Auf diesen Shitstorm war AfD-Vize Alexander Gauland nicht vorbereitet. Im Mai 2016 sagte er Journalisten der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" ins Mikrophon: "Die Leute finden Jérôme Boateng als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben." Der Protest kam aus allen Ecken, Hunderttausende wünschten sich plötzlich nichts sehnlicher, als den dunkelhäutigen Berliner zum Nachbarn. Jenseits der politischen Dimension dieser Aussage – ganz klar, sie war rassistisch – ist eine andere Frage von Bedeutung: Was ging eigentlich bei dem denkwürdigen Interview in Gaulands Gehirn vor sich? Nüchtern betrachtet hat er zunächst einmal undifferenziert Kategorien gebildet.
"Wir müssen ja 'Kategorisierungen' so sehen, wir sehen etwas und ordnen das in bestimmte Schubladen ein."
Im Falle des AfD-Vizes sind dunkelhäutige Menschen unbeliebt - so Professor Boris Suchan, Leiter der Arbeitsgruppe "Klinische Neuropsychologie" an der Ruhr-Universität Bochum. Das ist eine von unendlich vielen Kategorisierungen, die das menschliche Gehirn ununterbrochen produziert. Die allermeisten sind verglichen mit der Boateng-Aussage harmlos.
"Wir können einen Wolfshund sehen, wir können einen Wolf sehen und sagen, das sind wilde Tiere. Wir müssen aber den entscheidenden Unterschied treffen und sagen, der eine ist ein domestizierter Hund, der tut mir nichts, aber wenn ich im Wald in Bayern spazieren gehe und mir kommt ein derartiges Tier entgegen, dann muss ich die Unterscheidung treffen, das ist die Ausnahme, das ist ein Wolf, da muss ich vorsichtig sein."
Die Einteilung in "gefährlich" oder "ungefährlich" läuft automatisch ab. Und eingeteilt wird eigentlich alles, was Menschen optisch wahrnehmen: Pilzsucher kategorisieren in "essbare" und "ungenießbare" Pilze; wer nachts durch einsame Straßen geht und jemanden auf sich zukommen sieht, muss sofort das Gefahrenpotenzial einordnen; wer Straßen überquert und den Unterschied zwischen parkenden und fahrenden Autos nicht erkennt, hat nur eine begrenzte Lebenserwartung. Mit moderner Bildgebung wie der Magnetresonanztomografie konnten Professor Boris Suchan und sein Team Probanden sogar beim Schubladendenken zusehen.
"Das Experiment sah so aus, dass die Leute Zuordnung von Elementen von der einen oder zur anderen Familie lernen mussten. Die sahen also Kreise mit bestimmten Farben drin und mussten lernen, dieser Kreis gehört in die Familie A, dieser Kreis in die Familie B. Das ist relativ simpel, aber wir haben noch einen Trick gemacht, wir haben einen Kreis reingesetzt, der noch zur Familie 1 gehört, aber wie ein uneheliches Kind der Familie 2 aussah, das heißt, der hatte viel mehr Ähnlichkeit zur ersten Familie. Und das war auch so der Hintergrund der Studie, das wir gucken wollten, wie lernt man die einfache Zuordnung und wie lernt man die Ausnahme."
Das Gehirn aktiviert für die Einteilung der Umwelt in Kategorien gleich drei Bereiche. Als überraschendes Ergebnis kam dabei auch heraus, dass die Fähigkeit zum Schubladendenken keineswegs bei allen Menschen gleich ausgeprägt ist. Ältere haben größere Probleme mit dem Kategorisieren, Jüngere, vor allem Computerspieler, sind dagegen ausgesprochen fit beim Einteilen der Welt in Schubladen. Da dieser Prozess unentwegt und automatisch abläuft, muss er eine große Bedeutung haben. Aber welche?
