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Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Männer und Frauen denken verschieden. Es gibt keinen freien Willen. Aggression liegt in den Genen: Theorien, die von einer "Natur" des Menschen ausgehen, haben derzeit Konjunktur. Mit solchen vermeintlich unumstößlichen Erkenntnissen setzte sich die Tagung "Ontologia - construction" kritisch auseinander.

Von Ingeborg Breuer | 01.10.2009
    Rene John: "Der Ausgangsbefund für die Tagung war so eine Beobachtung, dass einfache Antworten auf komplexe Fragen wieder zunehmen; und zwar, dass die Fragen, wie essen Frauen, wie essen Männer, dass das in der Natur der Frau oder des Mannes einfach begründet ist. Oder die Frage, warum sollten sich Frauen um Kinder kümmern? Ja, weil es ihrer Natur entspricht. Diese Behauptungen stießen uns auf. Da meinten wir, das sind ja Dinge, die in den Jahrzehnten vorher ganz heftig kritisiert wurden, nicht nur aus feministischer Sicht, und dass die jetzt so eine Renaissance haben."

    Männer und Frauen denken verschieden. Es gibt keinen freien Willen. Aggression liegt in den Genen: Theorien, die von einer "Natur" des Menschen ausgehen, haben derzeit Konjunktur. Biologie und Neurowissenschaften beanspruchen, sichere Gründe dafür zu liefern, wie Mensch und Welt wirklich sind, philosophisch gesprochen: was sie "ontologisch" - von ihrem Sein her - sind. Doktor Rene John, Soziologe und Mitveranstalter der Tagung in Hohenheim:

    "Wenn man die Gesellschaft ontologisch betrachtet, bedeutet das, dass man die Welt wahrnimmt als eine Sache, die einem äußerlich ist, auf die man keinen Einfluss nehmen kann. Sondern dass es Dinge gibt, und dass man sie auch erkennen kann, dass sie sind, wie sie sind."

    Mit solchen "letzten" Erkenntnissen setzte sich vergangene Woche die Tagung "Ontologia - construction" kritisch auseinander; wollte die Verkürztheit solcher Thesen aufzeigen, wie sie nach Meinung der Soziologen in den Naturwissenschaften oft entwickelt werden. Doktor Jana Rückert-John, Soziologin an der Universität Hohenheim:

    "Wenn man von dem Gegner sprechen kann, dann kann man Naturwissenschaften generell anfügen und sagen, dass hier einfache Lösungen versucht werden, zu suchen, und hier auf Natur als Ontologie referiert wird. Und was da sehr auffällig wird, ist, dass sich Naturwissenschaft mit ihrem Gegenstand verwechselt: Es ist immer die Wissenschaft über und nicht Natur selbst, die es da zu ergründen gilt. Das ist ein großes Problem."

    Dass auch vermeintlich objektiv zu beobachtende Sachverhalte vom Standpunkt des jeweiligen Beobachters abhängen, veranschaulichte Rene John am Beispiel der historisch wechselnden Beschreibungen männlicher und weiblicher Körper:

    "Bis zum Anfang der Neuzeit wurden die Geschlechtsunterschiede anders konzipiert, nämlich: Die Frau war die inferiore Version des Mannes, nach innen gestülpte Geschlechtsteile. Obwohl anatomisch nichts Neues festzustellen war, wurde das plötzlich anatomisch völlig anders konzipiert, nämlich dass der Frauen und der Männerkörper etwas total anderes sind und nicht mehr ein Kontinuum, sondern ein Bruch. Die Stellung der Frau, die wurde noch mal neu begründet, weil die Frau eine andere Körperlichkeit hat, also zum Beispiel sexuelles Empfinden nicht haben kann wie der Mann. Was im Mittelalter undenkbar war, das war gerade die Voraussetzung für die Frau zu gebären, weil sie dann Lust empfindet, vorher."

    Alles, was die Wissenschaften über den Menschen und die Welt sagen, sind Konstruktionen, so die Stuttgarter Soziologen. Es sind Perspektiven, geprägt durch die jeweilige Zeit, Kultur und ebenso die jeweiligen Machtverhältnisse. Radikal konstruktivistische oder besser gesagt dekonstruktivistische Theoretikerinnen, wie die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Judith Butler, behaupten gar, dass zum Beispiel der Unterschied zwischen den Geschlechtern keineswegs eine zunächst einmal biologische Tatsache ist. Dass vielmehr durch die sprachliche Unterscheidung "das ist ein Mann - das ist eine Frau" die Körper erst gemacht werden. Der männliche und der weibliche Körper sind also nichts Natürliches, sondern - Kultur.

    Aber wird die Wirklichkeit damit nicht zu einer beliebigen Konstruktion? Ist der Konstruktivismus nicht sozusagen ein Weg ohne Wiederkehr, der die Welt aus dem Blick verliert? Weil es die Welt nie da draußen, sondern immer nur verschiedene Welten im Kopf gibt? Die italienische Soziologieprofessorin und Mitveranstalterin der Tagung Elena Esposito:

    "Wie kann ich entscheiden, welche richtig und welche falsch ist? Und gerade darum geht es im Konstruktivismus. Was anfangs nicht so selbstverständlich zu akzeptieren ist, die Realität ist konstruiert, im Sinne, dass wir konstruieren die Realität mit unserer Operation. Aber es gibt etwas, was Widerstand leistet. Dass die Idee beobachterabhängig ist, bedeutet nicht, dass die Realität verschwindet."

    Die Realität verschwindet nicht, aber sie bleibt eine Konstruktion. Und diese Konstruktionen schaffen selbst Verbindlichkeiten, Strukturen, Muster, Denknotwendigkeiten. Oder, wie Rene John ausführte:

    "Es kann anders möglich sein, aber es ist nicht alles möglich. Das ist ja genau die Differenz."

    Ein Beispiel: Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann etwa, auf den viele der Tagungsteilnehmer Bezug nahmen, hatte beschrieben, wie im 18. Jahrhundert in der frühbürgerlichen Gesellschaft die Idee der "Liebe als Passion" konstruiert wurde. Vorher hatte Liebe freilich beim Zustandekommen von Ehen nie eine Rolle gespielt. Aber seitdem die Liebesheirat Einzug hielt, ist die Idee einer gestifteten Ehe hierzulande indiskutabel geworden. Wir haben eine Realität geschaffen - also konstruiert -, die aber unumgänglich geworden ist.

    "Brutal vereinfacht kann man sagen, die Realität ist das, was man nicht verändern kann. Etwas kann als Realität funktionieren, obwohl wir wissen, es hätte anders sein können, aber infolge dieser Situation kann es nicht verändert werden."

    Es gab eine Zeit, da waren konstruktivistische Theorien ungemein neu, spannend und aufregend. Doch mittlerweile ist alle Gewissheit de-komponiert, de-konstruiert, als Täuschung entlarvt. Und mancher fragt sich: Gibt es nicht doch eine Spur von Natur - hinter aller Kultur? Dies zu erforschen, versuchen nun die Lebenswissenschaften; stellen unterschiedliche Gehirnfunktionen bei Männern und Frauen fest; beschreiben das evolutionäre Erbe des Menschen; begrenzen die menschliche Freiheit durch Biologie. Vielleicht sind auch das alles nur Konstruktionen. Aber spannend ist es allemal!