Rolf Clement: Herr General Wieker, der Generalinspekteur der Bundeswehr trägt natürlich auch die Einsatzverantwortung. In dieser Woche ist nun beschlossen worden, dass deutsche Soldaten und deutsche Patriot-Raketenabwehrsysteme in die Türkei verlegt werden in die Nähe der syrisch-türkischen Grenze. Gibt es da wirklich eine Bedrohung, können Sie wirklich wahrnehmen, dass dort ein Raketenbeschuss droht?
Volker Wieker: Ja, es gibt natürlich ein Bedrohungsempfinden der Türkei, und man darf so etwas nicht nur an den aktuellen Ereignissen festmachen, wie sie sich in der jüngeren Vergangenheit grenzüberschreitend ereignet haben, sondern man muss auch das Potenzial sehen, was auf der anderen Seite besteht. Wir sprechen dort über Kurz- und Mittelstreckenraketen der Typen FROG, SS21, SCAT Charly, Bravo und Delta – mit einer Reichweite von 70 bis 700 Kilometern – gegenwärtig noch unter Kontrolle der Streitkräfte in Syrien. Aber ein solches Potenzial, einmal außer Kontrolle geraten, kann natürlich eine erhebliche Bedrohung auslösen für alle Anrainerstaaten und natürlich für das Bündnismitglied Türkei in besonderer Weise, was unsere Interessen berührt.
Clement: Also Sie können das nachvollziehen, dass die Türken sagen, wir empfinden ja ...
Wieker: ... ja, selbstverständlich.
Clement: Nun verlegen Sie die Raketen mit Schiffen, das dauert rund drei Wochen. Daraus könnte man ja schließen: Ganz so groß ist die Bedrohung dann doch nicht, wenn man da drei Wochen noch Zeit hat, um über das Meer zu schippern.
Wieker: Ja nun, das ist eine Angelegenheit der Verlegeplanung. Wir bauen nach einer sorgfältigen Erkundung die Systeme in einem Verbund auf, sodass sie flächendeckend eine bevölkerungsreiche Region in der Türkei schützen können. Die Art der Verlegung ist dabei von sekundärem Interesse.
Clement: Herr Wieker, wenn man auf einen anderen Einsatzort der Bundeswehr guckt, auf Afghanistan, dann stellt man fest, dass – je näher so zusagen das Rückzugsdatum rückt, desto besser werden die Nachrichten. Man hört immer wieder: Jetzt ist die Ausbildung besser geworden, jetzt kann die afghanische Armee dies und jenes selbst leisten. Ist das wirklich so, oder wird da nicht auch politisch etwas herbeigeredet, dass man sagt, die ganze Geschichte war ein Erfolg?
Wieker: Nein. Das sehe ich durchaus anders. Und da möchte ich auch Ihre Erinnerung bemühen, einmal zurückzuschauen in das Jahr 2009. Ich selbst war zu dem Zeitpunkt in Afghanistan. Die Einsatztruppen hatten im ganzen Land die Initiative verloren, die Aufständischen kontrollierten die Räume bis eng an unsere Basislager. Man schoss nach Belieben mit indirektem Feuer in unsere Lager hinein. In einer sehr großen politischen und militärischen Kraftanstrengung haben wir diese Räume zurückgewonnen – gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften, die wir parallel dazu aufgebaut und ausgebildet haben. Wir kontrollieren diese Räume gegenwärtig, und selbst dort, wo wir die Verantwortung bereits an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben haben, bleibt die Lage stabil. Das heißt, wir konstatieren eine spürbare Beruhigung der Sicherheitslage im vergangenen Jahr. Das lässt sich auch am Aufkommen der sogenannten sicherheitsrelevanten Zwischenfälle festmachen - landesweit ein Rückgang um rund zehn Prozent, im Norden beobachteten wir sogar einen Rückgang um fast ein Viertel, trotz der fortschreitenden Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Streitkräfte, an die afghanische Polizei. Und das ist eine Entwicklung, die durchaus zuversichtlich stimmt und die uns erlaubt, nun in eine andere Aufstellung zu gehen.
Clement: Das heißt also, Sie gehen mit gutem Gewissen raus?
Wieker: Wir gehen ja nicht raus, das sollte man mit aller Deutlichkeit sagen. Wir nehmen unsere eigene Silhouette zurück. Sie erinnern sich: Wir begannen mit der gemeinsamen Operationsführung der ISAF-Verbände mit den afghanischen Streitkräften und möchten uns nun aus der gemeinsamen Operationsführung langsam lösen und in eine beratende und unterstützende Rolle wechseln, das heißt, die Streitkräfte auf der Brigade-, auf der Korpsebene anleiten, die eigene Präsenz im Raum zurückführen, aber dennoch natürlich reaktionsfähig bleiben, um auf krisenhafte Entwicklungen reagieren zu können.
Clement: Wie muss man sich das vorstellen. Sind dann nur noch Ausbilder vor Ort, sind da auch noch Truppenteile, die kämpfen könnten?
Wieker: Ja, gegenwärtig haben wir ja sogenannte Partnering und Advisory Task Forces, etwa bataillonsstark, zwei davon, die jeweils mit einer afghanischen Brigade zusammenarbeiten, auch gemeinsam operieren. Das afghanische Bataillon nennt man ja "Kandak", auch dort haben wir Berater, Mentoren, platziert, die sie anleiten. Diese Verbände haben mittlerweile eine Einsatzreife erreicht, die sie zur selbstständigen Operationsführung befähigt. Das heißt, wir können uns aus dieser Aufstellung lösen und unsere beratende, unterstützende Tätigkeit auf die Brigadeebene verlagern. Das erlaubt eine gewisse Ausdünnung der Präsenz in der Fläche. Wir möchten allerdings natürlich ein aktuelles Lagebild umfassend und die ganze Region abdeckend bewahren. Daher werden wir Verbindungskommandos zu den sogenannten Operations Coordination Centers entsenden, um eben auch bei krisenhafter Entwicklung mit bereitgehaltenen Reserven, die auch luftbeweglich sind, reagieren zu können.
Clement: Und wie sieht das aus mit zum Beispiel der Schutzfunktion? Kann die Schutzfunktion für die gesamte Mission ein Land übernehmen oder schützen sich die Deutschen selbst?
