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Wiederentdeckt: Hermynia zur Mühlen
Von Monarchie und Klassenkampf 

Die Autorin Hermynia Zur Mühlen wurde in den Zwanziger Jahren als "rote Gräfin" bekannt. Die Aristokratin übersetzte Romane Upton Sinclairs, schrieb proletarische Märchen und klassenkämpferische Prosa. Eine Werkausgabe holt ihre Literatur aus der Vergessenheit.

Von Eva Pfister |
Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918.
Die erste Publikation von Hermynia Zur Mühlen wurde zum erfolgreichsten Band proletarischer Märchen weltweit (dpa picture-alliance / Ullstein)
Ende des Jahres 1920 erschien im Berliner Malik Verlag ein Märchenbuch mit dem Titel "Was Peterchens Freunde erzählen". Diese erste Publikation von Hermynia Zur Mühlen wurde zum erfolgreichsten Band proletarischer Märchen weltweit. Wie alle Texte der "roten Gräfin" enthalten sie eine revolutionäre Botschaft, in diesem Fall wird sie überbracht von den Gegenständen in Peterchens Zimmer. Das Kind liegt nämlich krank im Bett und langweilt sich. Da beginnen die Kohlen im Ofen vom Leid der Bergleute zu erzählen, die Wasserflasche von der harten Arbeit der Glasbläser und die Streichholzschachtel von ihrem früheren Leben als Fichte:
"Der Wald gehörte einem reichen Manne, der auch viele ungeheure Felder besaß und Kühe und Pferde und Schweine und Schafe die Menge. Bevor ich ihn sah, glaubte ich, er müsse ein Gott sein wie die Götter der Vergangenheit, denn zahllose Leute mühten sich tagein, tagaus für ihn, bestellten seine Felder, hüteten sein Vieh, arbeiteten unentwegt, damit es ihm gut gehe. Dann kam er eines Tages zu uns in den Wald, und ich sah, dass er ein Mensch war wie alle anderen. Ein hässlicher, dicker, rotgesichtiger Mann. Bisweilen kamen auch alte Weiblein zu uns, um abgefallenes dürres Holz zu sammeln, doch hatten sie immer große Angst, gesehen zu werden, denn der reiche Herr erlaubte den armen Leuten nicht, in seinem Walde Holz zu sammeln. Ich weiß nicht weshalb, er selbst brauchte das dürre Holz nicht, ließ es auf der Erde liegen und verfaulen."
Fünf weitere Märchenbände folgten. Dass diese proletarisch-revolutionäre Kinderliteratur politisch ernst genommen wurde, belegt die Tatsache, dass 1926 in Ungarn der Übersetzer zu einem Jahr Kerker verurteilt wurde.
Informationen wie diese finden sich in den Kommentaren von Ulrich Weinzierl. Der Herausgeber berichtet darin ausführlich von der Rezeptionsgeschichte des Werks und ergänzt seine Edition mit einem Essay über das abenteuerliche Leben der "Genossin Gräfin".
Die junge Gräfin
Sie wurde am 12. Dezember 1883 in Wien geboren, als eine Gräfin Folliot de Crenneville. Der Vater entstammte einem französischen Adelsgeschlecht, das nach der Revolution von 1789 nach Österreich floh, die Mutter war eine geborene Gräfin von Wydenbruck. Wie Hermynia Zur Mühlen in ihrer Autobiographie "Ende und Anfang" erzählt, hielt sie sich als Kind am liebsten bei ihrer Großmutter auf, einer Engländerin mit liberalen Ansichten. Von ihr übernahm die kleine Komtess den Sinn für Gerechtigkeit – und eine herablassende Haltung gegenüber dem Bürgertum.
