranten zu verteidigen. Das war etwas peinlich, aber realistisch gesehen hatten wir keine andere Wahl als mitzumachen.“
Denn Armenien ist von Russland abhängig. Würde zum Beispiel das russische Militär aus Berg-Karabach abziehen, wäre die Gefahr groß, dass Aserbaidschan erneut angriffe: Nicht nur Berg-Karabach, sondern auch Armenien. Davon sind zumindest die Armenier überzeugt. Zudem ist Armenien Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Russland, Belarus, Kirgistan und Kasachstan.
Richard Giragosian: „Wie in der Sowjetunion versucht das Zentrum, eine dominante Rolle gegenüber der Peripherie einzunehmen. Russland dominiert ja nicht nur die OVKS, sondern auch die Eurasische Wirtschaftsunion. Diese fehlende Parität verhindert, dass andere postsowjetische Staaten wirklich unabhängig und souverän werden.“
Auch Kirgistan bekam keine Hilfe der OVKS
Dass die OVKS keineswegs gleiche Sicherheit für alle Mitglieder bedeutet, das bekam auch Kirgistan zu spüren. Im vergangenen Frühjahr brach dort ein Grenzkonflikt mit dem Nachbarland und OVKS-Mitglied Tadschikistan aus.
Die kirgisische Anthropologin Mahabat Sadyrbek vom Max-Planck-Institut in Halle: „Es gibt immer wieder Streitigkeiten zwischen den Menschen, die an der Grenze leben. Wir haben auch einige tadschikische Dörfer, die im kirgisischen Territorium sich befinden, und auch umgekehrt. Und es gibt immer wieder Streitigkeiten ums Wasser, um Grenzverletzungen, um auch viele andere alltägliche Sachen. Und das war schon ein ernstzunehmender Konflikt.“
Daraufhin bat der kirgisische Präsident Sadyr Dschaparow Russland, sich im Rahmen der OVKS militärisch einzubringen.
„Daraufhin hat er keine Antwort bekommen, und da war die Enttäuschung auch groß. Und da ist auch ein Unmut entstanden gegenüber dieser Organisation.“
Trotzdem stimmte auch Kirgistan Anfang des Jahres dem Einsatz der OVKS in Kasachstan zu und entsandte 150 Soldaten in das Nachbarland – aus Sicht von Mahabat Sadyrbek belegt das eine übergroße Abhängigkeit der zentralasiatischen Mitgliedsstaaten von Russland.
„Die Volkswirtschaften leben sozusagen von den Geldüberweisungen der Arbeitsmigranten in der Russischen Föderation. Und solange wir keine bessere Alternative haben, werden diese Abhängigkeiten auch bleiben. Das wird auch so hingenommen. Und insbesondere Tadschikistan und Kirgistan, die sind einfach zu schwach und zu klein, wenn von außen irgendwelche Bedrohungen entstehen, dagegen zu halten.“
Die NATO sieht man als Angriffsbündnis
Seit der erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan befürchtet Tadschikistan, dass Terroristen, Waffen und noch mehr Drogen in das Land kommen. Beide Länder verbindet eine 1.300 Kilometer lange, schwer zu überwachende Grenze. Die „OVKS“ werde in den beiden Ländern tatsächlich als Schutz betrachtet, auch vor China, sagt Mahabat Sadyrbek. Bei der Konferenz im Februar dieses Jahres in Moskau betonten besonders die russischen Vertreter immer wieder, dass es sich bei der OVKS um ein „Verteidigungsbündnis“ handele. Der NATO wirft die russische Führung dagegen immer wieder vor, Angriffskriege geführt und sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder eingemischt zu haben.
Auch Fjodor Lukjanow vom kremlnahen „Valdai-Club“ behauptet: „Bei der NATO ging es in den letzten Jahrzehnten immer um Regimewechsel. Die Aufgabe der OVKS dagegen ist es, die jeweilige Staatsmacht zu festigen. Russlands Diplomatie ist immer davon ausgegangen, dass es besser ist, ein Regime, wie auch immer es beschaffen ist, zu stützen und zu stärken.“
Doch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine führt dieses Versprechen ad absurdum und straft ihn und die gesamte russische Führung Lügen. Denn: Wladimir Putin hat die Ukraine angegriffen – einen Krieg begonnen – auch um Präsident Wolodymyr Selenskyi zu stürzen. Das Gegenteil also von Stützen und Stärken. Russlands Präsident nennt es in Verkehrung der Realität „Entnazifizierung“.
Putin deutet seinen Angriffskrieg als Verteidigung
In der Ukraine führen darüber hinaus zwei Mitgliedsstaaten der OVKS, Russland und Belarus, Krieg gegen ein Drittland. Deshalb dürfte die Allianz eigentlich nicht in den Krieg hineingezogen werden – zumindest, wenn es nach den Statuten der OVKS geht. Doch Putin deutet um, spricht nicht von Krieg, sondern von Verteidigung. Russland müsse sich – im Gegenteil – vor einem Angriff der Ukraine und der NATO schützen. Denkbar wäre deshalb durchaus, dass Russland die OVKS noch ins Spiel bringt und die Bündnisstaaten um Unterstützung bittet. Die haben sich zu Russlands Krieg in der Ukraine bisher zurückhaltend geäußert.
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Als am Mittwoch die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit überwältigender Mehrheit Russlands Angriff auf die Ukraine verurteilte, stimmten aus dem Kreis der OVKS nur Russland und Belarus dagegen. Sowohl Armenien, als auch Kirgistan, Tadschikistan, und Kasachstan enthielten sich der Stimme. Öffentliche Verurteilungen durch ihre Staatsführer gab es allerdings auch nicht.
In Armenien sagte Premierminister Nikol Paschinjan lediglich, er hoffe, dass die „Diplomatie die Artillerie zum Schweigen bringen“ könne. Er sei „zutiefst betrübt über die sich abzeichnenden Ereignisse“. Der Präsident Kasachstans, Kassym Tokajew, betont, wie wichtig eine Lösung durch Verhandlungen ist. Tokajew telefonierte in den letzten Tagen sowohl mit Putin als auch mit Selenskyi. Dem Präsidenten der Ukraine versprach er immerhin, Kasachstan werde im humanitären Bereich mit der Ukraine kooperieren.
Die Zentralasienexpertin Mahabat Sadyrbek überrascht das Lavieren der Staatsführer nicht: „Alle Länder sind in einem Dilemma. Deshalb konnten sie auch keine klaren Positionen beziehen. Am deutlichsten war vielleicht der kirgisische Kabinettsminister Sadyr Japarow, der bei seinem Treffen mit dem russischen Premierminister Mischustin gesagt hat: Wir sind seit 200 Jahren mit Russland zusammen gewesen, und das werden wir auch die weiteren 300 Jahre bleiben.“
Dieses Treffen war allerdings bereits im November. Richard Giragosian aus Eriwan sieht bisher keine Anzeichen dafür, dass sich die übrigen OVKS-Mitglieder an dem Krieg beteiligen. Doch er fürchtet dessen Folgen für Armenien: „Man kann davon ausgehen, dass Russland nach seinem Einmarsch in die Ukraine den Handlungsspielraum anderer postsowjetischer Staaten noch stärker einschränken wird. Wir stellen uns darauf ein, dass Russland dann noch mehr Loyalität und Unterwerfung einfordern wird, und darin liegt die Gefahr.“