Die Brontës leben zwar in Acassuso, dem Reichenvorort von Buenos Aires, doch Idylle sieht anders aus: Man lebt kommunikationslos nebeneinander her. Sasha geht erst fremd und verlässt dann die Familie, ihr Ehemann, ein permanent depressiver Schriftsteller, interessiert sich nur für sich selbst, und der Sohn dealt. In diesem Chaos achtet niemand auf Lala, die schweigsame, kaum der Pubertät entwachsene Tochter des Hauses. Nur für Serafín, den Hund, ist sie das Zentrum des Universums. Er ist ihr Schatten, weicht ihr auch in den intimsten Situationen nicht von der Seite und kann so mit frecher Schnauze und aus der Rückschau Lalas und seine Geschichte erzählen:
"Die anderen Hunde interessierten sie nicht. Und obwohl die verflixte Tierärztin sie darauf hinwies, dass der neben mir eine bessere Schnauze hatte, entschied sie sich für mich. Ununterbrochen redete sie auf mich ein, bis wir zuhause ankamen (sie hat mich immer wie einen Erwachsenen behandelt). Und noch an demselben Tag besiegelten wir unseren Pakt: Ich war zwar als Geschenk für Sasha, ihre Mutter, gedacht, eigentlich gehörte ich aber ihr. Ich bepinkelte sie ein bisschen, um zu zeigen, dass ich kapiert hatte."
Ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht Lala mit der gleichaltrigen Lin, die von allen nur Guayi genannt wird, und was als Austausch von Zärtlichkeiten begann, wird Liebe. Guayi ist das paraguayische Hausmädchen der Brontës. Als Lala erkennt, dass ihr Vater die Guaraní-Indianerin dazu zwingt, auch mit ihm zu schlafen, vergiftet sie ihn und flieht samt Hund in Guayis Heimatdorf in Paraguay. Während Lala dort auf die Geliebte wartet, erfährt sie von Guayis Großvater mehr über deren Schicksal. Sie war mit 13 Jahren schwanger und vom Vater des Kindes verlassen worden. Guayis Großvater erzählt Lala eine unglaubliche Geschichte über das Baby:
"Es wurde um ein Uhr morgens geboren. Mit Augen, die so hell waren, dass sie weiß schienen. Lin hob es aus dem Wasser, um es in den Arm zu nehmen. Das Baby weinte nicht, es öffnete den Mund zum Schrei, gab aber keinen Ton von sich. Wenige Minuten später drohte es zu ersticken. Lin sah mich an. Dann tauchte sie es wortlos wieder unter Wasser. Sie hielt den kleinen Körper fest ... so ... bis das Baby die Augen öffnete ... und den Mund ... Und zu atmen begann."
Im Dorf erzählt man sich von einem Fischkind:
"Niemand hat es jemals gesehen. Es ist eine Legende der Leute aus dem Ort. Man erzählt sich, es lebe im See. Dass es die in die Tiefe lockt, die ertrinken."
Für Lala ist klar: Guayis Baby muss das Fischkind sein. Erst viel später wird sie erfahren, was wirklich passiert ist.
Als Guayi auch nach Wochen nicht auftaucht, macht sich Lala auf die Suche nach ihr und findet heraus, dass man sie wegen Mordes an Lalas Vater in ein Jugendgefängnis gesteckt hat. Guayi hatte die Freundin also nicht verraten, sondern die Schuld auf sich genommen. Nach einem Besuch bei ihr beschließt Lala, sich zu stellen und geht zur Polizei:
" Lala ahnte, dass, was auch immer sie aussagen würde, zusammengeknüllt im Papierkorb landen würde. Wie konnte es nur so schwer sein, zu beweisen, dass man schuldig war? Alles gestehen, sich stellen, um Gerechtigkeit bitten. ... Die Welt wurde ihr zum Rätsel. Und das Problem war allein ihres: Um sie herum schienen alle mit dem Lauf der Dinge einverstanden zu sein. "
Lucía Puenzo hat eine verkehrte Welt geschaffen, mag der deutsche Leser denken, doch ihr Roman beschreibt argentinischen Alltag: Man toleriert, wenn der Herr des Hauses das Dienstmädchen verführt. Und lesbisch zu sein, das mag noch angehen, aber dass sich ein Mädchen aus der Oberschicht in eine Hausangestellte verliebt - das ist undenkbar, ein Tabubruch, sozusagen. Es entspricht der Logik dieser Klassengesellschaft, dass man den Mord dem Hausmädchen in die Schuhe schiebt, traut man doch "denen da unten" alles zu. Und wenn die Tante im Verein mit der Polizei dafür sorgt, dass Lalas Geständnis tatsächlich im Papierkorb landet, liegt angesichts der Korruption in der Polizei auch das im Bereich des Möglichen.
