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Wiedereröffnung des Jüdischen Museums
Die Tora am Anfang, die Tora am Ende

Nach politischen Kontroversen um die Haltung zu Israel war das Jüdische Museum in Berlin monatelange geschlossen, eine neue Direktorin wurde berufen. In der komplett überarbeiteten Dauerausstellung kommen jüdische Religion und Praxis jetzt stärker zu Geltung als bisher.

Von Carsten Dippel |
Eine junge Frau geht in der neuen Dauerausstellung «Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland» im Liebeskind-Bau des Jüdischen Museums durch den Themenraum «Tora».
Ausstellung «Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland" (dpa-Zentralbild/dpa/Britta Pedersen)
Licht und klar, mit einem guten Gespür für den Raum: So präsentiert sich die auf zwei Etagen im berühmten und in seiner architektonischen Besonderheit denkbar schwer zu bespielenden Libeskind-Bau die neue Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin.
Der Kern des Jüdischen
Den Besucher empfängt eine als Lebensbaum gezeigte Installation, die ihn sogleich zu dem Objekt führt, das gewissermaßen das A und O des Jüdischen darstellt, das, wovon alles ausgeht und worauf alles zuläuft: Die Tora. Hier wird sie nicht einfach in eine Vitrine mit Begleittext gelegt, sondern quasi dreidimensional als begehbare Installation präsentiert: Sie ruht in einer runden Glasbox, umsäumt von geschwungenen weißen Flächen mit hebräischen Texten. Nur ein paar Schritte weiter eine Seite des Talmuds. Es geht um den Kern des Jüdischen, sagt die Kuratorin Cilly Kugelmann:
"Das ist das Zentrum des jüdischen Seins. Ohne diese Texte gibt es keine Juden und das Judentum. Und deshalb steht die Tora am Anfang und am Ende. Was nicht bedeutet, dass jeder Jude nach der Tora lebt. Aber es ist als historisches Buch auch ein zentrales Element im säkularen Judentum."
"Eigentlich geht es um das Handeln"
Jüdische Religion und Praxis solle mehr zur Geltung kommen, war eine langjährige Forderung an das Haus. Das Jüdische Museum findet darauf eine ästhetisch ansprechende und wirkungsvolle Antwort.
Diese Grundidee setzt sich in vielen anderen, teils spektakulären Objekten fort, etwa in einem Werk Anselm Kiefers über die Kabbala.
Doch wichtiger als nur Objekte zu zeigen sei es, das, was das Jüdische ausmache, erfahrbar zu machen, sagt Cilly Kugelmann. Da ist zum Beispiel ein Raum zum Shabbat. Man gleitet durch einen schrill-bunten Metallvorhang, begleitet von hektischen Alltagsgeräuschen, tritt durch einen zweiten Vorhang hindurch in eine kleine Oase der Ruhe, in der Gebete und Gesänge zum Shabbat erklingen.
Jüdisches Kindermuseum - Die Arche Noah in Berlin
"ANOHA" heißt die neue Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin, eine Arche Noah aus Holz. Sie sollte – wie die neue Dauerausstellung – eigentlich im Mai eröffnet werden. Aber trotz Corona wird an der Ausstellung weiter gearbeitet.
Oder ein Themenraum zu jüdischen Klängen. Was ist jüdische Musik? Gibt es so etwas überhaupt? Die Besucher können sich Zeit nehmen und darauf einlassen. Natürlich gehören auch rituelle Gegenstände zur Ausstellung. Aber grundsätzlich besteht dabei eine Paradoxie, erklärt die ehemalige Programmdirektorin Kugelmann:
"Diese Objekte, die Leuchter, die Becher, die Mesusot, die Tefillin, das sind alles Dinge, die in einem jüdischen Museum zu sehen sind. Aber um die geht es eigentlich nur sekundär, weil es eigentlich um das Handeln geht. Und das ist gewissermaßen eine Paradoxie jüdischer Museen."
"Das Museum soll ein offener Ort für Debatten bleiben"
Neben dem haptischen, optischen, akustischen Erspüren dessen, was Judentum ausmacht, bilden jüdische Stimmen an verschiedenen Stationen der Ausstellung die zweite tragende Säule. Sie geben, künstlerisch effektvoll in Szene gesetzt, einen wirklichkeitsnahen Einblick in das, was Jüdischsein bedeutet.
In dem wunderbar spielerischen Arrangement "the way we walk" treten zum Beispiel Rabbiner, Rabbinerinnen, auch ein Philosoph, der unterschiedlichsten Strömungen, von orthodox bis liberal, in ein sich permanent abwechselndes und ergänzendes Zwiegespräch. Wie verhält es sich mit der Kaschrut, den Speisevorschriften, der Beschneidung, der Halacha? Hetty Berg, seit April die neue Direktorin des Jüdischen Museums, hofft, dass die Ausstellung zu Fragen über Ausgrenzung, Zugehörigkeit und Diversität anregt.
"Das ist einer der Hauptfaden in der ganzen Ausstellung, dass wir die Geschichte der Juden in Deutschland aus jüdischen Perspektiven zeigen, weil es gibt natürlich mehr als eine."
Porträt von Hetty Berg. Sie ist seit dem 1. April 2020 die neue Direktorin des Jüdischen Museums Berlin.