"Dass die Aristokraten sich für den umbilicus mundi hielten, war nicht einzig und allein ihre Schuld; die in Ehrfurcht ersterbenden Bürger trugen ihr Teil dazu bei. Ich erinnere mich ganz genau, dass ein Arzt, sonst ein netter kluger Mensch, anlässlich des großen Brandes beim Wohltätigkeitsbasar in Paris sagte: »Es ist schrecklich, wenn man bedenkt, wie viel Aristokraten dabei verbrannt sind!« Und ich erinnere mich auch an die sanfte Frage meiner Großmutter: »Glauben Sie, dass es für die anderen nicht ebenso schrecklich war, Herr Doktor?«"
Außerdem liebte Hermynia ihren Onkel Anton, der wie ihr Vater im diplomatischen Dienst tätig war und ein sehr ironisches Verhältnis zum eigenen Stand pflegte:
"Er, der im Ministerium des Äußeren der »rote Graf« hieß und dem seine liberale Gesinnung viel geschadet hat, rief mich, wenn Gäste da waren, mit besonderem Vergnügen in den Salon und fragte: »Wohin gehören die Aristokraten?«, worauf ich mit unerschütterlicher Überzeugung zu antworten hatte: »An die Laterne!«"
Ihrer Mutter war Hermynia lästig und wurde daher oft zu Verwandten oder in Pensionate geschickt. Manchmal lebte sie auch bei ihrem Vater auf seinen diplomatischen Außenposten, etwa in Lissabon, Algerien oder Marokko. Kenntnis- und anekdotenreich berichtet die Autorin über ihre Erfahrungen im Orient und lässt sie später auch in ihre Märchen einfließen. Typisch für ihre kritische Haltung gegenüber den europäischen Kolonialherren ist der Anfang der Geschichte "Der Muezzin":
"Die Sonne geht unter, ihre letzten Strahlen tauchen das alte Kairo in blutrote Farben. Es sieht aus, als wäre irgendwo eine ungeheure Feuersbrunst. Auf einem kleinen Platz staut sich die Menge, umdrängt einen alten Mann, der auf einer Strohmatte sitzt. Englische Soldaten kommen vorüber. Der eine spricht: »Man müsste doch nachsehen, was dort geschieht. Die Zeiten sind unsicher.« Der andere, ein baumlanger Kerl, reckt sich hoch und meint dann lachend: »Nichts Gefährliches: ein Märchenerzähler. Ein merkwürdiges Volk, das sich wie die Kinder an Märchen erfreut.« Sie gehen weiter."
Und dann erzählt der alte Mann die Geschichte eines Muezzins, der das Volk zur Rebellion aufstachelt.
Die baltische Gutsherrin
Die Diplomatentochter genoss in diesen Ländern eine gewisse Narrenfreiheit und nahm sich oft Dinge heraus, die den Europäern die Haare zu Berg stehen ließen. So stahl sie ein Pferd, um eine Schlacht aus der Nähe zu beobachten, oder fuhr mit einem Dienstboten in dessen Heimatdorf, um das dortige Leben kennen zu lernen. Rebellisch blieb sie auch als Ehefrau eines deutschbaltischen Gutsbesitzers, den sie gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet hatte. Ohne Hemmungen propagierte sie in Gesellschaft dieser erzkonservativen Landadligen ihre reformerisch-liberalen Ideen.
In ihrer Autobiographie beschreibt Hermynia Zur Mühlen sehr anschaulich, wie es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg im Baltikum zuging, das von Deutschen dominiert, aber vom Zarenreich regiert wurde:
"Sibirien – das Wort lastete wie ein Alpdruck auf dem ganzen Land. Im russischen Gesetzbuch lautete § 1, dass jeder sich strafbar mache, der mit Taten, Worten oder Gedanken der Person des Zaren zu nahetrete. Man kam nach Sibirien, wenn man beim Lesen eines verbotenen Buches erwischt wurde, kam nach Sibirien, wenn man ohne Erlaubnis der Regierung die Bauernkinder unterrichtete… Die größeren Güter hatten einen eigenen »Uriadnik«, Landgendarmen, und dessen Aussage genügte, um einen Menschen die lange Reise antreten zu lassen. … Die baltischen Barone, deutsch bis in die Knochen, wilde Gegner alles Russischen, fanden dieses Regime äußerst sympathisch; ihnen geschah nichts, und sie konnten mit seiner Hilfe ihre Arbeiter kleinkriegen."
Erstaunlicherweise hielt die Ehe der ungleichen Partner immerhin sechs Jahre, bis Hermynia 1913 wegen Tuberkulose von ihrem Arzt nach Davos geschickt wurde. Dort traf sie den ungarisch-jüdischen Übersetzer Stefan Isidor Klein, mit dem sie fortan zusammenlebte.
