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Kunst und Gegenwart (1/3)
Wie Technologie unsere Welt repräsentiert, beeinflusst und verändert

Ein Essay über Kunst und digitale Techniken von interaktiven Installationen bis hin zu KI oder Videoinstallationen. Was verändern sie in der bildenden Kunst und wie greifen Künstlerinnen und Künstler Debatten um technologische Einflüsse auf?

Von Sabine Himmelsbach |
Ansicht der VR-Installation "Atmospheric Forest" von Rasa Smite und Raitis Smits, ausgestellt im HEK Basel
In "Atmospheric Forest" des lettischen Künstlerduos Rasa Smite und Raitis Smits können Besucherinnen und Besucher mittels VR-Installation in 3D-Scans eines digitalisierten Waldes eintauchen (HEK Basel / Kristine Madjare © RIXC)
Digitalisierung und Kunst gehen eine faszinierende Liaison ein. Unsere Welt ist von digitaler Technologie überflutet und diese Geräte sind buchstäblich zu Erweiterungen von uns selbst geworden. Unsere tägliche Interaktion mit intelligenten algorithmischen Systemen und die Macht, die wir bereits in vielen Bereichen unseres Lebens an Maschinen abtreten, haben zu neuen, miteinander verwobenen Realitäten geführt, die von Menschen und Algorithmen oder intelligenten Systemen gemeinsam geschaffen werden. Kunst setzt sich mit dieser Gegenwart auseinander und nutzt neue technologische Werkzeuge für die ästhetische Produktion. Aber wie reflektiert Kunst die Auswirkungen technologischen Wandels auf uns, wie greift sie in die gesellschaftlichen Debatten ein?
Sabine Himmelsbach berichtet über die Entwicklung von Medienkunst, stellt ihre kuratorische Praxis im HEK (Haus der Elektronischen Künste) in Basel anhand aktueller Themen vor, die sich mit den Auswirkungen von Medientechnologien auf die Gesellschaft befassen – von KI über nachhaltige Mode, Emotionen und Technologie bis hin zum ökologischen Wandel.

Der technologische Wandel der letzten Jahrzehnte hat unsere Welt verändert und wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Ob bewusst oder unbewusst – Technologien beeinflussen unser alltägliches Leben und prägen unser gesellschaftliches Miteinander: Menschenähnliche Roboter werden in der Gesundheitsfürsorge eingesetzt, Sexroboter kompensieren die Defizite menschlicher Beziehungen, die zudem mehr und mehr vermittelt über Dating-Apps geknüpft werden, intelligente Sprachassistenten wie Siri und Alexa hören unseren Gesprächen zu und kümmern sich um unsere Bedürfnisse. Wir kommunizieren mehr mit unserer Technologie als mit anderen Menschen.
Digitalisierung und Kunst gehen eine faszinierende Liaison ein. Unsere Welt ist von digitaler Technologie überflutet und diese Geräte sind buchstäblich zu Erweiterungen von uns selbst geworden. Unsere tägliche Interaktion mit intelligenten algorithmischen Systemen und die Macht, die wir bereits in vielen Bereichen unseres Lebens an Maschinen abtreten, haben zu neuen, miteinander verwobenen Realitäten geführt, die von Menschen und Algorithmen oder intelligenten Systemen gemeinsam geschaffen werden. Kunst setzt sich mit dieser Gegenwart auseinander und nutzt neue technologische Werkzeuge für die ästhetische Produktion. Aber wie reflektiert Kunst die Auswirkungen technologischen Wandels auf uns, wie greifen Künstlerinnen und Künstler in die gesellschaftlichen Debatten ein?
Schon vor der durch das Corona-Virus ausgelösten Pandemie war unser Leben von der Interaktion mit verschiedenen Bildschirmen geprägt – dem Computer am Arbeitsplatz und zu Hause, dem Fernsehen und natürlich dem allgegenwärtigen Smartphone, das uns immer und überall begleitet. Online und offline sind Begriffe, die heute nicht mehr wirklich greifen – die uralte Dichotomie, die unser Denken und Handeln bestimmt, löst sich zunehmend auf. Wir sind doch eigentlich immer online. Der digitale Wandel untergräbt die Trennung zwischen real und virtuell, wobei das Virtuelle realer erscheint als je zuvor.