Hetty Berg ist seit dem 1. April 2020 Direktorin des Jüdischen Museums Berlin (Jüdisches Museum Berlin / Yves Sucksdorff)
Diese Debattier- und Fragefreudigkeit findet sich auch in einem Raum zum Antisemitismus. Wie erleben Juden heute Anfeindungen? Welche Erfahrungen machen sie im Alltag? Ist ein auf dem Schulhof gebrülltes "Du Jude!" schon antisemitisch? All dies wird hier verhandelt. Aber nicht akademisch-distanziert, sondern nah und zugänglich erzählt.
Zum Jüdischen Museum gehört auch die Akademie, die im letzten Jahr mit ihrem Begleitprogramm in der Kritik stand.
Hetty Berg: "Das Museum soll ein offener Ort für Debatten bleiben. Es soll diese gesellschaftliche Rolle spielen, speziell in dieser Zeit, wo die Diskussionen immer aggressiver werden und in der Öffentlichkeit manchmal unmöglich sind. Was auch sehr wichtig ist, dass das Museum nicht von irgendeiner Seite instrumentalisiert wird."
"Jüdischsein verändert sich immer"
Fünf Epochenräume widmen sich der jüdischen Geschichte von Aschkenas. Das jiddische Wort für Deutsch umschriebt grob das, was geographisch deutsche Länder der vergangenen 1700 Jahre ausmachen. Da nur wenige Objekte aus dem Mittelalter überliefert sind, behilft sich das Museum mit einfach zugänglichen Multimediastationen. Es geht bei all dem immer auch um die Beziehungsgeschichte zwischen Juden und ihrer christlichen Umwelt. Sie wird hier aber konsequent aus der jüdischen Sicht erzählt. Wie zum Beispiel im Sefer Chassidim, einem mittelalterlichen Verhaltenskodex für Juden gegenüber Christen. Cilly Kugelmann:
"Es dreht sich mehr als vorher darum, die Herausbildung eines jüdischen Bewusstseins zu zeigen am Beispiel der Objekte und Bilder, die wir haben. Das Jüdischsein hat sich verändert und verändert sich immer wieder und diese Veränderung nachzuzeichnen, haben wir die Ausstellung jetzt gemacht. Ich würde mir wünschen, dass unterschiedliche Klischees von Juden und Judentum vielleicht infrage gestellt werden. Ein Klischee, das mir oft begegnet, dass es sich bei der Geschichte der Juden um eine Migrationsgeschichte handelt. Juden in Deutschland sind eine, wie ich das nennen würde, Anwesenheitsminderheit. Die lange hier ist, bevor es überhaupt Deutsche gibt."
Der Holocaust ist ein gefragtes Thema
Besucherumfragen hätten ergeben, dass man mehr über die Shoah und die Nachkriegszeit erfahren wolle.
Neuorientierung des Jüdischen Museums gefordert
Nach dem Rücktritt des Direktors des Jüdischen Museums, Peter Schäfer, wird über das Profil des Hauses diskutiert. Die Besucherzahlen sind zwar gut, prominente Stimmen fordern dennoch eine Neuorientierung.
Das Jüdische Museum zeigt in einer Installation auf von der Decke hängenden Bannern mehr als 900 antijüdische Verordnungen und Erlasse - bürokratisches Kleinklein, das der Massenvernichtung den Weg bahnt. Die Ausstellung nimmt sich hier viel Zeit für persönliche Geschichten von Jüdinnen und Juden, die verzweifelt versuchten, sich diesem Regime durch Emigration zu entziehen. Was nur wenigen gelang. Hetty Berg:
"Ich denke, dass es sehr wichtig ist, den Holocaust im Kontext der ganzen langen Geschichte zu zeigen. Das sind wirklich diese persönlichen Geschichten, wo man sieht, dass das für jede Person unterschiedlich ist."
Viele jüdische Perspektiven werden präsentiert
Noch immer wenig bekannt ist die Erzählung von Emigration, Wiedergutmachungsprozessen, den Mühen des Neuanfangs nach der Katastrophe in einer oft feindlich gesinnten deutschen Nachkriegswelt. Aber auch die des Neuanfang nach 1990, als mit den jüdischen Kontingentflüchtlingen jüdisches Leben in Deutschland unverhofft eine neue Chance bekam.
Hier setzt die Ausstellung wichtige Akzente, um etwas ins Bild zu rücken, was selten im Blick ist. Zu sehen sind etwa Dutzende deutschsprachiger Romane von jüdischen Autorinnen und Autoren der neuen Einwandergeneration – von Wladimir Kaminer, über Olga Grjasnowa bis Lena Gorelik.
Zuweilen geht die visuelle Kraft der Ausstellung auf Kosten der Erklärung. Was Kabbala eigentlich ist, erfährt man neben dem monumentalen Kiefer-Werk nur über ein beiliegendes Tablet. Auch findet die unterschiedliche Wirklichkeit jüdischen Lebens in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften wenig Raum.
Hetty Berg: "Was wichtig ist, dass dies ein sozialer Ort ist, wo jüdische Kultur und Leben diskutiert und aufgegriffen wird, mit einer Vielstimmigkeit und viele jüdische Perspektiven hier präsentiert werden."
Den Ausklang bildet eine von Yael Reuveny und Clemens Walter bereitete Videoinstallation, in der 50 jüdische Stimmen, von jung bis alt, mit den unterschiedlichsten biografischen Hintergründen, vom Shoah-Überlebenden über das Kind postsowjetischer Einwanderer bis zum in Berlin lebenden Israeli zu hören sind. Sie erzählen in einer Art virtuellem Gespräch über ihr Jüdischsein im heutigen Deutschland. Schöner und einfacher kann man die Frage, wie jüdisch ein jüdisches Museum zu sein hat, eigentlich nicht beantworten.