Wieker: Nein. Da gilt unverändert das Prinzip: Jeder schützt sich selbst.
Clement: Das heißt, Sie müssen dann auch Truppenteile mithaben, die, wenn sie denn angegriffen werden, sich auch verteidigen können.
Wieker: Richtig. Wir sprechen aber über den Zeitraum bis Ende 2014, noch nicht über die Folgemission, die sich ja zunächst einmal erst in Konturen abzeichnet. Dort ist der Planungsprozess eingeleitet auf der Ebene des Bündnisses mit der sogenannten initiating directive.
Clement: ... der ersten Direktive ...
Wieker: ... der ersten Direktive, die die Planung initiiert. Ich denke, dass wir ein "Conops", ein Concept of Operations bis Anfang nächsten Jahres vorlegen können auf Bündnisebene, das dann den Verteidigungsministern zur Billigung vorgelegt wird. Daraus entwickelt sich dann erst eine Truppenstruktur, die dann im Rahmen einer sogenannten Force Generations Konferenz der Truppenstelle zu unterlegen ist mit Truppe.
Clement: Wie kann das Aufgabenspektrum dann aussehen?
Wieker: Wie es der Name beschreibt: train, advice, assistance, also Ausbildung, Beratung und Unterstützung. Das wird sich an der höheren Führungsebene der afghanischen Streitkräfte festmachen lassen, zum Beispiel auf der Korpsebene, aber insbesondere in der sogenannten – wir bezeichnen das – institutionelle Ausbildungseinrichtung, also an den Truppenschulen, an den Akademien, im Rahmen der Offizierausbildung, der Pionierausbildung, der Logistikausbildung – also die gesamte Peripherie im militärischen Leistungsvermögen.
Clement: Ist das so, dass zum Beispiel die Schulen dann von Deutschland betrieben würden, als Ausbildungsschulen, Pionierschulen zum Beispiel, oder ...
Wieker: ... das tun wir ja bereits, das tun wir ja bereits. Wir sind sehr stark engagiert an der Pionierschule in Masar-i-Scharif, die sich in unmittelbarer Nähe zu unserem dortigen Feldlager befindet. Wir sind bereits sehr stark engagiert an der Logistikschule in Kabul, und wir möchten dieses Engagement auch noch weiter ausbauen.
Clement: Wohin ausbauen?
Wieker: Ja, zahlenmäßig, also uns mit einem stärkeren Umfang an Ausbildern dort engagieren. Aber man muss eben wissen: Um das leisten zu können, muss parallel eben auch ein Stützpunkt unterhalten und betrieben werden. Das heißt, wir gehen von einem Verhältnis von etwa im günstigen Fall 5:1 bis 7:1 aus, wenn wir darüber sprechen, welche Fähigkeiten werden den Afghanen bereitgestellt, und welche Unterstützungsleistung im eigenen Umfeld sind nötig, um das überhaupt leisten zu können.
Clement: Aber da haben Sie noch keine zahlenmäßige Vorstellung, was da auf Deutschland zukommen könnte?
Wieker: Nein, das hängt ja auch davon ab, wie es auf Bündnisebene orchestriert wird unter allen Truppenstellern, die natürlich in allen Bereichen auch Aufgaben übernehmen möchten und übernehmen müssen, damit die Lastenteilung einigermaßen gerecht verteilt wird.
Clement: Nun, man spricht in Deutschland immer von Kampftruppen, die da abgezogen werden und die dann nicht mehr da sind. Ist das der richtige Begriff? Ich kann mir vorstellen, wenn jemand einen ausbildet, einen berät, dann muss der kämpfen können, sonst kann er es ja gar nicht weitergeben.
Wieker: Die Anforderung, kämpfen zu können, gehört zur Beschreibung jedes Soldaten, gewissermaßen zu seinen Grundfähigkeiten. Das beginnt mit der Selbstverteidigung, dazu muss er in der Lage sein. Wenn man explizit von Kampftruppen spricht, dann gehe ich im allgemeinen Verständnis davon aus, dass man damit Truppen meint, die in der Fläche operieren, aktiv operieren gegen die Aufstandsbewegung. Das wird dann sicher nicht mehr der Fall sein.
Clement: Bis dahin haben Sie eine große logistische Aufgabe vor sich. Sie müssen einen Teil der Bundeswehr zurückführen, und das auch bis zu dem Stichtag 31.12.2014. Das ist eine immense Anzahl von Material, von Personal, was da zurück muss – wenn man das abzieht, was bleiben kann, immer noch eine große Anzahl. Schafft man das überhaupt?
Wieker: Nun, man sollte insgesamt den Aufwand, der dafür zu betreiben ist, auch nicht überhöhen. Wir sprechen nach einer Bestandsaufnahme von insgesamt 6000 Containern und etwa 1700 Fahrzeugen. Nach einer ersten Erfassung und Kategorisierung gehen wir davon aus, dass bis zu 40 Prozent des Gerätes entweder ausgesondert werden kann, im Lande verbleibt, oder ob möglicherweise an die Afghanen übergeben werden kann zu deren Unterstützung. Das reduziert den Umfang schon erheblich. Und zweitens ist natürlich eine solche Rückführung immer eine Funktion des Aufkommens an Gerät und der Zeitachse, in der man diese Rückführung abwickelt. Das erst entscheidet ja über die tatsächliche Umschlagleistung, die zu erbringen ist. Wir haben ja gegenwärtig schon eine negative Bilanz. Das heißt, jedes Flugzeug, das in irgendeiner Form Versorgungsgüter nach Afghanistan hereinbringt, fliegt nicht leer zurück, sondern nimmt bereits überschüssiges Gerät mit in die Heimat. Wir haben belastbare Verträge mit den Anrainerstaaten, also Transitverträge, um unser Gerät entweder auf der Straße, auf der Schiene, in einer Kombination von beiden oder auf dem Luftweg zurückzuführen. Wir stehen auch in Verhandlungen mit der Türkei, um eine Umschlagsbasis möglicherweise in Trabzon einzurichten, um gewissermaßen in einem Luftshuttle dort dann das Gerät auf Schiffe zu verladen und dann in größeren Gebinden nach Hause zurückzuführen.