Dementsprechend hat der italienische Philosoph Luciano Floridi den Neologismus „onlife“ geprägt, der sich auf die neue Erfahrung einer hypervernetzten Realität bezieht, in der es keinen Sinn mehr macht zu fragen, ob man gerade online oder offline ist. Er beschreibt die zunehmende Unsicherheit der Unterscheidung zwischen Realität und Virtualität als eine der großen Herausforderungen unserer Zeit.
Computergames ermöglichen Gamern weltweit das Spielen in vernetzten virtuellen Umgebungen. Sie sind kulturprägend für eine junge Generation. Längst hat die Game-Industrie die Produktion Hollywoods in den Schatten gestellt.
Mobile Technologien, Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (zusammenfassend als XR bezeichnet) eröffnen uns neue Räume und Möglichkeiten der Interaktion. VR ermöglicht es uns, in virtuelle Welten einzutauchen, während AR die reale Welt mit virtuellen Bildern überlagert.
Wie reagiert die Kunst auf diese radikalen Veränderungen? Wie greifen Künstlerinnen und Künstler in aktuelle Debatten ein? Welche neuen Räume besetzt die Kunst?
Die Auseinandersetzung von Kunst und Technologie hat eine lange Tradition. Technologische Innovationen und die damit einhergehenden Wahrnehmungsverschiebungen haben sich immer auch in der Kunst niedergeschlagen, sagt der Medientheoretiker Marshall McLuhan bereits in den 1960er Jahren und sah die Kunst als Seismograph(en) dieser Veränderungen. Das betrifft die virtuelle Erweiterung unserer Bildwelten ebenso wie die globale Vernetzung durch das Internet oder die Möglichkeiten der Nutzung künstlicher Intelligenz.
Mit Virtual Reality zum Beispiel experimentierten Künstlerinnen und Künstlern schon in den 1980er Jahren, aber die Technologie war damals sehr komplex, sehr teuer und auch unhandlich, sodass sie sich auf dem Markt nicht durchsetzen konnte. Die zu der Zeit entstandenen Werke waren nur auf speziellen Medienkunstfestivals zu sehen, wo man auf die Präsentation solch komplexer Technologie spezialisiert war. Virtual Reality war damals weit entfernt von einem massentauglichen Einsatz, der einen kommerziellen Erfolg verhinderte. Mittlerweile sind VR-Brillen erschwinglich und handlich geworden.
2017 realisierte das Haus der Elektronischen Künste in Basel, kurz HEK, mit „Die ungerahmte Welt“ die erste Ausstellung in der Schweiz, die die künstlerische Nutzung von virtueller Realität vorstellte. Speziell ist bei dieser Technologie, dass wir Kunstwerke erleben, statt sie nur zu betrachten. In der virtuellen Realität gibt es keine Distanz mehr zu der präsentierten Erlebniswelt. Man befindet sich mitten in ihr, wird zum Mittelpunkt einer digital erschaffenen Welt. Das besondere an der VR ist, dass sie ein personalisiertes virtuelles Erlebnis ermöglicht. Jeder von uns wird sich unterschiedlich in der virtuellen Welt bewegen und in anderer Weise mit der virtuellen Umgebung interagieren.
In „Just a Nose“, einer VR-Installation der amerikanischen Künstlerin Rachel Rossin, tauchen die Teilnehmenden in eine bewegte See ein – sie befinden sich einmal über und auch wieder unter Wasser. Die Interaktion ist intuitiv – eine hornähnliche Nase, die als Bug eines Segelschiffs gesehen werden kann, wird als Verlängerung des eigenen Gesichts erlebt. In der virtuellen Umgebung schweben und schwimmen bemalte Stoffstücke umher und fast automatisch versucht man, durch Bewegung des Kopfes nach ihnen zu greifen. Im Ausstellungsraum befinden sich ähnlich abstrakte Gemälde der Künstlerin. Als Vorlagen der digitalen wie realen Malereien dienen Rossin wiederum deformierte Versionen realer Objekte aus ihrem persönlichen Umfeld, die sie dann als digitalisierte Form in den virtuellen Raum überträgt. So findet bereits in der Gestaltung der virtuellen Welt eine Verschachtelung realer und virtueller Elemente statt. Für Rachel Rossin ist es wichtig, die Bezüge zwischen diesen Räumen für die Besucherinnen und Besucher erfahrbar zu machen.
