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Wiener Burgtheater
Saisonstart mit belehrenden "Bakchen" und Mouawads "Vögel"

Der neue Intendant Martin Kusej eröffnet mit Euripides. Regisseur Ulrich Rasche zieht Parallelen zwischen den Verehrerinnen des Dionysos und national gesinnten Zeitgenossen. Außerdem in Wien: Wajdi Mouawads „Vögel“ in der Regie von Itay Tiran, eine überlegt-überlegene Liebesgeschichte in vier Sprachen.

Von Christian Gampert |
Szene eines Familienessens aus Wajdi Mouawads Stück die Vögel am Wiener Burgtheater
Mouawads Epos über drei Generationen einer jüdischen Familie, zwischen den Traumatisierungen der Shoah und der Gewalt des Nahostkonfliktes (Matthias Horn)
Martin Kusej, der neue Burgtheaterdirektor, wollte den Wienern gleich zu Beginn mal zeigen, wo der Hammer hängt – und engagierte Ulrich Rasche. Der lieferte – die bei ihm übliche Überwältigungs-Ästhetik. Auf der Drehbühne des Burgtheaters stehen sechs riesige Laufbänder, und darauf bewegen sich, angeleint, der Gott Dionysos und seine Fans, der Chor der Bakchen. Es sieht aus wie im Fitness-Studio, nur viel größer, düsterer und pathetischer. Die Laufbänder werden von einer hydraulischen Konstruktion eindrucksvoll nach oben gedrückt und in Schräglage gebracht: man erkennt das Unter-Gestänge einer Kundgebungs-Tribüne.
Fans damals und heute
Mit dieser quasi-faschistischen Stadion-Ästhetik – und mit dunkel raunenden, archaisch trommelnden, eintönigen Sounds – bereitet der Regisseur den Boden für eine dreieinhalbstündige Liturgie, die den antiken Stoff als Spiegel für eine sehr gegenwärtige Problematik benutzt. Er zeigt den Triumphzug derer, die recht zu haben glauben. Manchmal kommt auch der vernunftbegabte Pentheus zu Wort, eher selten der alte König Kadmos, den der 81jährige Martin Schwab spielt.
Politisierung kurz vor der Nationalrats-Wahl
Marschieren und deklamieren, das war bei Rasche schon immer die Devise. Aber warum muss es im Gleichschritt sein? Um den Rhythmus der antiken Sprache zu halten, könnte man gutwillig annehmen. Um die politische Rechte zu denunzieren, muss man hier in Wien, kurz vor der Nationalrats-Wahl, weiter folgern.
Demo-Marathon
Rasche will das Gewalttätige, das Irrationale der Bakchen quasi demonstrieren – und man ist abwechselnd fasziniert und ermüdet von dieser Marathon-Belehrungs-Übung, die bisweilen eine große suggestive, chorische Kraft entwickelt, um dann wieder nur als blöde Drohgebärde dazustehen, als Monstershow. Rausch und Reaktion geht also gut zusammen. Aber da man den wilden Weibern (und Männern!) dreieinhalb Stunden zuhören darf, wird bald klar: ihre Parolen passen auch auf die Befreiungs-Bewegungen der Dritten Welt – und auf jeden religiös motivierten Untergrundkampf, auf Islamisten wie auf Faschisten.
Mouawads "Vögel" vielleicht politischer als Rasches Regiearbeit
Die zweite Eröffnungs-Premiere war leichthändiger, komischer, hintergründiger, erzähltechnisch viel traditioneller – aber vielleicht sogar politischer als Ulrich Rasche. Der libenesische Dramatiker Wajdi Mouawad stellt in seinem Stück "Vögel" den Nahostkonflikt als Familiengeschichte nach: Eitan aus Berlin studiert Biogenetik und hält Herkunft für biologischen Zufall. In New York verliebt er sich in die Palästinenserin Wahida, die eine sozialgeschichtliche Doktorarbeit schreibt. Eitans jüdische Familie ist entsetzt. Die Liebenden fahren nach Nahost, Eitan wird Opfer eines Anschlags, seine Eltern kommen stante pede nach Israel, wo nun ein Familiengeheimnis peu á peu gelüftet wird.
Persönliche Tragik
Dieses stark an Kolportage und Fernsehserie erinnernde Stück wird in dieser Saison an vielen Theatern gespielt werden – wegen seines brisanten Themas. Der israelische Schauspieler und Regisseur Itay Tiran setzt das in Wien differenziert in Szene. Er geht dahin, wo es wehtut – und ist dabei trotzdem unterhaltsam. Das Stück mit seinen vielen Nebensträngen ist mit vier Stunden Spielzeit eindeutig zu lang. Aber Tiran führt die inner-israelische Identitätsdebatte sehr selbstkritisch und nutzt die Vielsprachigkeit des Stücks als kreativen Raum – man spricht Hebräisch, Arabisch, Englisch und Deutsch. Wer ist wer im Nahen Osten? Was definiert unsere Identität: die Chromosomen oder die Erziehung? Eitans jüdischer Vater jedenfalls ist mitnichten der Israeli, für den er sich hält. Er ist tragischerweise ein palästinensisches Findelkind. Und so ist dieser psychologisch erzählende Abend hinterrücks viel wirkungsvoller als die archaische Welt des Ulrich Rasche, der politische die Muskeln spielen lässt.