Von der Wurstbude hinter der Oper geht es den Wiener Ring hinunter. Vorbei am Mozart-Denkmal, am Heldenplatz, dem Parlament, bis zum Rathaus.
"Man muss eigentlich nur 100 Meter in jede Richtung gehen, um das gesamte politische Leben abzudecken."
Ein politischer 100 Meter-Radius, in dem sich Corinna Milborn bestens auskennt. Sie ist Hauptstadt-Journalistin, praktisch täglich im Regierungsviertel unterwegs. Bei der österreichischen Nationalratswahl war sie es, die die TV-Duelle und Elefantenrunden moderiert hat.
"Es sind alle Parteizentralen hier, es sind alle großen Ministerien in der Nähe, auf der einen Seite das Bundeskanzleramt, direkt gegenüber die Hofburg und der Sitz des Bundespräsidenten. Und man muss sich nicht weit aus diesem Kreis rausbegeben, weil man trifft sich die ganze Zeit auf der Straße."
Ins Café Landtmann, wenn man gesehen werden will
Und wenn's da zu kalt ist, oder man etwas mehr Privatsphäre braucht, dann kehrt man ein – ins Café Landtmann.
"Das Café Landtmann ist das Café, wo man sich trifft, wenn man gesehen werden will. Wenn Politiker sich hier treffen, müssen sie davon ausgehen, dass es jemand zumindest twittert oder es wahrscheinlich auch in einer Zeitung steht."
Corinna Milborn setzt sich in eine der Sitznischen unter den schweren Kronleuchtern, die tief von der Decke hängen. Hier im Landtmann ist jeder Tisch zwischen zwei hohen, gepolsterten Bänken eingelassen, damit man's sich beim Kaffee in trauter Zweisamkeit gemütlich machen kann.
"Vor allem dieses informelle Schmiermittel der politischen Beziehungen, nämlich das Plaudern abseits des Offiziellen, aber doch nicht im Dunkeln, sondern im Lichte des Kaffeehauses."
Sonst bevorzugt Corinna Milborn eher das Licht der Öffentlichkeit; scheut sich nicht, Kontroversen auch vor laufenden Kameras oder für alle sichtbar im Netz auszufechten. Das Kaffeehaus hingegen hat für sie nicht nur fußläufig eine große Nähe zur Hofburg:
"Wien ist keine sehr republikanisch konstituierte Stadt. In Wien ist tatsächlich der Kaiserhof noch so präsent, dass es durchschlägt auf politische Beziehungen bis heute. Die Frage, wen man kennt und wer einen durch eine oder zwei Empfehlungen zu dem bringen kann, mit dem man sprechen will. Und wer ist am nächsten bei der Macht dran und wer kann den Steigbügel halten."
Dank der Etikette gehört man dazu
Diese Strukturen sind es, die Corinna Milborn an die Herrschaft am Hofe und die dort geltenden Verhaltensregeln erinnern. Und damit auch: an seine Etikette.
"Etikette heißt auf neumodisch Label. Ein Etikett ist etwas, das man annäht und sagt, du gehörst dazu. Du hast diese gewissen kulturellen Fertigkeiten – wie Klavier spielen, Französisch sprechen, wissen, wie man einer Frau die Türe aufhält, und viel davon ist heute noch genauso da – und entweder du hast dieses Etikett oder eben nicht."
Dazu gehört offenbar auch die Fertigkeit, einen Kaffee zu bestellen. Der Kellner, in weißem Hemd und schwarzer Weste, kommt an den Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Aber wie sagt der Wiener: Das geht sich nicht aus.
"Es ist immer mit deutschen Kollegen, die sagen dann immer "ein Kaffee", wobei Sie ohnehin "Café" gesagt haben. Das ist so ein bisschen Auslöser für Wiener Kellner, ihre ganze Arroganz auszupacken. Das geht gar nicht, weil es gibt 20 verschiedene Arten, Kaffee zuzubereiten."