Die VR-Installation „10.000 moving cities – same but different“ des Schweizer Künstlers Marc Lee beschäftigt sich mit den Themen Urbanisierung und Globalisierung im digitalen Zeitalter. Zu sehen ist die Simulation einer Stadtlandschaft, visualisiert auf schlichten Kuben. Deren Bild- und Klangwelten werden kontinuierlich öffentlich gepostet, gespeist in Echtzeit aus Material der sozialen Netzwerke wie Flickr, YouTube, Freesound und Twitter.
Die Installation ist wie ein Fenster zur Welt aus der Perspektive des globalen Publikums. Wählt man beispielsweise die Stadt Basel aus, so erscheinen zahllose Bilder der Stadt, die von Touristen oder Einheimischen stammen. Lee lädt uns zu einer virtuellen Reise um den Globus ein, um in immer wieder neuen Bildcollagen und Klangcollagen lokale, kulturelle und sprachliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Städten zu erfahren.
Beide Beispiele machen deutlich, dass Virtual Reality in der Kunst weit über die der Technologie zugeschriebenen Möglichkeiten der Empathie durch direktes Erleben hinausgeht. Künstlerinnen und Künstler thematisieren die Schnittstellen zwischen realen und digitalen Räumen und auch die Auswirkungen von Social Media‑Technologien auf unsere Wahrnehmung von Welt.
Die Kunst agiert hier als eine Kritik ermöglichende Instanz. In den Arbeiten geht es nicht um ein empathisches Erleben, sondern um eine gesellschaftliche Rückkoppelung, die aufzeigt, wie das neue Medium unseren Sinn für Raum und Zeit, für Soziales, für Privatheit und Öffentlichkeit grundlegend verändert und was es für das Verhältnis von Künstler:innen und Usern zu leisten vermag.
Virtual Reality feiert Erfolge in der Game-Kultur und so verwundert es nicht, dass Facebook 2019 die Firma „Oculus“ für rund zwei Milliarden Dollar kaufte. Die Videobrillen des kalifornischen Herstellers erlauben es ihren Nutzern, in virtuelle 3D‑Welten zu blicken und eröffnen damit Facebook den Markt der Videospiel‑Enthusiasten.
Spiele wie „Fortnite“ sind nicht mehr nur Spiele, sondern auch soziale Orte und ein Medium, über das andere Marken, geistiges Eigentum und Geschichten zum Ausdruck kommen. Die Spielerinnen und Spieler loggen sich nicht nur ein, um zu „spielen“, sondern um mit ihren virtuellen und realen Freunden zusammen zu sein. Früher kamen Teenager nach Hause und verbrachten drei Stunden mit Telefonieren. Heute chatten und sprechen sie mit ihren Freunden zum Beispiel über „Fortnite“, aber nicht über das Spiel. Stattdessen reden sie als Spielende über die Schule, Filme, Sport, Nachrichten, Jungs, Mädchen und mehr. Der Erfolg des Spiels liegt darin, dass die Handlung das ist, was dort passiert und wer dort ist.
Auch Künstlerinnen und Künstler haben die Welt der Games schon längst für sich entdeckt. Sie nutzen das Genre, um konträr zu einer kommerziell geprägten Game‑Industrie spielerisch neue Welten zu erschaffen, die Raum bieten für Weltentwürfe jenseits stereotypischer Identitäten und Handlungsstrukturen. Sie wollen Räume für Reflexion und Möglichkeiten zu mehr Inklusion – Selbstbestimmung und Teilhabe – schaffen.
2021 widmete sich die Ausstellung „Radical Gaming“ am Basler Haus der Elektronischen Künste diesem Thema. Zwei Beispiele können die dabei angewandten Strategien aufzeigen, die von subversiven Eingriffen in stereotypische Strukturen und Handlungsmuster von Games bis hin zur Erschaffung alternativer Weltmodelle und Lebensentwürfe reichen.
