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Wieland Wagner
"Japan: Abstieg in Würde"

In Japan werden wenige Kinder geboren. Die Bevölkerung altert und schrumpft. Auch die Wirtschaft lahmt, und Reformen bleiben auf der Strecke. Der Journalist Wieland Wagner beschreibt ein Land, das aus vielen Gründen in einer Abwärtsspirale gefangen ist.

Von Martin Tschechne |
    Collage: links das Buchcover "Japan. Abstieg in Würde". von Wieland Wagner, DVA Verlag. Hintergrundbild Wasserfall in japanischer Felsenlandschaft.
    Der Autor beschreibt die Realität einer Gesellschaft, der die Lebenslust vergangen ist. Und er lässt seine Leser in einen Spiegel schauen, der ihnen ihre eigene Zukunft vor Augen führt. (Buchcover: DVA Verlag, Hintergrundbild: imago/AFLO)
    Japan ist anders. Wer Berlin oder Hamburg gewohnt ist, dem verschlägt das Gedränge in Tokio den Atem. Dazu die Insellage, eine Jahrtausende alte Geschichte der Isolation, erbittert verteidigt - eine Kultur, in der die Gruppe, die Gemeinschaft alles, das Individuum aber eher wenig gil. Wenn Wieland Wagner, langjähriger Ostasien-Korrespondent des "Spiegel", den Vergleich anstellt zwischen seiner Heimat Deutschland und seinem Arbeitsplatz Japan, dann hat er eine gehörige Distanz zu überbrücken.
    Aber nur auf den ersten Blick. Denn immer wieder fördert dieser Vergleich verblüffende Parallelen zutage: die Lebenskurve einer in die Jahre gekommenen Volkswirtschaft; die demografische Entwicklung; einen Wohlstand, der kaum noch Anreize bietet, zugleich aber den Anspruch befeuert, in Politik und Wirtschaft ganz vorn dabei zu sein, schließlich das unaufhaltsame Erstarren der Institutionen - es ist, als beschriebe da einer so etwas wie ein Naturgesetz alternder Gesellschaften. Wobei die Spannung darin liegt, dass Japan immer ein paar Jahre Vorsprung zu haben scheint.
    "Japan ist ein ökonomischer Gigant. Aber gemessen an den einstigen Erfolgen ist die 125-Millionen-Nation dabei, auf ein Normalmaß zu schrumpfen; in vielen Bereichen zehrt sie von ihrer Substanz. Anfang der Neunziger trug sie noch rund 16 Prozent zur globalen Wirtschaftsleistung bei, fast so viel wie das heutige China. Mittlerweile ist der japanische Anteil auf unter sechs Prozent gesunken."
    Städte voller Senioren
    Wagner erlebt und beschreibt eine Realität, die sich vor zehn oder zwanzig Jahren keiner, der heute darin leben muss, auch nur vorstellen konnte: eine Gesellschaft, der die Lebenslust vergangen ist - so gründlich, dass kaum noch jemand Kinder in die Welt setzen mag. Menschen, die glänzende Hochschulabschlüsse hingelegt haben und nun unter der Last hunderter von Überstunden zusammenbrechen. Oder sich gleich das Leben nehmen. Und andere, die seit Jahren ihr Zimmer nicht verlassen haben, weil die Welt da draußen keinerlei Anreiz für sie bietet. Ganze Städte voller Senioren. Häftlinge, die zu Altenpflegern ausgebildet werden, weil selbst im Gefängnis die Zahl der pflegebedürftigen Alten nicht mehr zu bewältigen ist. Und immer wieder lässt der Autor seine deutschen Leser in einen Spiegel schauen, der ihnen ihre eigene Zukunft vor Augen führt.
    "Weit über sechs Millionen Japaner sind auf Pflege angewiesen. Ab 2025 - also dann, wenn die Babyboomer 75 werden - dürften im ganzen Land rund 380.000 Pflegekräfte fehlen. Entlastung ist nicht in Sicht. Ähnlich wie in Deutschland verdienen Pfleger und Pflegehelfer deutlich weniger als in anderen Dienstleistungsberufen."