Als Lalas legale Versuche, ihre Geliebte aus dem Gefängnis zu holen, nichts fruchten, greift sie zu Methoden, die Puenzo blutigem Action-Kino abgeschaut hat: Lala befreit Guayi. Sie stürmt die Villa, in die die jugendlichen Straftäterinnen von ihren Wärterinnen des Nachts gekarrt werden, um dort perversen, reichen Männern zu Diensten zu sein. Auch hier hat die Wirklichkeit Pate gestanden, denn es kommt immer wieder vor, dass argentinisches Gefängnispersonal seine Schutzbefohlenen dazu zwingt, nachts auf Beutezug zu gehen. Diejenigen, die etwas daran ändern könnten, scheren sich selten um Menschen, die nicht ihrer sozialen Klasse angehören.
Man kann Lucía Puenzos Roman als eine Anklage gegen eine oberflächliche, korrupte Oberschicht lesen, die sämtliche menschlichen Werte über Bord geworfen hat, die eine Sechzehnjährige gnadenlos ausbeutet und ihre Freundin völlig sich selbst überlässt, lediglich auf die Treue eines Hundes zurückgeworfen. Doch Puenzos Buch hat noch eine Facette, eine private: Die Autorin testet aus, wie weit die Liebe Menschen treiben kann, junge Menschen zumal, die wie Lala und Guayi bereits oft enttäuscht worden sind. Serafín beschränkt sich darauf, präzise zu beschreiben, war er sieht und hört. Und er stellt für den Leser die Dinge klar, wenn ein Mensch mit seinen Äußerungen dem widerspricht, was seine wachsamen Hundeaugen wahrgenommen haben. Serafíns Kodderschnauze, leider stellenweise zu nah am Spanischen und damit etwas ungelenk übersetzt, bewahrt Puenzo davor, pathetisch zu werden, wenn sie über die Macht dieser Liebe schreibt. Ein lesenswertes Buch, das auch auf den Film neugierig macht.
Lucía Puenzo: Das Fischkind. Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009. 160 Seiten, 16,90 Euro
"Die anderen Hunde interessierten sie nicht. Und obwohl die verflixte Tierärztin sie darauf hinwies, dass der neben mir eine bessere Schnauze hatte, entschied sie sich für mich. Ununterbrochen redete sie auf mich ein, bis wir zuhause ankamen (sie hat mich immer wie einen Erwachsenen behandelt). Und noch an demselben Tag besiegelten wir unseren Pakt: Ich war zwar als Geschenk für Sasha, ihre Mutter, gedacht, eigentlich gehörte ich aber ihr. Ich bepinkelte sie ein bisschen, um zu zeigen, dass ich kapiert hatte."
Ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht Lala mit der gleichaltrigen Lin, die von allen nur Guayi genannt wird, und was als Austausch von Zärtlichkeiten begann, wird Liebe. Guayi ist das paraguayische Hausmädchen der Brontës. Als Lala erkennt, dass ihr Vater die Guaraní-Indianerin dazu zwingt, auch mit ihm zu schlafen, vergiftet sie ihn und flieht samt Hund in Guayis Heimatdorf in Paraguay. Während Lala dort auf die Geliebte wartet, erfährt sie von Guayis Großvater mehr über deren Schicksal. Sie war mit 13 Jahren schwanger und vom Vater des Kindes verlassen worden. Guayis Großvater erzählt Lala eine unglaubliche Geschichte über das Baby:
"Es wurde um ein Uhr morgens geboren. Mit Augen, die so hell waren, dass sie weiß schienen. Lin hob es aus dem Wasser, um es in den Arm zu nehmen. Das Baby weinte nicht, es öffnete den Mund zum Schrei, gab aber keinen Ton von sich. Wenige Minuten später drohte es zu ersticken. Lin sah mich an. Dann tauchte sie es wortlos wieder unter Wasser. Sie hielt den kleinen Körper fest ... so ... bis das Baby die Augen öffnete ... und den Mund ... Und zu atmen begann."