Da sich die Gräfin sowohl von ihrer adligen Familie wie auch vom Ehemann abgewandt hatte, musste sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und begann zu übersetzen - aus dem Russischen, Französischen und Englischen. Sie suchte Kontakt zum amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair und wurde dessen wichtigste Übersetzerin, bis er feststellte, dass sie seine Romane politisch radikal zuspitzte. Daneben schrieb sie Rezensionen, Feuilletons, Märchen, Erzählungen und Romane.
Die revolutionäre Vielschreiberin
Ab 1919 lebten Hermynia Zur Mühlen und Stefan Klein in Frankfurt am Main. Im gleichen Haus wohnte der ungarische Autor Sándor Márai, dem wir eine Beschreibung des Paares verdanken:
"»Diese Beiden, K. und die Gräfin, hielten und gehörten auf Gedeih und Verderb zusammen. Sie hatten sich als Kranke gefunden, K. wurde später wieder gesund, sie blieb unheilbar krank. Keine andere Frau hat einen so starken, so tröstlichen, im komplizierten Sinn des Wortes erschütternden Eindruck auf mich gemacht wie diese junge österreichische Aristokratin. Sie war groß von Wuchs und krankhaft mager; in ihrem bis auf die Knochen eingefallenen Gesicht lebten nur die beseelten Augen, von Todesfurcht geadelte, in menschlicher Solidarität warm leuchtende Augen. [...] Wer sie kennenlernte, blieb ein Leben lang ihr Freund. In der Politik bekannte sie sich leidenschaftlich zu linken Anschauungen; aber ich habe keine andere Frau kennengelernt, die in ihrem Gebaren den Hochmut einer Persönlichkeit und die Unnahbarkeit einer Dame von Welt auf so wunderbare Weise mit der leidenschaftlichen Tatkraft einer politisch engagierten Frau in Einklang gebracht hätte wie sie. Wo sie sich niedersetzte, erblühte rundum sogleich ein ›Salon‹; und die sie umringten – mitunter saßen energische und tatverdächtige Anarchisten in diesem ›Salon‹, denn K. war umschwärmt von ›politisch Engagierten‹ –, denen blieb nichts übrig, als sich salongemäß zu benehmen. [...] Ihre Lunge war fast gänzlich eingeschmolzen, dennoch arbeitete sie zehn bis zwölf Stunden am Tag, vom Morgen an über die Schreibmaschine gebeugt, immer eine qualmende, dicke amerikanische oder englische, opiumhaltige Zigarette im Mund.«"
Hermynia Zur Mühlen war notgedrungen eine Vielschreiberin. Daher fand kaum die Hälfte ihres Gesamtwerks Eingang in die neue vierbändige Ausgabe, die jetzt im Zsolnay Verlag erschienen ist. Der Herausgeber Ulrich Weinzierl ließ ihre Kriminalromane außen vor, erwähnt in der editorischen Notiz aber, wie erfolgreich diese Bücher waren, die sie unter dem Pseudonym Lawrence H. Desberry schrieb. Von ihren Romanen wählte er jene fünf aus, die ihm biographisch und zeitgeschichtlich besonders interessant erschienen. Darunter "Als der Fremde kam", der die Umwälzungen in der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg schildert, und "Der Tempel", in dem ein jüdisches Waisenkind aus St. Peterburg in die unterschiedlichsten Milieus gerät bis es schließlich zu den Spartakisten in Berlin stößt. Vor allem enthält die Ausgabe viele journalistische Texte und Erzählungen, Märchen und auch die "Propagandaerzählungen", wie die Autorin selbst sie nannte. Das sind Geschichten mit klarer agitatorischer Tendenz, wie "Schupomann Karl Müller", die ihr 1926 einen Hochverratsprozess einbrachte.