    Der Reporter also macht sich auf den Weg zu den Menschen - und genau darauf, auf Gespräch und kluger Beobachtung, beruht die Stärke seiner Analyse. Er trifft etwa den Chefarzt in einer gespenstisch leeren Klinik, weil die einst blühende Region inzwischen von ihren Bewohnern verlassen wurde. Nur die Alten sind geblieben. Oder den Erfinder, der für Sony einen Roboter in Hundeform entwickelt hat - bis sich herausstellte, dass auch in Japan ein Schwanz wedelndes Plastikteil kein Ersatz für menschliche Nähe ist.
    Strategische Verirrung und bewundernswerte Disziplin
    Er trifft den Projektentwickler, der die Bucht von Osaka zu einem Casinopark ausbauen will, einer gigantischen Gelddruckmaschine - ganz so, wie es der Premier Shinzō Abe immer gepredigt hatte: Wachstum! Und wenn es bloß Budenzauber ist.
    Und er trifft den Ministerialbeamten, der nach einem langen Arbeitsleben im Büro nun in einer Reismühle Säcke schleppen muss, als Leiharbeiter, bis endlich seine Rente ausbezahlt wird. So geht es hier vielen. Aber wie trägt der schmächtige Mann mit der randlosen Brille sein Los? Sehr japanisch: "Shigata ga nai" - da kann man nichts machen.
    Die Hände eines Mönchs in der Zen-Position "Kyoskku" 
    Der Reporter macht sich auf den Weg zu den Menschen. Die Stärke seiner Analyse beruht auf dem Gespräch und auf kluger Beobachtung. (imago stock&people / Ursula Gahwiler)
    Das alles hat nicht angefangen mit der Katastrophe von Fukushima. Wagner sieht in der Heimsuchung mit ihren unzählbaren Opfern nicht nur die Ursache einer zähen und weit verbreiteten Mutlosigkeit, sondern viel mehr noch das Symptom einer strategischen Verirrung, deren Ursprung viel tiefer liegt:
    "Die Chance eines Neuanfangs wurde vertan […] Anders als Deutschland, wo Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Fukushima mit dem Atomausstieg reagierte, hielt Japan an der Kernenergie fest […]. Unzählige Personen, Institutionen und Unternehmen hingen von der Kernkraft ab […]: die Stromversorger, die an der Kernkraft verdienten, die Hersteller von Reaktortechnologie, wie Toshiba oder Hitachi und die Baukonzerne, die neue Atomanlagen bauten und alte instand hielten. Trotzdem: Eine kurze Zeit lang war Japan das einzige führende Industrieland, das völlig ohne Kernkraft auskam […]."
    Was dem Beobachter aus Deutschland besonders imponierte, war die Disziplin der Japaner: Es ging weiter, weil Fabriken ihre Produktion auf die Nächte oder das Wochenende verlegten. Und weil die Menschen auch in ihren Wohnungen und Büros den Verbrauch drosselten. Für einen hoffnungsvollen Moment schien es, als könnte sich das ganze Land neu erfinden.
    Parallelen zum Westen
    Der Moment verstrich, wie schon viele aus einer Not geborene Chancen verstrichen sind - nicht nur in Japan. Doch genau hier, so schließt Wagner, laufen die Parallelen auseinander: Wo andere sich und ihr Schicksal einem Donald Trump ausliefern, dem Brexit oder den Populisten der AfD, da verharren die Japaner unter Shinzō Abe in einem starren und damit ebenso unklugen Weiter so.
    Nur der greise Kaiser scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Zum kommenden Frühjahr kündigte Akihito seinen Rücktritt an, um den Weg frei zu machen für seinen Nachfolger und dessen Reformen. Das hatte in hunderten von Jahren keiner vor ihm getan. Jetzt aber war die Zeit reif für ein solches kluges Zeichen.
    Wieland Wagner: "Japan - Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt",
    SPIEGEL / DVA Verlag, 256 Seiten, 20,00 Euro.