Ein Mann, eine Entscheidung: „Ich habe beschlossen, eine spezielle Militäroperation durchzuführen.“
Es war am frühen Morgen des 24. Februar: Hinter seinem Schreibtisch sitzend, mit festem Blick in die Kamera, verkündete der russische Präsident Wladimir Putin den Beginn der „militärischen Spezialoperation zum Schutz des Donbass“, kurzum: eine Kriegserklärung an die gesamte Ukraine.
Putin: „Die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren dem Völkermord durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind. Dafür werden wir die Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine anstreben.“
Es war eine Überraschung, ein Schock – und eine dreiste Lüge: „Man versteht im Westen nicht richtig, was mit Russland passiert ist. Russland war fast 20 Jahre lang nahezu eine Demokratie, könnte man sagen. Und jetzt haben sie so ein faschistisches Regime, welches die Nachbarn angreift, welches einen Krieg angefangen hat“, sagt Leonid Wolkow, politischer Direktor der von Alexej Nawalny begründeten Antikorruptionsstiftung. Nawalny, der wohl prominenteste Gegenspieler Putins, sitzt in Haft.
Eingeständnis zu Beginn
„Putinland“: So heißt – prägnant wie einfach – Wolkows Buch. Vorab: Es ist ein wertvolles Buch, das genau zur richtigen Zeit kommt und dessen Glaubwürdigkeit sich auch aus einem Eingeständnis direkt zu Beginn speist. Denn auch Wolkow hielt es nicht für möglich, trotz aller Warnung der westlichen, vor allem US-amerikanischen Geheimdienste, dass Putin einen Krieg beginnen würde. Der Grund für diese Entwicklung, so schreibt es Wolkow, sei im Realitätsverlust Putins zu suchen:
„Währenddessen entfernte sich Putin immer weiter von der Wirklichkeit. Besonders kritisch wurde es seit Beginn der Corona-Pandemie. Aus Angst vor dem Virus isolierte er sich praktisch vollständig von der Außenwelt. Seine Kontakte beschränkten sich bald auf den engsten Kreis weniger hochrangiger Generäle und ausgewählter Funktionäre, mit denen er sich, wie wir inzwischen wissen, vor allem mit der Planung seines Krieges beschäftigte. Der Westen kaufte unterdessen weiterhin fleißig Öl und Gas von Russland, ließ weiterhin Tag für Tag Milliarden Dollar, Euro und Pfund in Putins Kassen fließen und finanzierte ihm seinen persönlichen Luxus genauso wie seine Kriegsvorbereitungen. Und so landeten wir da, wo wir heute sind. Weil wir Putin eben doch nicht wirklich verstanden haben und weil wir die Entwicklung, die in Russland vor unseren Augen vonstattenging, nicht ernst genug genommen haben.“
Autokratischer Machtapparat
All das möchte Wolkow, der in Litauen im Exil leben muss, mit diesem Buch ändern: „Wieso gab es nicht genug Widerstand? Wieso können die Russen nichts dagegen machen? Wieso hat Putin immer noch so viel Unterstützung?“
15 Kapitel strukturieren dieses Buch, das biographische Züge hat. Denn Wolkow beschreibt nach einer Schilderung der Umbruch-Jahre in den 90ern sowie der Entstehung des Putinschen Systems vor allem die Versuche, gegen Putin und seinen Machtapparat Politik zu machen: sei es die Bürgermeisterwahl in Moskau oder der Aufbau von Nawalnys Organisation.
Durch die Einblicke in diese Prozesse zeigt Wolkow auch die Mechanismen des autokratischen Machtapparats auf – und wie darauf reagiert wurde. Denn auch durch die strikte Gesetzgebung für politische Organisationen waren Nawalny, Wolkow und Co. gezwungen, in die Fläche dieses größten Landes der Welt zu gehen, sich ein eigenes Meinungsforschungsinstitut aufzubauen und technische Möglichkeiten wie Livestreams zu nutzen:
Wolkow schreibt: „Wir nutzten die Infrastruktur unserer Stäbe und örtlichen Organisationen, die sich spontan in journalistische Teams verwandelt hatten. Liveübertragungen wurden für uns zu einem wichtigen Werkzeug, um die Mauer der Zensur zu durchbrechen, ähnlich wie 2011 YouTube zu einem Werkzeug geworden war, mit dem sich der Kreml in Angst und Schrecken versetzen ließ. Im Fernsehen konnte man diese Proteste totschweigen, aber auf YouTube sahen sie mehr als vier Millionen Menschen an einem Tag. Millionen verfolgten die Proteste im ganzen Land und hatten teil an ihnen. Das Ende vom Lied war, dass die Sendeteams direkt aus ihren improvisierten Studios heraus verhaftet wurden. Ich selbst wurde in unserem Moskauer Büro beim Moderieren einer Livesendung festgenommen, vierzehn Stunden nach Beginn der Sendung. Ich erhielt damals meine ersten zehn Tage Ordnungshaft.“
Szenarien für die Zeit nach Putin
Neben der sehr anschaulichen und detaillierten Schilderung der Umstände sowie der oppositionellen Versuche, liegt die Stärke von Wolkows Buch darin, sich Fragen nach der Zukunft zu stellen: „Ich versuche in meinem Buch zu beweisen, dass die Menschen in Russland eigentlich bereit sind, in einer Demokratie zu leben. Ich versuche zu beweisen, dass eigentlich Putin oder Putinismus ein historischer Fehler sind und nicht umgekehrt.“
„Nach Putin: Szenarien und Hoffnungen“, heißt das Abschlusskapitel, in dem sich Wolkow diesen Szenarien widmet. Er schreibt:
„Das System, das Putin errichtet hat, kann er niemandem vererben, es ist absolut personalisiert. Es basiert, wie ich gezeigt habe, auf einem komplizierten Gefüge persönlicher Absprachen und gegenseitiger Verpflichtungen, die Putin und die Schlüsselfiguren seiner Gefolgschaft fest miteinander verkettet – Absprachen und Verpflichtungen, die in dem Moment, da Putin nicht mehr ist, null und nichtig werden. Wir haben außerdem gesehen, dass es niemanden aus Putins Umkreis gibt und niemanden geben kann, der sein politisches Erbe antreten könnte. Wenn Putin einmal abtritt, wird er einen Scherbenhaufen hinterlassen. Der Umbau des Systems wird Jahre eines inneren Kampfes erfordern.“
Ein Tod Putins, eine Palastrevolution sowie ein Aufstand von unten. Das sind – laut Wolkow – die Möglichkeiten, wobei er den Elitenkonflikt als das wahrscheinlichste Szenario ansieht. „Ich hoffe, dass der ukrainische Krieg Putins letzter Fehler war. Und dass nach Putin eine große Chance bestehen wird, für eine Demokratisierung Russlands.“
Wolkows Buch reiht sich ein in eine Vielzahl von Büchern, die sich mit Putins Russland beschäftigen. Sein Alleinstellungsmerkmal liegt dabei in dem detaillierten Blick in die Arbeit der Opposition sowie der Analyse möglicher künftiger Szenarien. Punkte, über die noch viel zu reden sein wird – und weshalb eine Lektüre lohnt.
Leonid Wolkow: „Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens“
Droemer Verlag, 240 Seiten, 22 Euro.
Droemer Verlag, 240 Seiten, 22 Euro.