"Naja, das ist für uns überlebenswichtig, zu wissen, das ist der Hund und das der Wolf, das macht unser Leben ja auch einfacher. Schubladendenken hat ja so ein bisschen was Negatives an sich, aber es hilft uns ja auch im Alltag. Wenn ich erst einmal eine gewisse Vorstellung habe, das gehört in die eine Kategorie, das in die andere Kategorie, kann ich mich schneller entscheiden."
Auf der anderen Seite zwingt Schubladendenken Menschen in ein intellektuelles Korsett.
"Das ist natürlich das Problem dabei! Wenn ich zu festgelegt bin und immer nur in den Schubladen denke, fehlt mir die Flexibilität, ich kann vielleicht nicht so locker und flexibel reagieren, ich kann auch keine neuen Erfahrungen machen. Vielleicht, wenn dann doch der Pilz da steht, der einem Gefährlichen ähnlich sieht, aber sehr gut schmeckt, und ich probiere es nicht aus, habe ich vielleicht was in meinem Leben verpasst."
Schubladendenken hat zwei Ebenen. Die eine Ebene, der Mechanismus, ist vorgegeben. Wie gut er funktioniert hängt unter anderem ab vom Alter und wahrscheinlich von der Plastizität des Gehirns. Die zweite Ebene betrifft konkrete Inhalte, die das Gehirn in Kategorien aufteilt. Diese Inhalte verändern sich mit dem Alter und der individuellen Lebenssituation – und sie werden erlernt!
"Das ist ja so ein bisschen der Ansatz, den wir mit den Ausnahmen geschaffen haben. Das heißt, ich muss lernen, er gehört in diese Kategorie, obwohl er viel, viel mehr Ähnlichkeit mit einer anderen Kategorie hat, das heißt, da lerne ich ja dazu, da habe ich nicht nur diese ganz simple einfache Zuordnung, sondern ich habe auch etwas, was extra gelernt werden muss und was in seinen Besonderheiten auch erfasst werden muss."
Kategorisiert werden nicht nur Hunde, Wölfe und Pilze, kategorisiert wird auch soziales Verhalten oder Eigenschaften, die soziales Verhalten angeblich beeinflussen – siehe Gaulands Schluss, dunkle Hautfarbe sei eher unbeliebt. Auch diese Kategorien verfestigen oder ändern sich durch Lernprozesse.
"Wir haben eine bestimmte Vorerwartung, wir haben ein bestimmtes Schema, wir haben bestimmte Muster, und die lösen bei uns erst einmal so ein Schubladendenken aus. Wenn wir dann mit den Leuten sprechen, wird dann ja meist dieses Urteil revidiert, das heißt, der ist ja doch ganz nett, der wirkte vorher ganz anderes, der wirkte reserviert, ist dann doch sehr freundlich, oder arrogant, ist dann doch nicht arrogant. Das ist zunächst einmal der erste Eindruck, der zählt, das ist auch bei Bewerbungsgesprächen so, erst kommt der erste Eindruck und der wird dann entweder erhärtet oder wird aufgeweicht und vielleicht sogar ins Gegenteil umgewandelt."
Das kann so sein, muss es aber nicht. Wertesysteme lassen sich nur schwer ändern. Einen Versuch mit AfD-Vize Alexander Gauland wäre es allemal wert.
"Naja, wenn wir jetzt auf die Fußballeuropameisterschaft zurückgehen und sagen, okay, dann setzen wir eben den Herrn Boateng als Nachbar zu einem der AfD-Oberen, vielleicht würde der ganz andere Erfahrungen machen. Ob der das dann politisch umsetzt, ist eine andere Sache. Aber grundsätzlich wäre das eine Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln und vielleicht wirklich die Informationen über andere Leute anders zu wichten oder aufzufüllen."
Und was sagt Jérôme Boateng zu dem Trubel?
"Für mich ehrlich gesagt, habe ich nichts zu sagen, ich kann da nur drüber lächeln und es ist traurig, dass heute noch sowas vorkommt, ja, ich glaube, mehr muss ich dazu nicht sagen."