Der Politologe Joachim Krause sagte im Deutschlandfunk, mit dem Vorstoß habe die Ukraine der russischen Gegenseite sicher auch zeigen wollen, was es bedeute, angegriffen zu werden. Und das sei der Ukraine "ganz gut gelungen". Insofern sei es auch darum gegangen, das Selbstbewusstsein Russlands zu erschüttern - und den unbedingten Willen von Staatschef Putin, den Krieg zu Ende zu führen und zu gewinnen.
"Versagen der Geheimdienste offenbart"
Ganz ähnlich äußert sich der frühere Diplomat Daniel Fried von der US-Denkfabrik "Atlantic Council". Er sagte, der ukrainische Angriff habe ein Versagen der russischen Geheimdienste und eine Schwäche Russlands an den eigenen Grenzen offengelegt. Zitat: "The attack thus upends the Kremlin narrative of inevitable Russian victory" (Der Angriff stellt das Narrativ des Kremls von einem unvermeidlichen russischen Sieg in Frage).
Russische Führung war "offensichtlich überrascht"
Bei gleich mehreren Fachleuten spielt das Momentum der Überraschung eine große Rolle in der Einschätzung. So sagte etwa der Osteuropa-Experte Wilfried Jilge im Deutschlandfunk, die russische Führung sei "offensichtlich überrascht" gewesen von dem Vorstoß der Ukraine. Auch er findet, ein Motiv Kiews sei es sicher gewesen, zu zeigen, dass die Ukraine noch immer zu solchen "taktischen Momenten" fähig sei.
"Vieles bewegt sich im Bereich der Vermutung"
Jilge betont aber zugleich, man verfüge eben im Ausland nur über einen "kleinen Ausschnitt" der Informationen über das, was sich tatsächlich abspiele. Vieles bei den Analysen bewege sich daher im Bereich der Vermutung.
Der Angriff der Ukraine diene aber wohl auch der Ablenkung - in dem Sinne, dass Russland nun gezwungen werden könnte, seine Truppen aus den ukrainischen Frontgebieten bei Charkiw und Pokrowsk abzuziehen. Auch diesen Gedanken teilen andere Experten. Jilge unterstreicht: Die Ukraine wolle wohl Zeit gewinnen, um die Lage im Osten des Landes zu stabilisieren - und den Druck auf das eigene Militär zu verringern.
"Angriff mit mindestens zwei Brigaden"
Der Militärexperte und frühere australische General Mick Ryan befasst sich schon seit langem mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Für ihn steht zumindest fest: Die Ukraine hat mit mehreren (mindestens zwei) Brigaden angegriffen. Das entspricht einigen tausend Soldaten. Auch könne man sicher sagen, dass die Ukraine "a good distance" (ein ganz schönes Stück) in Russland eingedrungen sei. In anderen Analysen ist etwa die Rede von zehn Kilometern.
These vom "transparenten Schlachtfeld" stimmt nicht
Und auch Ryan betont den Überraschungseffekt. Dieser sei insofern von Bedeutung, als man in diesem Krieg immer wieder die These von einem "transparenten Schlachtfeld" höre. Der Angriff aber zeige, dass man davon weit entfernt sei - dass also Ablenkungs- und Täuschungsmanöver, eine gute Aufklärung und der Überraschungseffekt entscheidende Elemente eines modernen Krieges seien.
Was passiert, wenn sich eine "statische Front" bildet?
Wie geht es nun weiter? Mit diesem Gedanken befasst sich der Militärexperte Franz-Stefan Gady. Er sagte tagesschau.de am Donnerstag, bislang habe der Angriff der Ukraine noch Momentum. Zitat: "Wie lange dieser Angriff fortgesetzt werden kann und das Tempo aufrechterhalten werden kann, ist fraglich. Es ist davon abhängig, wie schnell die russischen Truppen sich neu gruppieren und zu einem Gegenangriff ansetzen."
Gady stellt denn auch die Frage, was passiere, wenn sich tatsächlich kurzzeitig eine "statische" Front auf russischem Gebiet herausbilde: "Wollen die Ukrainer das Territorium halten und verteidigen, als eine Art Faustpfand? Dann wird es relativ schnell Gleitbombenangriffe und andere größere Angriffe mit geballter russischer Feuerkraft geben - und bei denen werden die Russen Feuerüberlegenheit haben."
"Ukraine kann gewinnen, wenn wir sie in die Lage versetzen"
Bleibt ein Ausblick. Und den liefert der frühere US-Botschafter in der Ukraine, John E. Herbst, heute ebenfalls beim Atlantic Council. Er ist sicher: Der Vorstoß der Ukraine sollte ein Reminder an alle zögerlichen Staats- und Regierungschefs im Westen sein - nämlich, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen können, wenn man sie denn dazu in die Lage versetze ("if we enable and allow them to win.”)
Diese Nachricht wurde am 09.08.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.