Die katholische Kommunistin
Als Gegenentwurf zur konventionellen Mädchenliteratur ihrer Zeit schrieb Hermynia Zur Mühlen "Lina. Erzählung aus dem Leben eines Dienstmädchens". Lina wird von ihren Dienstherren ausgebeutet und herzlos behandelt, außer von Fräulein Yvette. Diese alte Dame stammt von französischen Revolutionären ab, behandelt das Dienstmädchen wie eine Freundin und klärt sie über ihre Rechte auf. Sorgen macht Lina nur Fräulein Yvettes Aussage, dass sie nicht an Gott glaube. So klopft sie zu nachtschlafender Zeit an ihr Zimmer:
"Fräulein Yvette saß vor dem Spiegel und drehte sich die Löckchen. »Bist du krank?« fragte sie erschrocken, als sie das Mädchen erblickte. »Nein, aber . . . Fräulein Yvette, Sie müssen doch auch an etwas glauben?« Die kleine hagere Gestalt in dem warmen Schlafrock und mit dem eingedrehten Haar sah recht drollig aus, dennoch eignete ihr Würde, da sie erwiderte : »Ja, ich glaube an die Solidarität aller Arbeitenden auf der ganzen Welt, an ihren Sieg und die Zukunft der Menschheit.« Es klang, wie wenn der Pfarrer in der Kirche das Glaubensbekenntnis sprach. »Ist das ein Gebet?« fragte Lina ratlos. »Ja mein Kind, es ist ein Gebet.«"
So verschmilzt oft bei der Autorin Hermynia Zur Mühlen der Kommunismus mit dem Katholizismus. Das war ihr selbst durchaus bewusst. Schon als junges Mädchen hatte sie in einem Kloster eine Ausbildung zur Volksschullehrerin gemacht und in ihrem "Lebensbuch" von 1929 von der Atmosphäre geschwärmt:
"Ich lernte den verführerischen Reiz der Mystik kennen: geheimnisvolle Nachtstunden in der dunklen, nur vom blassen roten Schein des Ewigen Lichtes erhellten Kapelle. [. . .] Das Wunder des Glaubens ist das Wunder der großen Vereinigung mit einer höheren Macht, die gleichzeitig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, das völlige Verlieren seines eigenen kleinen Ichs im gewaltigen Ganzen, zu dessen Teil man wird. Ich habe häufig das gleiche Gefühl empfunden, wenn bei einer großen Demonstration die ›Internationale‹ gesungen wurde.«"
Es ist daher nicht erstaunlich, dass es auch einen Erzählungsband mit dem Titel "Der rote Heiland" gibt. Darin vermischt sich der Aufruf zur sozialistischen Revolution mit Erlösungssehnsucht. Thematisiert wird das in der szenischen Skizze "Unter einer Brücke".
"Der Knabe: Mutter, mich friert.
Der Sträfling: Narren seid ihr, Narren! Wenn ihr klug wäret! Es gibt Geld genug, man muss es nur zu finden wissen.
Der junge Jude: Ist Geld alles?
Der Sträfling: Ja.
Der junge Jude: Und als der alte Mann, den du halbtot geschlagen, blutend vor dir lag, als Fesseln deine Hände drückten, dachtest du da an Geld?
Der Sträfling: Bist du ein Spitzel, dass du alles weißt?
Der junge Jude: Wo immer Leiden und Schmerzen sind, da bin auch ich. Wo Elend den Armen zum Verbrechen treibt, steh’ ich an seiner Seite. Ich bin ausgestoßen und verhöhnt, gegeißelt und gekreuzigt mit euch. Ich bin du, der du fast zum Mörder geworden, bin das Kind, das hungert und friert, bin die Greisin, die darbt, und der Arbeiter in der Fabrik.
Alle (erschreckt): Wer bist du?
Der junge Jude: Ich bin die Liebe, die gekreuzigt wurde, bin der Hass, der Unterdrücker erschlägt. Ich bin der Gefangene, der um des Rechtes willen leidet, bin der Gerechte, den sie steinigen und mit Gewehrkolben erschlagen.
Die junge Frau (fällt auf die Knie): Hilf uns!
Die beiden Kinder: Wir hungern.
Die alte Frau: Ich bin allein, niemand steht mir bei.
Der Sträfling: Ich wollte nicht morden, der Hunger trieb mich in des alten Mannes Haus.
Der Leierkastenmann: Hab’ in der Schlacht mein Bein verloren, einen Leierkasten gaben sie mir als Ersatz.
Der Student: Bruder, Genosse, sag uns, was sollen wir tun?
