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Wiedersehen mit Botho Strauß

Seit Aischylos, Sophokles und Euripides ist die Bühne Ort furchtbaren Gemetzels, dient der Produktion von Entsetzen, Angst und Mitleid beim Zuschauer. Was muss, was darf Theater bewirken? Dies fragt der vielleicht bekannteste deutsche Dramatiker der Gegenwart, Botho Strauß immer wieder. Jetzt hat Barbara Frey die Szenenfolge "Groß und Klein" aus dem Jahr 1978 neu inszeniert, am Deutschen Theater Berlin.

Von Hartmut Krug |
    Unter seinen aus Theodor Adornos "Minima Moralia" übernommenem Stückttitel "Groß und Klein" schrieb Botho Strauß als Gattungsbezeichnung weder Komödie oder gar Tragödie, sondern einfach "Szenen." Dabei ist das, was die Mittdreißigerin Lotte aus Remscheid-Lennep auf der Suche nach sich und nach der Nähe zu anderen Menschen bei ihren Zehn-Stationen-Reise durch gesellschaftliche Wirklichkeiten der Bundesrepublik in den späten siebziger Jahren erfährt, so komisch wie schrecklich.

    Das Stationendrama wird auch zum Passionsweg einer Frau, die sich als eine der 36 Auserwählten versteht und sich in irrational-religiöse Eingebungen steigert. Botho Strauß´ Stück, 1978 von Peter Stein an der Berliner Schaubühne uraufgeführt und schnell von Dieter Dorn in München und Niels-Peter Rudolph in Bochum nachgespielt, wanderte damals über viele Bühnen. Weil es ein Zeitgefühl traf und untersuchte: der Autor spießte die Sinnsuche und Therapie-Begeisterung einer zur wirklichen Kommunikation kaum fähigen Gesellschaft auf und zeichnete deren Intellektuellenschicht mit satirischer Empathie.

    "Groß und klein" analysiert und atmet seine vergangene Zeit, wohl deshalb ist es als geschichtliches Zeitstück in den letzten Jahren wiederentdeckt worden. Zwar scheiterte Frank Castorf vor drei Jahren mit ihm an der Volksbühne, weil er die zugleich künstlich-kunstvolle wie eigensinnig realistische Sprache von Botho Strauß mit seinem grellen Klamaukstil übermalte, doch kürzlich hat in Bonn der junge Regisseur Ingo Berk gezeigt, wie man mit diesem historischen Stück etwas über unsere Gegenwart erzählen kann.

    Am Deutschen Theater hat die Regisseurin Barbara Frey es dagegen in die existentielle Zeitlosigkeit überführt. Die Bühne, ein leerer, schwarzer Kasten, auf der Menschen wie Comedy-Schablonen erscheinen. Das Satirische mancher der oft sentenzenhaften, vergrübelten Texte, was bereits bei der Uraufführung kritisiert wurde, wird bei Barbara Frey überdeutlich ausgestellt und verliert in dieser Vergröberung seine Qualität, gleichermaßen Fragen zu stellen wie Einsichten zu vermitteln.

    Nina Hoss´ Lotte kommt als aufgekratzte, fröhliche Sucherin daher. Keine Ruhrgebietspflanze, sondern eine hübsche junge Frau im immer gleichen grünen Kostüm. Wenn Lotte zu Beginn im Urlaub in Marokko allein im Speisesaal des Hotels sitzt und zwei sich draußen unterhaltenden Männern lauscht, dann sitzt sie vorn an der Rampe rittlings im Dunkeln auf einem weißen Plastikstuhl und teilt sich dem Publikum mit. Sie sitzt so, wie einst das nackte Callgirl Christine Keeler auf einem Foto zu sehen war. Und wie diese nach ihrer Affäre mit dem englischen Verteidigungsminister einen gesellschaftlichen Prozess in Gang gesetzt hat, so tut das Lotte auch bei ihrer Reise zu ihrem Ex-Mann, einer Jugendfreundin und ihrem Bruder.

    Nina Hoss zeichnet eine Verzweifelte, die mit heftigen Arm- und Beinbewegungen schon in der Körpersprache neurotisch wirkt. Auf die leere Drehbühne werden nur wenige Versatzstücke hereingedreht: so die Sprechanlage eines Hauses, an der Lotte bei der Kommunikation mit einer einstigen Freundin scheitert, während ihre Darstellerin Nina Hoss aber wie einst Edith Clever bei der Uraufführung das existentielle Leid virtuos in der Komik spiegelt.

    Nina Hoss spielt die Lotte wunderbar als einen heiligen Narr in Christo, ist aber in aller Skurrilität auf ihrem Passionsweg in allem Scheitern nie hässlich, nie wirklich abgerissen und elend. Barbara Frey macht das Stück zu einem allgemeinen existentiellen Thesenstück, statt es gesellschaftlich zu verorten. Weshalb in der Schlussszene, in der Lotte als einzige in einer Arztpraxis keinen Termin hat und mit der Bemerkung, ihr fehle ja nichts, in die Dunkelheit geht, nicht wie bei Peter Steins Uraufführung das Publikum mit in diesem Wartesaal sitzt, sondern weiterhin vor ihm.

    Sonst aber ist das Stück geschickt gekürzt, weshalb die Aufführung statt der üblichen dreieinhalb nur wenig mehr als zwei pausenlose Stunden dauert. Dennoch zieht sie sich hin und hängt mächtig durch. Barbara Frey versteht es nicht, die immer gleich ablaufenden menschlichen Begegnungen, statt sie nur satirisch auszustellen, auch in einen Spannungsbogen zu fassen. Das große Buch, aus dem Lotte bei einem ihrer religiösen Aufschwünge über "Glaube, Liebe, Hoffnung" liest, gibt es in dieser Inszenierung ebenso wenig wie die Telefonzelle, in der Lotte zeitweilig haust. Bühnenbildnerin Bettina Meyer belässt es stets bei der Bühnenleere. So sind hier die zehn Zimmer eines Hochhauses, in dem Lotte die unterschiedlichsten Menschen trifft, ohne ihnen näher kommen zu können, das immer gleiche offene Bühnenportal.

    Zwar ist diese Inszenierung schauspielerisch und handwerklich souverän gearbeitet, doch das reicht nicht, damit das Stück von Botho Strauß uns noch etwas erzählt. Über uns und die alte Bundesrepublik, und was all das mit dem neuen Deutschland und dem neuen Berlin zu tun hat.