Clement: Man hört ja, dass die Anrainerstaaten merken, dass man da Geld verdienen kann und dass die Transitgebühren drastisch in die Höhe gehen.
Wieker: Nun, da berufe ich mich auf die Verträge, die schon vor Jahren geschlossen wurden. Wir haben auch bereits in 2011 und 2012 je einen Testlauf durchgeführt, sodass wir eigentlich auf einer ganz sicheren Grundlage agieren.
Clement: Also Sie sehen das nicht als – Herausforderung ja, aber als eine, die man gut meistern kann?
Wieker: Ja. Ich denke mal, dass das insgesamt so angelegt werden kann, auch in Abstimmung zu unserer operativen Aufstellung im Land, dass wir das gut schultern werden.
Clement: Noch mal auf die afghanische Armee. Die afghanische Armee leistet zurzeit das, was sie leistet. Sie sagen, es wird täglich besser. Sie machen viele Operationen allein, weil ja dahinter noch Leute von der NATO stehen. Wenn die nicht mehr da sind und die sich alleine überlassen sind im Wesentlichen, vertrauen Sie denen dann auch, dass sie dann in dem Sinne weiter agieren, wie sie das jetzt getan haben?
Wieker: Das ist weniger eine Frage, ob ich ihnen vertraue oder nicht, sondern eine Frage der politischen Führung und der politischen Kontrolle über diese Sicherheitskräfte – es ist ja nicht nur die afghanische Armee, sondern auch die Polizeikräfte – und wie sie ausgeübt wird. Das berührt natürlich auch Fragen des Vertrauens in die politische Führung. Und die zukünftige Entwicklung Afghanistans ist ja nicht nur von der Sicherheitslage abhängig zu machen, sondern hier greifen ja viele Handlungslinien ineinander, die zu orchestrieren sind. Wir haben ja auch eine Präsidentschaftswahl im Jahr 2014. Auch deren Ausgang wird über den weiteren Entwicklungsverlauf im Lande entscheiden, sodass man sich nicht nur einen Teilaspekt herausgreifen darf. Insgesamt bin ich aber sehr zuversichtlich, was Aufwuchs, Ausrüstung und Ausbildung dieser Kräfte anbetrifft. Das zeigen sie auch gegenwärtig bereits dort, wo wir die Verantwortung an sie übertragen haben.
Clement: Aber ein bisschen Skepsis über das, was sie danach machen, höre ich schon heraus.
Wieker: Ja, aber da sollten wir nicht mutmaßen. Das kommt schon einem Blick in die Glaskugel gleich. Ich möchte mich an solchen Spekulationen nicht beteiligen. Das ist durch nichts genährt gegenwärtig.
Clement: Im Interview der Woche im Deutschlandfunk der Generalinspektor der Bundeswehr, General Volker Wieker. Herr Wieker, die Bundeswehr steht auch im Inneren in einer großen Reformanstrengung. Und auch da hört man immer wieder, wenn man mit Soldaten spricht: Ja, so richtig klappt das noch nicht, so richtig läuft das noch nicht. Es gibt auch entsprechende Untersuchungen des Bundeswehrverbandes und Ihres eigenen sozialwissenschaftlichen Instituts. So richtig der große Schwung ist in der Breite noch nicht da. Oder sehe ich das falsch?
Wieker: Ja, von Schwung möchte ich noch gar nicht reden. Gegenwärtig befinden wir uns ja in der Lage, dass alle grundlegenden Entscheidungen getroffen sind und die Umsetzung gerade erst begonnen hat, und zwar an der Spitze beginnend, im Umbau des Ministeriums und in der Ausrichtung der ersten nachgeordneten Ebene, im zivilen Bereich die Bundesämter und im militärischen Bereich die Kommandos der Teilstreitkräfte. Das wird zunehmend an Schwung gewinnen und die Stimmungslage zu einem solchen Zeitpunkt sollte uns auch nicht überraschen. Das deckt sich auch mit unseren Erfahrungen aus früheren Reformschritten. Wenn eine solch tief greifende Veränderung die persönliche Betroffenheit erreicht, dann tritt immer auch Verunsicherung ein. Das betrifft nicht nur die Soldaten selbst, sondern natürlich auch ihre Familien, ändert sich dann aber auch im Laufe der Zeit je mehr es gelingt, die persönliche Verortung im neuen Organismus Bundeswehr sicherzustellen. Und ich bin eigentlich recht zuversichtlich, dass wir bereits Ende des kommenden Jahres ein ganz anderes Stimmungsbild haben.
Clement: Da sagen viele, Ende kommenden Jahres kommt die nächste Bundeswehrreform. Da haben wir Bundestagswahl hinter uns gehabt und jede neue Regierung macht erst mal eine neue Reform. Man nennt das bei manchen, mit denen man spricht, nachsteuern. Können Sie die beruhigen?
Wieker: Ja. Also, das ist ja keine Gesetzmäßigkeit. Erst mal sollten wir die Wahlen in Ruhe abwarten. Und meine Erfahrung über fast 40 Dienstjahre hat mich gelehrt, dass möglicherweise die Begleitmusik eine deutlich andere ist, als das, was sich dann nachher an tatsächlichen Entscheidungen niederschlägt. Ich bin überzeugt davon, dass eine Fülle von Maßnahmen im Zuge dieser Neuausrichtung überaus zweckmäßig und auch angezeigt waren, weil die Treiber wie zum Beispiel die demografische Entwicklung in Deutschland ja nicht wegdiskutiert werden können, sondern man gut beraten ist, darauf sachgerecht zu reagieren.
Clement: Das ist aber auch einer der Punkte, wo man sagt, dass es eines der Probleme der Bundeswehr in den nächsten Jahren sei. Es ist keine Wehrpflichtarmee mehr, es ist eine Freiwilligenarmee. Sie müssen jeden Einzelnen extra eigens anwerben. Die Kreiswehrersatzämter sind vor zehn Tagen dichtgemacht worden. Es gibt jetzt neue Institutionen, die die Freiwilligen anwerben. Wie ist denn nun der Stand der Dinge? Sind Sie zufrieden mit der Zahl und der Qualität derer, die zur Bundeswehr kommen?