Die künstlerische Arbeit „Pastoral“ von Theo Triantafyllidis lud ein, sich auf Heuballen niederzulassen und als transsexueller Ork, ein fiktives nichtmenschliches Wesen, per Joystick eine friedliche Landschaft zu erkunden. Subversiv unterläuft der Künstler in seinem Spiel das Genre von Fantasy-Welten, die üblicherweise von Elfen, Drachen oder Orks bevölkert und durch eine Logik der Gewalt und herrschaftlichen Dominanz gekennzeichnet sind. In Triantafyllidis‘ Welt dagegen gibt es weder Kriege noch Kämpfe. Die Spielenden sind eingeladen, einfach einen Moment der Ruhe in einem Weizenfeld zu genießen und ganz neue Seiten des Ork-Seins kennenzulernen.
Die in Caracas geborene Künstlerin Miyö Van Stenis erforscht in ihrem Spiel „Eroticissima“ die Möglichkeit einer geschützten virtuellen Welt für erotische Begegnungen, in der verschiedene sexuelle Identitäten und Verhaltensweisen ausgelebt werden können. Natürlich gibt es auch in der Spieleindustrie bereits viele erotische Spiele, doch handelt es sich dabei oft um Erlebnisse für einzelne Spieler, die sich in erster Linie an ein männliches Publikum richten. Für die Ausstellung im HEK entwickelte Van Stenis ein erotisches Multiplayer-Spiel mit lustvollem Beisammensein in der Virtuellen Realität, das übliche Stereotypen umgeht, was immer noch ein Novum ist.
Neben virtuellen Welten und der globalen Game-Kultur war in den letzten Jahren das Thema Künstliche Intelligenz besonders prägend und herausfordernd. In den letzten Jahren hat die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz riesige Fortschritte gemacht. KI wird als die wichtigste und unsere Welt verändernde Technologie des 21. Jahrhundert beschrieben: als wahrer „Game Changer“. Möglich wurden diese immensen Fortschritte durch den Einsatz des sogenannten „Machine Learning“. Früher waren es Wissenschaftler, die die Lernschritte künstlicher Intelligenz vorgegeben haben – basierend auf mathematischer Logik. Die Maschine war dann einfach nur viel besser im Prozessieren von Daten. So konnte IBMs Computer „DeepBlue“ 1996 Garry Kasparov beim Schach schlagen.
Im sogenannten „re-inforcement learning“ werden die Maschinen unabhängig von künstlichen neuronalen Netzwerken, die heute hauptsächlich als Methode des maschinellen Lernens eingesetzt werden. Sie lernen anhand von Millionen von Beispielen, die dank der heute zugänglichen großen Datenmengen verfügbar sind, wie beispielsweise ein Hund oder eine Katze aussieht. Die Wege aber, wie die Maschine lernt und ihre Ergebnisse erzielt, sind für uns oft nicht mehr nachzuvollziehen – daher auch der poetische Name „DeepDream“ für die 2015 von Google veröffentlichte Software, die auf dem Prinzip eines künstlichen neuronalen Netzes basiert.
Künstliche Intelligenz fußt auf „Machine Learning“ und ist heute omnipräsent im Einsatz: als Smart-Assistant wie Siri oder Alexa, in selbstfahrenden Autos, in der Steuerung der Verkehrsinfrastruktur, den globalen Börsen, selbst in militärischen Drohnen. Sie ist bereits Teil der sozialen, materiellen und wirtschaftlichen Grundlagen unseres täglichen Lebens. Das macht KI zu einem politischen Werkzeug, einer Macht, die bestehende Verhältnisse umzugestalten vermag und deren Gestaltung wir deshalb auch nicht allein Programmierern überlassen dürfen. Dieser Prozess war ein schleichender und so schreibt der israelische Historiker und Schriftsteller Yuval Noah Harari in seinem Buch Homo Deus treffend, dass das Ende der Menschheit nicht von Maschinen der Science Fiction-Vorstellung eines „Terminators“ bedroht wird, sondern durch intelligente Software, die uns komplett zu manipulieren versteht.
Eine weitere Ausstellung am Haus der Elektronischen Künste in Basel, „Entangled Realities“ über die Verwobenheit unserer Realitäten, die schon heute von synthetischen Systemen mitgestaltet werden, präsentierte Werke, in denen KI als künstlerisches Werkzeug zum Einsatz kommt, aber auch solche, die die Auswirkungen von KI kritisch reflektieren.