Der alte Jude (verträumt): Und der Gerechte wird Meschiach schauen. (…)
Die Emigrantin
Im April 1933 flüchtete Hermynia Zur Mühlen mit ihrem Lebensgefährten Stefan Klein nach Wien und versuchte als Publizistin die Österreicher zum Kampf gegen den Nationalsozialismus aufzustacheln. Die Zeitungsredaktionen verlangten von ihr jedoch, dass sie humorvolle Texte liefere. Aus Wut schrieb sie in drei Wochen ihren wohl bekanntesten Roman "Unsere Töchter, die Nazinen". Interessant ist seine dreifache Erzählperspektive: eine Arbeiterfrau, eine Gräfin und eine Arztgattin berichten von ihren Töchtern, die sich aus unterschiedlichsten Motiven dem Nationalsozialismus zuwenden, was zwei von ihnen bald bereuen. Die verzweifelte Hoffnung, dass das deutsche Volk sich den Nazis nicht auf Dauer beugen würde, prägt den Roman.
"Wir sind abgeschlossen von der ganzen Welt. Keine ausländische Zeitung kommt in unser Land, wir dürfen nicht wissen, was geschieht. Aber wir wissen dennoch um das Grauen, das die Sommersonne verdunkelt. Wir wissen von den Gefolterten in den Konzentrationslagern, wir wissen von den »Auf der Flucht« Erschossenen, von den Toten, gemordet von »unbekannten« Tätern. Wir wissen, was es bedeutet, wenn einer im Gefängnis Selbstmord begeht. Wir wissen, dass ehrliche Priester verschleppt werden. Wir wissen, dass ein Kampf gegen das kleine Österreich eingesetzt hat, das sich nicht »gleichschalten« lassen will."
Doch 1938 wurde Österreich gleichgeschaltet. Hermynia Zur Mühlen und Stefan Klein flohen nach Bratislava, ein Jahr später weiter nach England.
Das Werk der "roten Gräfin" stellt ein Kaleidoskop der Epoche dar, es ermöglicht Einblicke in die Welt des Adels und der revolutionären Bewegungen sowie in alle Schichten der Bevölkerung in vielen Ländern. Hermynia Zur Mühlen schreibt spannend, oft realistisch mit einem Hang zum Moralisieren, dann wieder märchenhaft mit fantastischen Elementen. Wie Felicitas Hoppe in ihrem einleitenden Essay schreibt, war sie in der Wahl der Genres ebenso furchtlos wie "in Bezug auf Klischees, die sie so literarisch unbekümmert wie unverfroren als Brennglas über die realen Verhältnisse legt."
Aber immer wieder überraschen die Texte durch ihre literarische Dichte. Als Beispiel der Anfang der Novelle "Berufung":
"Er war bisher durchs Leben geschlendert wie einer, der eine ebene, breite, etwas langweilige Straße dahinstrebt, die, ohne Krümmungen durch eine flache Landschaft führend, weder erfreuliche noch erschreckende Überraschungen bringt. Er hatte auf Welt und Menschen geschaut, mit dem trägen, ein wenig verschlafenen Blick, mit dem ein Mensch um die heiße Mittagszeit von einer Brücke aus den lässig strömenden Fluss betrachtet, ohne ihn eigentlich zu sehen oder Einzelheiten zu erkennen; das Auge angezogen von dem Glänzen der kleinen spielenden Wellen. Sommersonnen hatten ihn nicht gebrannt, bloß gewärmt, Winterkälte hatte ihn nicht geschmerzt, höchstens ein wenig gekniffen, wie Schulkinder einander freundschaftlich in den Arm kneifen. Seinem geregelten, sorgenlosen Leben waren große Freuden und große Schmerzen ferngeblieben."
Der "roten Gräfin" waren weder große Freuden noch große Schmerzen ferngeblieben. 1951 starb Hermynia Zur Mühlen verarmt in England und wurde anschließend gründlich vergessen. Ihre Neuentdeckung krönt jetzt diese Werkausgabe, die zwar nur die Hälfte ihres Schaffens aber dessen ganze Vielfalt präsentiert.
Hermynia Zur Mühlen: "Werke"
Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung ausgewählt und herausgegeben von Ulrich Weinzierl, mit einem Essay von Felicitas Hoppe.
Zsolnay Verlag, Wien. 2432 Seiten, 49 Euro