Wieker: Die Kreiswehrersatzämter waren ja maßgeblich mit der Erfassung und der Musterung der Wehrdienstleistenden befasst. Nun eröffnen wir Karrierezentren flächendeckend, bundesweit, die die jungen Menschen auch regional ansprechen können. Ich halte das für einen Fortschritt. Nun sollten wir abwarten, wie sich das System bewährt. Ich bin recht zuversichtlich, insbesondere auf der Grundlage unserer bisherigen Erfahrungen, dass wir geeigneten Nachwuchs gewinnen können. Unsere Nachwuchszahlen in allen Personalkategorien, von den freiwilligen Wehrdienstleistenden bis hin zu den Zeit- und Berufssoldaten, sind sehr ermutigend, qualitativ und quantitativ.
Clement: Man hört, dass rund ein Drittel der freiwillig Wehrdienstleistenden relativ schnell wieder abspringen.
Wieker: Das hat weniger mit den Erfahrungen in den ersten Diensttagen und dem neuen beruflichen Umfeld zu tun als mit der Tatsache, dass sich junge Menschen heute mehrfach bewerben. Das ist ein genereller Trend, der uns im Übrigen auch aus der zivilen Wirtschaft so bestätigt wird bis hin zur Anmeldung für ein Studium. Also, solche Implikationen werden wir auch in Zukunft erleben. Wir müssen alles dafür tun, dass wir diese jungen Menschen für uns einnehmen, auch auf der Grundlage ihrer ersten Eindrücke, um sie an uns zu binden. Gegenwärtig bin ich mit Blick auf das Gesamtaufkommen aber sehr zuversichtlich.
Clement: Ein anderer Vorhalt, der gelegentlich gemacht wird, ist, die Bundeswehr wird in ihrer Einsatzorientierung zu stark auf ein Afghanistanszenario ausgerichtet. Können Sie das nachempfinden?
Wieker: Nein. Natürlich spielen unsere Erfahrungen aus den jüngeren Einsätzen eine große Rolle mit Blick auf die Binnenstrukturen und das Anforderungsprofil. Aber es wäre verfehlt, dies ausschließlich als Blaupause für eine Neuausrichtung zu nehmen, denn wir müssen doch feststellen, dass wir nur begrenzt vorhersagefähig sind, was zukünftige Entwicklung und Herausforderung anbetrifft. Von daher haben wir uns auch für ein breites Fähigkeitsprofil entschieden, im Übrigen auch mit Blick auf zukünftige Optionen eines Pooling und Sharing im internationalen Verbund, weil ein breites Fähigkeitsprofil eben viel mehr Andockpunkte bietet, auch für interessierte Verbündete, Dinge mit uns gemeinsam zu tun.
Clement: Gibt es denn schon eine Initiative, dass man dieses Pooling und Sharing, das im Moment ja darin besteht, dass bestehende Projekte unter diese Überschrift zusammengezogen worden sind, dass man einfach mal sich zusammensetzt und sagt, wir möchten gerne das zusammen machen und wir möchten gerne das zusammen machen, dass das mal aktiv geplant wird? Treffen Sie sich mit Ihren Amtskollegen in den anderen NATO-Staaten mal, um zu besprechen, jetzt lasst uns mal überlegen, wo können wir da was gemeinsam machen?
Wieker: Ja, in der Tat. Das nimmt auch großen Raum in meinem Tätigkeitsfeld ein, diese bi- und multilateralen Kontakte zu pflegen und insbesondere Dinge dann auch sehr zielgerichtet anzugehen. Man muss allerdings bei dem sehr plakativen Gebrauch von Pooling und Sharing doch etwas mehr differenzieren. Auf der einen Seite gibt es die Möglichkeit, Fähigkeiten, die wir alle besitzen, in einen Pool zu geben, um in diesem Spektrum eine größere Durchhaltefähigkeit in Einsätzen zu erlagen, zum Beispiel wenn alle Nationen oder eine bestimmte Anzahl ihre Seeüberwachungsflugzeuge in einen Pool gibt, um damit die Durchhaltefähigkeit der Seeüberwachung zum Beispiel am Horn von Afrika deutlich zu verbessern. Das ist eine Zielsetzung von Pooling und Sharing. Eine andere ist das Erbringen einer Fähigkeit, die eine Nation alleine nicht stemmen kann. Das heißt, mehrere Nationen tun sich zusammen wegen des hohen finanziellen Aufwandes, also der hohen Ressourcenbindung, um eine Fähigkeit gemeinsam verfügbar zu machen, die allerdings natürlich zu einer größeren Abhängigkeit führt, wenn sich eine Nation dann herausnimmt aufgrund politischer Entscheidungslage, die Gefährdung der Fähigkeit insgesamt eintreten könnte.
Clement: Tja, dann sind wir ja auch bei der Situation, die wir gelegentlich in Deutschland haben. Schlägt Ihnen das in den Diskussionen entgegen, wie: Ihr habt ja einen Parlamentsvorbehalt?
Wieker: Also, den Begriff Parlamentsvorbehalt sollte man nicht leichtfertig gebrauchen. Mir ist aus der jüngeren Erinnerung eigentlich kein Fall bekannt, in dem der Parlamentsvorbehalt eine signifikante Rolle spielte, sondern es waren maßgeblich immer Regierungsentscheidungen pro oder kontra. Wenn das Parlament befragt wurde und um Zustimmung gebeten wurde, ist mir kein Fall bekannt, in dem diese Zustimmung verweigert wurde.
Clement: Herr General Wieker, wir haben heute den 3. Advent. Wie viele Soldaten werden über Weihnachten im Einsatz sein?
Wieker: Es werden etwa sechseinhalb Tausend Soldaten sein über die Weihnachtstage.
Clement: Und die werden besondere Weihnachten verbringen, wie es immer so ist, wenn man im Einsatz ist. Werden Sie denen noch einen Gruß zukommen lassen?