Zur Strafe hat der Kellner den Tisch ziemlich wortkarg und schmähenden Blickes wieder verlassen.
"Dann läuft man Gefahr, unfreundlich behandelt zu werden oder auf jeden Fall signalisiert zu bekommen, dass man ein Fremdkörper ist."
Was drinnen im Kaffeehaus guter Stoff für eine nette Anekdote ist, werde draußen zum echten Problem für Österreich:"Etikette unterscheidet auch eine Klasse von einer anderen." Denn Etikette sei kein Schmieröl, sondern das Lösemittel einer Gesellschaft:
"Und es ist jetzt nicht so, dass jetzt wirklich versucht wird, dass man sagt: Deutsche Studenten, die Ihr jetzt hier seid, geht in eine Tanzschule, türkische Jugendliche in der Schule, lernt doch Walzer tanzen. Sondern es ist, was es ist. Etikette ist ein Abzeichen dazuzugehören und sagt zugleich, wer nicht dazu gehört."
"In Wien wird nach wie vor die Hand geküsst"
Die Etikette manifestiere nicht nur einen Unterschied zwischen den Klassen, sondern auch zwischen den Geschlechtern:
"Als Frau wird einem ja mit jedem Schritt nahe gelegt, dass man schwach und hilfsbedürftig ist. Also es wird einem in den Mantel geholfen, Stühle werden gerückt, Ist sicher auch so gemeint und gut gemeint, aber es stellt natürlich dauernd so ein Gefälle her. Du wirst die ganze Zeit daran erinnert, dass du nicht eine von denen bist, sondern dass du ein schwächeres Wesen bist, das Unterstützung braucht."
Auch im Bundeskanzleramt. Beim Interview zum Antritt der neuen Kanzlermannschaft gab es gleich zwei Mal den Handkuß für Corinna Milborn: vom Regierungssprecher und vom Vizekanzler. "In Wien wird nach wie vor die Hand geküsst. Und so verbreitet, dass es jetzt nicht verweigerbar wäre, zu sagen, ich will nicht auf die Hand geküsst werden."
Beim erwähnten Vizekanzler handelt es sich seit Dezember um Heinz-Christian Strache von der rechtspopulistischen FPÖ. Er war schon einmal überaus höflich zu Corinna Milborn, als er ihr nach einem von vielen Fernsehduellen vor laufenden Kameras einen Blumenstrauß überreichte.
"Wir waren auch erstaunt, ich habe ein Foto von meinem Gesicht, weil jemand einen Screenshot gemacht hat. Ist wahnsinnig gut angekommen."
Auch Rechtspopulisten spielen mitunter nach alten Regeln
Für Milborn eigentlich ein ungewöhnlicher Stilbruch der Rechtspopulisten. Denn sonst würden sie die Etikette eher für sich nutzen, indem sie sie brechen:
"Ich glaub deshalb, weil sie sich eben nicht als Teil dieser Elite sehen. Das ist ja ihr Verkaufsargument, eben nicht Teil dieser Gruppe zu sein, die sich die Regeln unter einander ausgemacht hat. Das ist erstens ja nicht so ganz falsch, weil es gibt ja diese Etiketten, und es gehört quasi zur Pose der Rechtspopulisten eben dazu, nicht nach diesen Regeln zu spielen."
Was übrigens mit einem Blick fürs Detail sogar beim berüchtigten Akademiker-Ball der FPÖ der Fall ist. Einen Abend lang spielen die Rechtspopulisten dann nach den alten Regeln und es wird ein Wiener Walzer nach bester Manier getanzt. Allerdings tragen fast alle Herren an diesem Abend eine schwarze Fliege. Wie es auf dem Opernball nur die Kellner tun. Mit einer Ausnahme: Heinz-Christian Strache. Der Rosenkavalier kam in diesem Jahr mit weißer Fliege.