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Nachhaltige Stadtplanung
Mehr Natur, weniger Beton

Städte sind faszinierend: Sie stecken voller Möglichkeiten. Aber die Lebensqualität in den Städten schwindet auch, die Natur wird zerstört. Der Architekt Osamu Okamura entwirft in seinem Sachbuch für Kinder ab 10 Jahren Visionen für eine "Stadt für alle".

Von Thomas Linden | 24.09.2022
    Osamu Okamura, David Böhm (Ill.) und Jiří Franta (Ill.): "Die Stadt für alle"
    Das Buch zur Bruchstelle, an der sich unsere Gegenwart befindet: Osamu Okamura, David Böhm (Ill.) und Jiří Franta (Ill.): "Die Stadt für alle" (Pavel Horák)
    So kann es nicht weitergehen. Der Verkehr, die Hitze, die hohen Mieten und die schlechte Luft verwandeln unsere Städte in unerträgliche Orte. Doch das war nicht immer so. In Städten waren Wohlstand und Fortschritt zuhause. Sie waren die Wiege der Demokratie, Orte der Begegnung, an denen man auf andere Menschen traf und lernte, mit ihnen zusammen zu leben. So wurden die Städte zum Versprechen für die Landbevölkerung.
    Das hat sich geändert. Osamu Okamura, Dekan an der Technischen Universität von Liberec, gibt uns eine Vorstellung davon, was die Stunde geschlagen hat:
     
    "Die Kunst, eine Stadt zu planen und zu bauen, ist seit der Antike Bestandteil unserer Zivilisation, und sie bestimmt das Leben der Menschen auf viele Arten und umfassend. Aber obwohl die Stadt eine zivilisatorische Errungenschaft ist, lebte bis vor Kurzem die Mehrzahl der Menschen auf dem Erdball außerhalb von Städten, nahe an der Natur. In den letzten Jahrzehnten hat sich das geändert. Seit 2008 lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten. Der Prozess geht immer schneller, und wir können davon ausgehen, dass dieser Anteil bis 2050 – schon so bald – auf 75 Prozent klettern wird."

    "Stadtplanung jetzt und in Zukunft"

    Wie könnte sie also aussehen, „Die Stadt für alle“? Unter diesem Titel präsentiert Okamura ein erstaunliches Buch, das in Zusammenarbeit mit den Künstlern und Illustratoren David Böhm und Jiří Franta entstanden ist. „Stadtplanung jetzt und in Zukunft“ kündigt der Untertitel an.
    Sobald man die ersten Seiten dieses graphisch kühn gestalteten Buches in Augenschein nimmt, zeigt sich, dass der urbane Kosmos lustvoll dekonstruiert wird. Böhm und Franta belassen es nicht bei architektonischen Modellen und sie bauen auch keine Märklin-Landschaften nach. Mit Papierhäusern, Sand, Matchbox-Autos, gezeichneten Figuren von Passanten und dicken Wattewolken aus schmutzigen Karton-Schornsteinen rekonstruieren die beiden städtische Situationen. Mit der Kamera des Fotografen Pavel Horák tauchen sie in eine kleinformatige Welt aus Parkplätzen, Hochhäusern, Industrieanlagen und Hinterhöfen ein. Das alles ist mit realistischer Detailtreue in einem faszinierenden Spielzeugformat entwickelt und bleibt doch stets als künstlerische Installation erkennbar.

    Ergänzt werden die Modellwelten durch schwarzweiße Illustrationen, die satirisch in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger einführen. So wandert man beim Lesen und Schauen von einem Kapitel zum nächsten. Dort wird dann gefragt, wie es die Städte mit dem Verkehr halten, warum in Deutschland die Hälfte des Wohnraums vermietet wird und vergleichsweise wenig Wohnbesitz existiert. Was ist der Grund für die Vernachlässigung von Plätzen und Parks? Warum gibt es Immobilienspekulation, und wie funktioniert Gentrifizierung?

    Die Bruchstelle unserer Gegenwart

    Okamura, Böhm und Franta liefern das Buch zur Bruchstelle, an der sich unsere Gegenwart befindet. Denn während die Städte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Autoverkehr zugeschnitten wurden, verlangt die Klimasituation jetzt nach einer Umgestaltung. Auch wenn die Ressourcen schwinden, so wollen wir doch die Lebensqualität unserer Städte verbessern. Aber wann funktioniert denn eine Stadt?

    "Wenn wir sie kaum bemerken, dann funktioniert eine Stadt gut: Eine funktionale Stadt stellt uns eine gute Umgebung für ein zufriedenes Leben zur Verfügung. Dabei geht es nicht nur um die Wirtschaft, sondern auch um die Qualität von Umwelt, Luft und Wasser."
    Erstaunlich ist die Präzision, mit der Osamu Okamura die komplexen Zusammenhänge erklärt. So entstand ein Sachbuch, das eben nicht wie eine Internetseite aussieht, auf der Abbildungen und Textpartikel als Konfetti über die Seite verstreut wurden. Seine Texte sind so verständlich geschrieben, dass man lernen kann, die Stadt kritisch zu betrachten. Es gilt sie zu „lesen“. Denn es gibt eben keine einfachen Antworten, wenn es um ein so komplexes Thema geht, bei dem Politik, soziales Leben, Wirtschaft, Klima, Architektur und Ästhetik miteinander in Wechselbeziehung stehen. Alles hängt mit allem zusammen. Deshalb liegt die versteckte Botschaft dieses Buches auch in seiner Anleitung zum komplexen Denken.

    Mehr Partizipation

    Man muss die urbanen Zumutungen nicht resigniert hinnehmen. Okamura rät zu mehr Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. Das macht die Städte widerstandsfähiger gegenüber unerwarteten Herausforderungen, seien es klimatische, wirtschaftliche oder politische, und es stärkt das Verantwortungsgefühl der städtischen Gemeinschaften. Denn eine Frage stellt sich immer wieder: Wem gehört die Stadt, den privaten Investoren oder den in ihr lebenden Menschen? Okamura sieht durchaus Anlass zur Hoffnung:

    "Es ist gut, dass Menschen in vielen Städten inzwischen aktiver werden und die Situation sich langsam ändert. Ob jemand Planer, Bürgerin, Politiker, Developer, Investorin oder Aktivist ist, muss nicht ein für alle Mal feststehen, es kann sich im Laufe des Lebens auch ändern und überschneiden. Aber für uns alle gibt es kein abenteuerlicheres und tolleres Strategiespiel als die Gestaltung einer Stadt."

    Menschen, nicht Häuser

    Es gibt Beispiele, die zeigen, wie aus urbanem Elend lebendige, neue Situationen entstehen können. Wenn man etwa verwahrloste Brachen als Geschenk betrachtet. Vernachlässigte Areale können zum öffentlichen Raum für Begegnung werden. Osamu Okamura liefert die entsprechenden Projekte aus Kopenhagen, Barcelona, Hamburg oder Wien. Denn was gerne vergessen wird: Das Wichtigste in der Stadt sind die Menschen, nicht die Häuser.
    Osamu Okamura, David Böhm (Ill.), Jiří Franta (Ill.): „Die Stadt für alle“
    Mit Fotografien von Pavel Horák und einem Vorwort von Laura Weißmüller
    Aus dem Tschechischen von Lena Dorn
    Karl Rauch Verlag, Düsseldorf. 176 Seiten, 25 Euro, ab 10 Jahren.