Wieker: Ja. Ich werde die Soldaten auch noch im Einsatz besuchen vor Weihnachten und werde diesen Anlass nehmen, um mich an alle Soldaten in den Einsätzen zu wenden und besinnliche Festtage, ein gutes, erfolgreiches neues Jahr und vor allen Dingen eine wohlbehaltene Rückkehr zu wünschen. Ich selbst habe zweimal die Erfahrung gemacht und durfte die Feiertage und den Jahreswechsel im Einsatz verbringen. Von daher kann ich das ganz gut nachfühlen, was dort dann auch in den Köpfen vor sich geht und wie auch die Kommunikation nach Hause mit der Familie und den Angehörigen geht. Das ist schon ein sehr besonderer Moment.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Volker Wieker: Ja, es gibt natürlich ein Bedrohungsempfinden der Türkei, und man darf so etwas nicht nur an den aktuellen Ereignissen festmachen, wie sie sich in der jüngeren Vergangenheit grenzüberschreitend ereignet haben, sondern man muss auch das Potenzial sehen, was auf der anderen Seite besteht. Wir sprechen dort über Kurz- und Mittelstreckenraketen der Typen FROG, SS21, SCAT Charly, Bravo und Delta – mit einer Reichweite von 70 bis 700 Kilometern – gegenwärtig noch unter Kontrolle der Streitkräfte in Syrien. Aber ein solches Potenzial, einmal außer Kontrolle geraten, kann natürlich eine erhebliche Bedrohung auslösen für alle Anrainerstaaten und natürlich für das Bündnismitglied Türkei in besonderer Weise, was unsere Interessen berührt.
Clement: Also Sie können das nachvollziehen, dass die Türken sagen, wir empfinden ja ...
Wieker: ... ja, selbstverständlich.
Clement: Nun verlegen Sie die Raketen mit Schiffen, das dauert rund drei Wochen. Daraus könnte man ja schließen: Ganz so groß ist die Bedrohung dann doch nicht, wenn man da drei Wochen noch Zeit hat, um über das Meer zu schippern.
Wieker: Ja nun, das ist eine Angelegenheit der Verlegeplanung. Wir bauen nach einer sorgfältigen Erkundung die Systeme in einem Verbund auf, sodass sie flächendeckend eine bevölkerungsreiche Region in der Türkei schützen können. Die Art der Verlegung ist dabei von sekundärem Interesse.
Clement: Herr Wieker, wenn man auf einen anderen Einsatzort der Bundeswehr guckt, auf Afghanistan, dann stellt man fest, dass – je näher so zusagen das Rückzugsdatum rückt, desto besser werden die Nachrichten. Man hört immer wieder: Jetzt ist die Ausbildung besser geworden, jetzt kann die afghanische Armee dies und jenes selbst leisten. Ist das wirklich so, oder wird da nicht auch politisch etwas herbeigeredet, dass man sagt, die ganze Geschichte war ein Erfolg?
Wieker: Nein. Das sehe ich durchaus anders. Und da möchte ich auch Ihre Erinnerung bemühen, einmal zurückzuschauen in das Jahr 2009. Ich selbst war zu dem Zeitpunkt in Afghanistan. Die Einsatztruppen hatten im ganzen Land die Initiative verloren, die Aufständischen kontrollierten die Räume bis eng an unsere Basislager. Man schoss nach Belieben mit indirektem Feuer in unsere Lager hinein. In einer sehr großen politischen und militärischen Kraftanstrengung haben wir diese Räume zurückgewonnen – gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften, die wir parallel dazu aufgebaut und ausgebildet haben. Wir kontrollieren diese Räume gegenwärtig, und selbst dort, wo wir die Verantwortung bereits an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben haben, bleibt die Lage stabil. Das heißt, wir konstatieren eine spürbare Beruhigung der Sicherheitslage im vergangenen Jahr. Das lässt sich auch am Aufkommen der sogenannten sicherheitsrelevanten Zwischenfälle festmachen - landesweit ein Rückgang um rund zehn Prozent, im Norden beobachteten wir sogar einen Rückgang um fast ein Viertel, trotz der fortschreitenden Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Streitkräfte, an die afghanische Polizei. Und das ist eine Entwicklung, die durchaus zuversichtlich stimmt und die uns erlaubt, nun in eine andere Aufstellung zu gehen.
Clement: Das heißt also, Sie gehen mit gutem Gewissen raus?
Wieker: Wir gehen ja nicht raus, das sollte man mit aller Deutlichkeit sagen. Wir nehmen unsere eigene Silhouette zurück. Sie erinnern sich: Wir begannen mit der gemeinsamen Operationsführung der ISAF-Verbände mit den afghanischen Streitkräften und möchten uns nun aus der gemeinsamen Operationsführung langsam lösen und in eine beratende und unterstützende Rolle wechseln, das heißt, die Streitkräfte auf der Brigade-, auf der Korpsebene anleiten, die eigene Präsenz im Raum zurückführen, aber dennoch natürlich reaktionsfähig bleiben, um auf krisenhafte Entwicklungen reagieren zu können.
Clement: Wie muss man sich das vorstellen. Sind dann nur noch Ausbilder vor Ort, sind da auch noch Truppenteile, die kämpfen könnten?
Wieker: Ja, gegenwärtig haben wir ja sogenannte Partnering und Advisory Task Forces, etwa bataillonsstark, zwei davon, die jeweils mit einer afghanischen Brigade zusammenarbeiten, auch gemeinsam operieren. Das afghanische Bataillon nennt man ja "Kandak", auch dort haben wir Berater, Mentoren, platziert, die sie anleiten. Diese Verbände haben mittlerweile eine Einsatzreife erreicht, die sie zur selbstständigen Operationsführung befähigt. Das heißt, wir können uns aus dieser Aufstellung lösen und unsere beratende, unterstützende Tätigkeit auf die Brigadeebene verlagern. Das erlaubt eine gewisse Ausdünnung der Präsenz in der Fläche. Wir möchten allerdings natürlich ein aktuelles Lagebild umfassend und die ganze Region abdeckend bewahren. Daher werden wir Verbindungskommandos zu den sogenannten Operations Coordination Centers entsenden, um eben auch bei krisenhafter Entwicklung mit bereitgehaltenen Reserven, die auch luftbeweglich sind, reagieren zu können.
Clement: Und wie sieht das aus mit zum Beispiel der Schutzfunktion? Kann die Schutzfunktion für die gesamte Mission ein Land übernehmen oder schützen sich die Deutschen selbst?
Wieker: Nein. Da gilt unverändert das Prinzip: Jeder schützt sich selbst.
Clement: Das heißt, Sie müssen dann auch Truppenteile mithaben, die, wenn sie denn angegriffen werden, sich auch verteidigen können.