Im Dorf erzählt man sich von einem Fischkind:
"Niemand hat es jemals gesehen. Es ist eine Legende der Leute aus dem Ort. Man erzählt sich, es lebe im See. Dass es die in die Tiefe lockt, die ertrinken."
Für Lala ist klar: Guayis Baby muss das Fischkind sein. Erst viel später wird sie erfahren, was wirklich passiert ist.
Als Guayi auch nach Wochen nicht auftaucht, macht sich Lala auf die Suche nach ihr und findet heraus, dass man sie wegen Mordes an Lalas Vater in ein Jugendgefängnis gesteckt hat. Guayi hatte die Freundin also nicht verraten, sondern die Schuld auf sich genommen. Nach einem Besuch bei ihr beschließt Lala, sich zu stellen und geht zur Polizei:
" Lala ahnte, dass, was auch immer sie aussagen würde, zusammengeknüllt im Papierkorb landen würde. Wie konnte es nur so schwer sein, zu beweisen, dass man schuldig war? Alles gestehen, sich stellen, um Gerechtigkeit bitten. ... Die Welt wurde ihr zum Rätsel. Und das Problem war allein ihres: Um sie herum schienen alle mit dem Lauf der Dinge einverstanden zu sein. "
Lucía Puenzo hat eine verkehrte Welt geschaffen, mag der deutsche Leser denken, doch ihr Roman beschreibt argentinischen Alltag: Man toleriert, wenn der Herr des Hauses das Dienstmädchen verführt. Und lesbisch zu sein, das mag noch angehen, aber dass sich ein Mädchen aus der Oberschicht in eine Hausangestellte verliebt - das ist undenkbar, ein Tabubruch, sozusagen. Es entspricht der Logik dieser Klassengesellschaft, dass man den Mord dem Hausmädchen in die Schuhe schiebt, traut man doch "denen da unten" alles zu. Und wenn die Tante im Verein mit der Polizei dafür sorgt, dass Lalas Geständnis tatsächlich im Papierkorb landet, liegt angesichts der Korruption in der Polizei auch das im Bereich des Möglichen.
Als Lalas legale Versuche, ihre Geliebte aus dem Gefängnis zu holen, nichts fruchten, greift sie zu Methoden, die Puenzo blutigem Action-Kino abgeschaut hat: Lala befreit Guayi. Sie stürmt die Villa, in die die jugendlichen Straftäterinnen von ihren Wärterinnen des Nachts gekarrt werden, um dort perversen, reichen Männern zu Diensten zu sein. Auch hier hat die Wirklichkeit Pate gestanden, denn es kommt immer wieder vor, dass argentinisches Gefängnispersonal seine Schutzbefohlenen dazu zwingt, nachts auf Beutezug zu gehen. Diejenigen, die etwas daran ändern könnten, scheren sich selten um Menschen, die nicht ihrer sozialen Klasse angehören.
Man kann Lucía Puenzos Roman als eine Anklage gegen eine oberflächliche, korrupte Oberschicht lesen, die sämtliche menschlichen Werte über Bord geworfen hat, die eine Sechzehnjährige gnadenlos ausbeutet und ihre Freundin völlig sich selbst überlässt, lediglich auf die Treue eines Hundes zurückgeworfen. Doch Puenzos Buch hat noch eine Facette, eine private: Die Autorin testet aus, wie weit die Liebe Menschen treiben kann, junge Menschen zumal, die wie Lala und Guayi bereits oft enttäuscht worden sind. Serafín beschränkt sich darauf, präzise zu beschreiben, war er sieht und hört. Und er stellt für den Leser die Dinge klar, wenn ein Mensch mit seinen Äußerungen dem widerspricht, was seine wachsamen Hundeaugen wahrgenommen haben. Serafíns Kodderschnauze, leider stellenweise zu nah am Spanischen und damit etwas ungelenk übersetzt, bewahrt Puenzo davor, pathetisch zu werden, wenn sie über die Macht dieser Liebe schreibt. Ein lesenswertes Buch, das auch auf den Film neugierig macht.
Lucía Puenzo: Das Fischkind. Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009. 160 Seiten, 16,90 Euro