Der Münchner Künstler Mario Klingemann ist ein Pionier in der Arbeit mit KI. Die Algorithmen und Datensätze, mit denen er seine KI-Systeme trainiert, entwickelt er selbst. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei Gesichtern, Körpern und generell der menschlichen Identität. Was ihn an KI als Künstler interessiert, ist die Fähigkeit zu überraschen.
Für seine Installation „Uncanny Mirror“ trainiert Mario Klingemann eine KI, um Datensätze zu interpretieren und gleichzeitig neue und unerwartete Bilder zu erzeugen. Die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung begegnen beim Eintreten in den Raum ihrem eigenen Abbild auf einem großformatigen Bildschirm – allerdings nicht als Spiegelbild, sondern wie sie von einer KI interpretiert und „gesehen“ wurden. Diese Interpretationen des eigenen Gesichts durch eine KI haben tatsächlich etwas Unheimliches.
Klingemanns KI lernte während der Dauer der Ausstellung anhand der Gesichter der Besucherinnen und Besucher. Wir selbst tragen ständig dazu bei, KI-Systeme zu trainieren. Wir tun dies natürlich oft unabsichtlich, wenn wir beispielsweise die Gesichter von Freunden auf Social Media-Plattformen mit Tags versehen und damit die Gesichtserkennung von KI-Systemen verbessern.
Mit dem Training von KI-Systemen sind auch spezifische Jobs entstanden, zum Beispiel Crowdworking-Plattformen, für die für wenig Geld Bilder kategorisiert werden, damit die Maschinen lernen, Objekte zu erkennen. Diesem Thema widmet sich Sebastian Schmieg mit seiner Arbeit „Segmentation.Network“. Ihn interessiert, wie wir, bewusst oder unbewusst, an der Optimierung von KI-Systemen beteiligt sind, die wiederum Tätigkeiten des Menschen übernehmen und die Arbeitslandschaft nachhaltig verändern. In „Segmentation.Network“ zeigt Schmieg, wie Menschen simple Aufgaben ausführen, um künstliche Intelligenzen zu trainieren, wie beispielsweise das Zeichnen von Umrisslinien. Dies dient dazu, maschinellen Systemen zu helfen, Objekte zu erkennen.
Erschreckend an KI ist oft, dass die Prozesse der Entscheidungsfindung nicht nachvollzogen werden können. Einen Blick hinter diese „Black Box“ ermöglichte die Videoinstallation „Behold these Glorious Times!“ von Trevor Paglen, einem amerikanischen Künstler. Die Installation erlaubt uns einen Einblick in die Art und Weise, wie Maschinen die Welt anhand von Daten erfassen und interpretieren. Paglen zeigt eindrücklich, wie künstliche Intelligenz mit unzähligen Daten (sogenannten Training-Sets) von Menschen trainiert wird. So lernen neuronale Netzwerke Muster mittels einer automatisierten Gesichts- und Objekterkennung zu ‹sehen›. Der Bilderstrom löst sich in der Videoinstallation allmählich auf in einzelne Bildpixel und zeigt, wie die Bildverarbeitung des Systems die eingespeisten Bilder analysiert, interpretiert und als Daten verarbeitet. Die riesige Menge an Bildern ist für das menschliche Auge kaum zu erfassen, für die Maschine ist das jedoch kein Problem.
Unsere Lebenswelt wird schon längst von KI mitgeprägt. Wie können wir dieses neue Miteinander zwischen Mensch und Maschine bewusst gestalten, wenn wir unsere Leben mit „intelligenten“ Objekten und Systemen teilen? Es war in den Ausstellungen zu beobachten, dass KI zunehmend in den künstlerischen Werken auch für das Erkennen und Bewerten von Emotionen eingesetzt wird.
Große Technologieunternehmen versuchen täglich, unser Verhalten zu manipulieren, indem sie unsere Emotionen über Smartphones, Laptops, und andere smarte Geräte zu triggern versuchen. Unser Herzschlag, unsere Transpiration, Sprechweise oder Körpersprache werden von Smart Watches oder Fitness Trackers, Webcams sowie Gesichts- und Körper-Erkennungssystemen überwacht.Als „Überwachungskapitalismus“ bezeichnet die amerikanische Soziologin Shoshana Zuboff diese Entwicklung, in welcher der kleine Rest an Privatsphäre unserer persönlichen Daten ebenfalls zur Ware geworden ist und dies selbstverständlich ohne Gegenleistung. Emotionen und Gefühle sind nun Teil dessen, was Zuboff als Warenmarkt betrachtet, auf dem Verhaltensdaten von großen Technologieunternehmen wie Facebook oder Google gekauft und verkauft werden.