Wieker: Richtig. Wir sprechen aber über den Zeitraum bis Ende 2014, noch nicht über die Folgemission, die sich ja zunächst einmal erst in Konturen abzeichnet. Dort ist der Planungsprozess eingeleitet auf der Ebene des Bündnisses mit der sogenannten initiating directive.
Clement: ... der ersten Direktive ...
Wieker: ... der ersten Direktive, die die Planung initiiert. Ich denke, dass wir ein "Conops", ein Concept of Operations bis Anfang nächsten Jahres vorlegen können auf Bündnisebene, das dann den Verteidigungsministern zur Billigung vorgelegt wird. Daraus entwickelt sich dann erst eine Truppenstruktur, die dann im Rahmen einer sogenannten Force Generations Konferenz der Truppenstelle zu unterlegen ist mit Truppe.
Clement: Wie kann das Aufgabenspektrum dann aussehen?
Wieker: Wie es der Name beschreibt: train, advice, assistance, also Ausbildung, Beratung und Unterstützung. Das wird sich an der höheren Führungsebene der afghanischen Streitkräfte festmachen lassen, zum Beispiel auf der Korpsebene, aber insbesondere in der sogenannten – wir bezeichnen das – institutionelle Ausbildungseinrichtung, also an den Truppenschulen, an den Akademien, im Rahmen der Offizierausbildung, der Pionierausbildung, der Logistikausbildung – also die gesamte Peripherie im militärischen Leistungsvermögen.
Clement: Ist das so, dass zum Beispiel die Schulen dann von Deutschland betrieben würden, als Ausbildungsschulen, Pionierschulen zum Beispiel, oder ...
Wieker: ... das tun wir ja bereits, das tun wir ja bereits. Wir sind sehr stark engagiert an der Pionierschule in Masar-i-Scharif, die sich in unmittelbarer Nähe zu unserem dortigen Feldlager befindet. Wir sind bereits sehr stark engagiert an der Logistikschule in Kabul, und wir möchten dieses Engagement auch noch weiter ausbauen.
Clement: Wohin ausbauen?
Wieker: Ja, zahlenmäßig, also uns mit einem stärkeren Umfang an Ausbildern dort engagieren. Aber man muss eben wissen: Um das leisten zu können, muss parallel eben auch ein Stützpunkt unterhalten und betrieben werden. Das heißt, wir gehen von einem Verhältnis von etwa im günstigen Fall 5:1 bis 7:1 aus, wenn wir darüber sprechen, welche Fähigkeiten werden den Afghanen bereitgestellt, und welche Unterstützungsleistung im eigenen Umfeld sind nötig, um das überhaupt leisten zu können.
Clement: Aber da haben Sie noch keine zahlenmäßige Vorstellung, was da auf Deutschland zukommen könnte?
Wieker: Nein, das hängt ja auch davon ab, wie es auf Bündnisebene orchestriert wird unter allen Truppenstellern, die natürlich in allen Bereichen auch Aufgaben übernehmen möchten und übernehmen müssen, damit die Lastenteilung einigermaßen gerecht verteilt wird.
Clement: Nun, man spricht in Deutschland immer von Kampftruppen, die da abgezogen werden und die dann nicht mehr da sind. Ist das der richtige Begriff? Ich kann mir vorstellen, wenn jemand einen ausbildet, einen berät, dann muss der kämpfen können, sonst kann er es ja gar nicht weitergeben.
Wieker: Die Anforderung, kämpfen zu können, gehört zur Beschreibung jedes Soldaten, gewissermaßen zu seinen Grundfähigkeiten. Das beginnt mit der Selbstverteidigung, dazu muss er in der Lage sein. Wenn man explizit von Kampftruppen spricht, dann gehe ich im allgemeinen Verständnis davon aus, dass man damit Truppen meint, die in der Fläche operieren, aktiv operieren gegen die Aufstandsbewegung. Das wird dann sicher nicht mehr der Fall sein.
Clement: Bis dahin haben Sie eine große logistische Aufgabe vor sich. Sie müssen einen Teil der Bundeswehr zurückführen, und das auch bis zu dem Stichtag 31.12.2014. Das ist eine immense Anzahl von Material, von Personal, was da zurück muss – wenn man das abzieht, was bleiben kann, immer noch eine große Anzahl. Schafft man das überhaupt?
Wieker: Nun, man sollte insgesamt den Aufwand, der dafür zu betreiben ist, auch nicht überhöhen. Wir sprechen nach einer Bestandsaufnahme von insgesamt 6000 Containern und etwa 1700 Fahrzeugen. Nach einer ersten Erfassung und Kategorisierung gehen wir davon aus, dass bis zu 40 Prozent des Gerätes entweder ausgesondert werden kann, im Lande verbleibt, oder ob möglicherweise an die Afghanen übergeben werden kann zu deren Unterstützung. Das reduziert den Umfang schon erheblich. Und zweitens ist natürlich eine solche Rückführung immer eine Funktion des Aufkommens an Gerät und der Zeitachse, in der man diese Rückführung abwickelt. Das erst entscheidet ja über die tatsächliche Umschlagleistung, die zu erbringen ist. Wir haben ja gegenwärtig schon eine negative Bilanz. Das heißt, jedes Flugzeug, das in irgendeiner Form Versorgungsgüter nach Afghanistan hereinbringt, fliegt nicht leer zurück, sondern nimmt bereits überschüssiges Gerät mit in die Heimat. Wir haben belastbare Verträge mit den Anrainerstaaten, also Transitverträge, um unser Gerät entweder auf der Straße, auf der Schiene, in einer Kombination von beiden oder auf dem Luftweg zurückzuführen. Wir stehen auch in Verhandlungen mit der Türkei, um eine Umschlagsbasis möglicherweise in Trabzon einzurichten, um gewissermaßen in einem Luftshuttle dort dann das Gerät auf Schiffe zu verladen und dann in größeren Gebinden nach Hause zurückzuführen.
Clement: Man hört ja, dass die Anrainerstaaten merken, dass man da Geld verdienen kann und dass die Transitgebühren drastisch in die Höhe gehen.
Wieker: Nun, da berufe ich mich auf die Verträge, die schon vor Jahren geschlossen wurden. Wir haben auch bereits in 2011 und 2012 je einen Testlauf durchgeführt, sodass wir eigentlich auf einer ganz sicheren Grundlage agieren.
Clement: Also Sie sehen das nicht als – Herausforderung ja, aber als eine, die man gut meistern kann?
Wieker: Ja. Ich denke mal, dass das insgesamt so angelegt werden kann, auch in Abstimmung zu unserer operativen Aufstellung im Land, dass wir das gut schultern werden.
Clement: Noch mal auf die afghanische Armee. Die afghanische Armee leistet zurzeit das, was sie leistet. Sie sagen, es wird täglich besser. Sie machen viele Operationen allein, weil ja dahinter noch Leute von der NATO stehen. Wenn die nicht mehr da sind und die sich alleine überlassen sind im Wesentlichen, vertrauen Sie denen dann auch, dass sie dann in dem Sinne weiter agieren, wie sie das jetzt getan haben?
Wieker: Das ist weniger eine Frage, ob ich ihnen vertraue oder nicht, sondern eine Frage der politischen Führung und der politischen Kontrolle über diese Sicherheitskräfte – es ist ja nicht nur die afghanische Armee, sondern auch die Polizeikräfte – und wie sie ausgeübt wird. Das berührt natürlich auch Fragen des Vertrauens in die politische Führung. Und die zukünftige Entwicklung Afghanistans ist ja nicht nur von der Sicherheitslage abhängig zu machen, sondern hier greifen ja viele Handlungslinien ineinander, die zu orchestrieren sind. Wir haben ja auch eine Präsidentschaftswahl im Jahr 2014. Auch deren Ausgang wird über den weiteren Entwicklungsverlauf im Lande entscheiden, sodass man sich nicht nur einen Teilaspekt herausgreifen darf. Insgesamt bin ich aber sehr zuversichtlich, was Aufwuchs, Ausrüstung und Ausbildung dieser Kräfte anbetrifft. Das zeigen sie auch gegenwärtig bereits dort, wo wir die Verantwortung an sie übertragen haben.
Clement: Aber ein bisschen Skepsis über das, was sie danach machen, höre ich schon heraus.
Wieker: Ja, aber da sollten wir nicht mutmaßen. Das kommt schon einem Blick in die Glaskugel gleich. Ich möchte mich an solchen Spekulationen nicht beteiligen. Das ist durch nichts genährt gegenwärtig.
Clement: Im Interview der Woche im Deutschlandfunk der Generalinspektor der Bundeswehr, General Volker Wieker. Herr Wieker, die Bundeswehr steht auch im Inneren in einer großen Reformanstrengung. Und auch da hört man immer wieder, wenn man mit Soldaten spricht: Ja, so richtig klappt das noch nicht, so richtig läuft das noch nicht. Es gibt auch entsprechende Untersuchungen des Bundeswehrverbandes und Ihres eigenen sozialwissenschaftlichen Instituts. So richtig der große Schwung ist in der Breite noch nicht da. Oder sehe ich das falsch?
Wieker: Ja, von Schwung möchte ich noch gar nicht reden. Gegenwärtig befinden wir uns ja in der Lage, dass alle grundlegenden Entscheidungen getroffen sind und die Umsetzung gerade erst begonnen hat, und zwar an der Spitze beginnend, im Umbau des Ministeriums und in der Ausrichtung der ersten nachgeordneten Ebene, im zivilen Bereich die Bundesämter und im militärischen Bereich die Kommandos der Teilstreitkräfte. Das wird zunehmend an Schwung gewinnen und die Stimmungslage zu einem solchen Zeitpunkt sollte uns auch nicht überraschen. Das deckt sich auch mit unseren Erfahrungen aus früheren Reformschritten. Wenn eine solch tief greifende Veränderung die persönliche Betroffenheit erreicht, dann tritt immer auch Verunsicherung ein. Das betrifft nicht nur die Soldaten selbst, sondern natürlich auch ihre Familien, ändert sich dann aber auch im Laufe der Zeit je mehr es gelingt, die persönliche Verortung im neuen Organismus Bundeswehr sicherzustellen. Und ich bin eigentlich recht zuversichtlich, dass wir bereits Ende des kommenden Jahres ein ganz anderes Stimmungsbild haben.
Clement: Da sagen viele, Ende kommenden Jahres kommt die nächste Bundeswehrreform. Da haben wir Bundestagswahl hinter uns gehabt und jede neue Regierung macht erst mal eine neue Reform. Man nennt das bei manchen, mit denen man spricht, nachsteuern. Können Sie die beruhigen?
Wieker: Ja. Also, das ist ja keine Gesetzmäßigkeit. Erst mal sollten wir die Wahlen in Ruhe abwarten. Und meine Erfahrung über fast 40 Dienstjahre hat mich gelehrt, dass möglicherweise die Begleitmusik eine deutlich andere ist, als das, was sich dann nachher an tatsächlichen Entscheidungen niederschlägt. Ich bin überzeugt davon, dass eine Fülle von Maßnahmen im Zuge dieser Neuausrichtung überaus zweckmäßig und auch angezeigt waren, weil die Treiber wie zum Beispiel die demografische Entwicklung in Deutschland ja nicht wegdiskutiert werden können, sondern man gut beraten ist, darauf sachgerecht zu reagieren.
Clement: Das ist aber auch einer der Punkte, wo man sagt, dass es eines der Probleme der Bundeswehr in den nächsten Jahren sei. Es ist keine Wehrpflichtarmee mehr, es ist eine Freiwilligenarmee. Sie müssen jeden Einzelnen extra eigens anwerben. Die Kreiswehrersatzämter sind vor zehn Tagen dichtgemacht worden. Es gibt jetzt neue Institutionen, die die Freiwilligen anwerben. Wie ist denn nun der Stand der Dinge? Sind Sie zufrieden mit der Zahl und der Qualität derer, die zur Bundeswehr kommen?