Neben der vielfältigen Auseinandersetzung mit KI widmen sich künstlerische Arbeiten auch unseren zunehmenden Interaktionen mit Humanoiden, also nicht‑menschlichen oder künstlichen Wesen, die über ein menschenähnliches Äußeres und menschenähnliche Eigenschaften verfügen, und anderen Robotern, die im Alltag eine immer größere Rolle spielen werden. Sie kommen als intelligente Assistenten in unsere Wohnungen, werden in Schulen und Krankenhäusern eingesetzt. Wir sehen sie in einfühlsamen Rollen, zum Beispiel wenn humanoide Roboter wie Pepper älteren Menschen Gesellschaft leisten oder wenn die Robbe Paro, die auf Berührung mit Bewegungen und Geräuschen reagiert, in Pflegeheimen eingesetzt wird. Angetrieben durch KI können einige von ihnen sogar unsere Stimmung und Emotionen analysieren und entsprechend reagieren, obwohl diese „Empathie“ rein auf Mustererkennung beruht. Natürlich werfen diese Entwicklungen eine Menge ethischer Fragen auf.
Wenn sich die emotionale Intelligenz der Menschen und jene der Maschinen annähern – wissen wir dann noch, wie wir wirklich fühlen? Wer kontrolliert jetzt unsere Emotionen? Beginnt die Technologie, Einfluss darauf auszuüben, wie wir fühlen? Diese schwierigen Fragen und viele weitere wurden 2020 in der Ausstellung „Real Feelings. Emotionen und Technologie“ aufgeworfen.
Ein Beispiel ist die Arbeit „Vibe Check“ des amerikanischen Künstlerduos Lauren Lee McCarthy & Kyle McDonald. Auf einer Reihe von sechs Bildschirmen wurden Menschen während des Ausstellungsbesuchs in der Interaktion mit anderen porträtiert, das KI-System schrieb ihnen bestimmte Emotionen zu.
So stand beispielsweise über dem Bild eines Pärchens, das in das Lesen des Ausstellungshefts vertieft war, der Kommentar: Sie machen uns traurig.
Wie kam es zu dieser Interpretation? In der Ausstellung „Real Feelings“ sind an verschiedenen Orten Kameras installiert, die Besuchende und ihre Interaktionen mit anderen filmen. Ein maschinelles Lernsystem analysiert die emotionalen Reaktionen und ordnet sie den sogenannten sechs universellen Emotionen zu: glücklich, überrascht, ängstlich, angewidert, wütend und traurig. Die KI reagiert auf Basis einer biometrischen Emotionserfassung in der Interpretation zwischenmenschlicher Beziehungen. Lachende Gesichter konnten meist eindeutig interpretiert werden, aber ansonsten zeigte die Installation treffend, wie überfordert eine KI mit der Analyse von Emotionen immer (noch) ist.
Wie reflektiert Kunst die Auswirkungen technologischen Wandels auf uns, wie greifen Künstlerinnen und Künstler in die gesellschaftlichen Debatten ein?
Diese Arbeit war Teil eines Versuchs, sich den Fragen aus der Perspektive der Kunst zu stellen und uns auch den neuen Gefühlen zuzuwenden, für die wir noch nicht die Worte gefunden haben, mit denen wir sie beschreiben können.
Eine aktuelle Ausstellung am Haus der Elektronischen Künste widmet sich dem Thema des ökologischen Wandels und der Klimakrise. Wir werden immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie wir Technologien für ein besseres Verständnis der Natur einsetzen können: als Technologien der Fürsorge statt der Dominanz.
Technologien helfen uns, einem Fluss eine Stimme zu geben, indem wir den Verschmutzungsgrad überwachen oder einen Vogelschwarm verfolgen und seine Wandergewohnheiten besser verstehen. Dafür kann KI im positiven Sinne eingesetzt werden. Ein wichtiger Aspekt der Ausstellung war, Medientechnologien als Kommunikationssysteme zu verstehen, in denen relevante Akteure – von Menschen und Tieren bis hin zu organischen und anorganischen Substanzen – in ständigem Austausch und Interaktion stehen. Mehrere Werke präsentieren, wie ein Bewusstsein für das nicht-menschliche Andere geschaffen werden kann.