Wieker: Die Kreiswehrersatzämter waren ja maßgeblich mit der Erfassung und der Musterung der Wehrdienstleistenden befasst. Nun eröffnen wir Karrierezentren flächendeckend, bundesweit, die die jungen Menschen auch regional ansprechen können. Ich halte das für einen Fortschritt. Nun sollten wir abwarten, wie sich das System bewährt. Ich bin recht zuversichtlich, insbesondere auf der Grundlage unserer bisherigen Erfahrungen, dass wir geeigneten Nachwuchs gewinnen können. Unsere Nachwuchszahlen in allen Personalkategorien, von den freiwilligen Wehrdienstleistenden bis hin zu den Zeit- und Berufssoldaten, sind sehr ermutigend, qualitativ und quantitativ.
Clement: Man hört, dass rund ein Drittel der freiwillig Wehrdienstleistenden relativ schnell wieder abspringen.
Wieker: Das hat weniger mit den Erfahrungen in den ersten Diensttagen und dem neuen beruflichen Umfeld zu tun als mit der Tatsache, dass sich junge Menschen heute mehrfach bewerben. Das ist ein genereller Trend, der uns im Übrigen auch aus der zivilen Wirtschaft so bestätigt wird bis hin zur Anmeldung für ein Studium. Also, solche Implikationen werden wir auch in Zukunft erleben. Wir müssen alles dafür tun, dass wir diese jungen Menschen für uns einnehmen, auch auf der Grundlage ihrer ersten Eindrücke, um sie an uns zu binden. Gegenwärtig bin ich mit Blick auf das Gesamtaufkommen aber sehr zuversichtlich.
Clement: Ein anderer Vorhalt, der gelegentlich gemacht wird, ist, die Bundeswehr wird in ihrer Einsatzorientierung zu stark auf ein Afghanistanszenario ausgerichtet. Können Sie das nachempfinden?
Wieker: Nein. Natürlich spielen unsere Erfahrungen aus den jüngeren Einsätzen eine große Rolle mit Blick auf die Binnenstrukturen und das Anforderungsprofil. Aber es wäre verfehlt, dies ausschließlich als Blaupause für eine Neuausrichtung zu nehmen, denn wir müssen doch feststellen, dass wir nur begrenzt vorhersagefähig sind, was zukünftige Entwicklung und Herausforderung anbetrifft. Von daher haben wir uns auch für ein breites Fähigkeitsprofil entschieden, im Übrigen auch mit Blick auf zukünftige Optionen eines Pooling und Sharing im internationalen Verbund, weil ein breites Fähigkeitsprofil eben viel mehr Andockpunkte bietet, auch für interessierte Verbündete, Dinge mit uns gemeinsam zu tun.
Clement: Gibt es denn schon eine Initiative, dass man dieses Pooling und Sharing, das im Moment ja darin besteht, dass bestehende Projekte unter diese Überschrift zusammengezogen worden sind, dass man einfach mal sich zusammensetzt und sagt, wir möchten gerne das zusammen machen und wir möchten gerne das zusammen machen, dass das mal aktiv geplant wird? Treffen Sie sich mit Ihren Amtskollegen in den anderen NATO-Staaten mal, um zu besprechen, jetzt lasst uns mal überlegen, wo können wir da was gemeinsam machen?
Wieker: Ja, in der Tat. Das nimmt auch großen Raum in meinem Tätigkeitsfeld ein, diese bi- und multilateralen Kontakte zu pflegen und insbesondere Dinge dann auch sehr zielgerichtet anzugehen. Man muss allerdings bei dem sehr plakativen Gebrauch von Pooling und Sharing doch etwas mehr differenzieren. Auf der einen Seite gibt es die Möglichkeit, Fähigkeiten, die wir alle besitzen, in einen Pool zu geben, um in diesem Spektrum eine größere Durchhaltefähigkeit in Einsätzen zu erlagen, zum Beispiel wenn alle Nationen oder eine bestimmte Anzahl ihre Seeüberwachungsflugzeuge in einen Pool gibt, um damit die Durchhaltefähigkeit der Seeüberwachung zum Beispiel am Horn von Afrika deutlich zu verbessern. Das ist eine Zielsetzung von Pooling und Sharing. Eine andere ist das Erbringen einer Fähigkeit, die eine Nation alleine nicht stemmen kann. Das heißt, mehrere Nationen tun sich zusammen wegen des hohen finanziellen Aufwandes, also der hohen Ressourcenbindung, um eine Fähigkeit gemeinsam verfügbar zu machen, die allerdings natürlich zu einer größeren Abhängigkeit führt, wenn sich eine Nation dann herausnimmt aufgrund politischer Entscheidungslage, die Gefährdung der Fähigkeit insgesamt eintreten könnte.
Clement: Tja, dann sind wir ja auch bei der Situation, die wir gelegentlich in Deutschland haben. Schlägt Ihnen das in den Diskussionen entgegen, wie: Ihr habt ja einen Parlamentsvorbehalt?
Wieker: Also, den Begriff Parlamentsvorbehalt sollte man nicht leichtfertig gebrauchen. Mir ist aus der jüngeren Erinnerung eigentlich kein Fall bekannt, in dem der Parlamentsvorbehalt eine signifikante Rolle spielte, sondern es waren maßgeblich immer Regierungsentscheidungen pro oder kontra. Wenn das Parlament befragt wurde und um Zustimmung gebeten wurde, ist mir kein Fall bekannt, in dem diese Zustimmung verweigert wurde.
Clement: Herr General Wieker, wir haben heute den 3. Advent. Wie viele Soldaten werden über Weihnachten im Einsatz sein?
Wieker: Es werden etwa sechseinhalb Tausend Soldaten sein über die Weihnachtstage.
Clement: Und die werden besondere Weihnachten verbringen, wie es immer so ist, wenn man im Einsatz ist. Werden Sie denen noch einen Gruß zukommen lassen?
Wieker: Ja. Ich werde die Soldaten auch noch im Einsatz besuchen vor Weihnachten und werde diesen Anlass nehmen, um mich an alle Soldaten in den Einsätzen zu wenden und besinnliche Festtage, ein gutes, erfolgreiches neues Jahr und vor allen Dingen eine wohlbehaltene Rückkehr zu wünschen. Ich selbst habe zweimal die Erfahrung gemacht und durfte die Feiertage und den Jahreswechsel im Einsatz verbringen. Von daher kann ich das ganz gut nachfühlen, was dort dann auch in den Köpfen vor sich geht und wie auch die Kommunikation nach Hause mit der Familie und den Angehörigen geht. Das ist schon ein sehr besonderer Moment.
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