In „Edaphon Braggio“, einer Klanginstallation des Schweizer Künstlers Marcus Maeder, wird der Klang der Erde erfahrbar. Eine schwarze Holzplatte auf einem Sockel skizziert den Umriss der Karte des Naturgebiets in der Gemeinde Braggio im Calancatal in Graubünden in der Schweiz. Heulende, rumpelnde und brummende Geräusche erfüllen den Raum und werden durch Berühren der Platte spürbar.
„Edaphon“ bezieht sich auf den vom Mikrobiologen Raoul Heinrich Francé geprägten Begriff für die Gesamtheit unterirdischen Lebens. Maeder hat ein speziell angefertigtes Kontaktmikrofon verwendet, um das akustische Leben der Bodenbewohner einzufangen. Ameisen, Heuschrecken und andere Arten kommunizieren und navigieren akustisch miteinander, indem sie die von ihren Körpern erzeugten Vibrationen und Reibungen nutzen. Der Klang variiert von Boden zu Boden, so dass ein Wald anders klingt als eine Wiese.
In „Atmospheric Forest“ des lettischen Künstlerduos Rasa Smite und Raitis Smits können Besucherinnen und Besucher mittels VR-Installation in 3D-Scans eines digitalisierten Waldes eintauchen und die komplexen Zusammenhänge zwischen den klimatischen Veränderungen und deren Einfluss auf die flüchtigen Emissionen von Bäumen anschaulich erleben. Ein Waldgebiet der Schweizer Alpen, das unter starker Trockenheit leidet, wird seit Jahren von Wissenschaftlern erforscht. Dem Künstlerpaar dienten diese wissenschaftlichen Daten als Grundlage ihrer Visualisierung und klanglichen Vertonung. Technologische Forschung schafft meist Distanz, aber durch ihre ästhetische Übertragung gelingt es Smite und Smits, uns diese unsichtbaren Prozesse, die Wechselwirkungen zwischen dem Ökosystem Wald und der Atmosphäre und ihrer klimabedingten Veränderungen nachvollziehbar zu machen.
Auch die beiden Künstler Sissel Marie Tonn und Jonathan Reus schufen eine interaktive Installation, „The Intimate Earthquake Archive“, die haptische Wahrnehmung von durch Menschen verursachten Erdbeben mit Hilfe von tragbaren Westen ermöglicht. Tonn durchforstete zahlreiche Archive und die Datenbank des Niederländischen Meteorologischen Instituts nach Gasbohrungen in der niederländischen Provinz Groningen der letzten 34 Jahre und den damit ausgelösten Erdbeben. Besucherinnen und Besucher können Aufnahmen daraus erkunden, indem sie sich mit den tragbaren Westen zwischen eine Reihe von funkübertragenden Bohrkernen stellen. Jede von ihnen sendet den Datensatz eines der acht stärksten von Menschen verursachten Erdbeben. Die Archivdaten werden durch direkte Manipulation in Klangvibrationen übersetzt. Die Installation versucht, die digitalisierte seismische Aktivität mit dem fühlenden Organismus zu verbinden.
Die körperliche Erfahrung und das In-Kontakt-Kommen sind demnach ein wichtiger Aspekt der Ausstellung – das Mitmachen, das Spüren mit dem eigenen Körper.
Die künstlerische Auseinandersetzung mit Technologien und Nutzung von Technologien in der Kunst ist vielfältig.
Die Umsetzungen reichen von Virtual Reality über Gamewelten bis hin zu interaktiven Installationen. Neben der künstlerischen Form zeigt sich eine tiefe inhaltliche Auseinandersetzung von Kunst und Technologie, die sich mit den Transformationen unserer Lebenswelt und Lebensweise im digitalen Zeitalter beschäftigt und kritisch Stellung nimmt.
Kunst ermöglicht uns einen Perspektivenwechsel – im besten Fall lässt sie uns die Welt neu erleben und neu entdecken. Im Gesamtkanon der Kunst ist die Medienkunst der Brutkasten für neue künstlerische Strategien und neue bildnerische Ausdrucksformen, aber auch für ein kritisches Bewusstsein gegenüber der Nutzung von neuen Technologien.