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Wiener Festwoche
"Die Unterwelt als Krankheit"

Jérémie Rhorer und Romeo Castellucci deuten Christoph Willibald Glucks "Orfeo ed Euridice" bei den Wiener Festwochen. In "Die Unterwelt als Krankheit" geht es um eine junge erfolgreiche Tänzerin, die nach einem Herzstillstand schwer behindert im Krankenhaus liegt.

Von Frieder Reininghaus |
    Die Füße einer Balletttänzerin
    Auf der Leinwand im Theater fokussiert die Kamera auf die zur Erinnerung an die Wand gepinnten Ballettschuhe. (picture-alliance / EFE / Federico Rios)
    Noch bevor die Ouvertüre einsetzt, nimmt ein Mann Platz auf dem einsamen Stuhl vor der Projektionsfläche, auf der sich bald ein Frauenname zeigt: Karin Anna G. Mehr Bühnenausstattung gibts zunächst nicht. Nur eben den verlassenen Sänger vor der leeren Wand und hinter Mikrofon und Kamera. Es ist Bejun Mehta, der fulminante Counter, der mit seinem "Kampf der Gefühle", also mit den genuinen Mitteln des hohen Gesangs, den Abend dominiert.
    Orfeo klagt sein Leid über die ihm abhanden gekommene geliebte Frau, schöpft Hoffnung, kämpft sich singend in die schlimmsten Tiefen vor und hofft, Euridice dem Totenreich entreißen und wieder für sich gewinnen zu können. Der Sound wird live in ein Krankenhaus an der Peripherie Wiens übertragen und auf die Kopfhörer der, von einem Long-QT-Syndrom (einer seltenen Herzkrankheit) heimgesuchten und nach längerem Herzstillstand, schwer behinderten Karin, gelegt.
    Während die energisch und elegisch agierenden Musiker des Ensembles B'rock aus Gent die klangschönste Traurigkeit entrollen, portionieren Inserts die Krankengeschichte Karins und eine rudimentäre Familienanamnese: Der Vater war Ingenieur, die Mutter Lehrerin in der österreichischen Provinz, als die außerordentliche musikalische und tänzerische Begabung der vierjährigen Karin festgestellt und diese in die Obhut eines intensiven Trainingsprogramms genommen wurde. Sie machte die schönsten Fortschritte. Die Familie zog nach Wien, wo sich die Eltern neue Arbeitsstellen besorgten – alles der Tochter zuliebe, der optimale Voraussetzungen für eine Spitzentanzkarriere geschaffen wurden.

    Nach der Ballett-Reifeprüfung schloss sich ein Studium der Slawistik an. Bei einem Aufenthalt in Bratislava aber versagte der aussichtsreiche Körper den Dienst. Die junge Frau war so gut wie tot, konnte dann aber durch die hoch entwickelten medizinischen Künste aus dem Koma geholt und in die Obhut der Apparatemedizin überführt werden. Ihre Augen reagieren wieder. An ihnen konnten die Eingeweihten ablesen, dass sie mit der Prozedur, die nun über sie ergeht, einverstanden sei.
    Völlige Distanzlosigkeit
    Die Kamera nähert sich der realen Karin mit extrem weichgezeichneten Bildern. Eine suggestive Kamerafahrt führt durch die Straßen zum Otto-Wagner-Spital, durchmisst die Grünflächen zwischen den Bungalows und steigt die Treppe hinauf in dem Gebäude, in dem die Patientin liegt. Pavillon XI. Inzwischen ist die Theater-Musik bei der höllischen Begegnung von Orpheus und Euridike angelangt und der Rhetorik des Sängers, die sich gegen "das grausame Schicksal" richtet.
    In völliger Distanzlosigkeit – man mag dies für "ergreifend" halten oder für schamlos – fokussiert die Kamera auf das Gesicht und die Augen, auch auf die zur Erinnerung an die Wand gepinnten Ballettschulfotos und die Ballettschuhe. Zum "Reigen seliger Geister" dann wieder unscharfe Bilder vom Grün im Klinik-Areal. Erst zum dritten Akt – zum Stichwort "dem Tod entronnen und so viel Schmerz" – öffnet sich die Bühne und gibt den Blick frei auf eine Theaterlandschaft des Zeitalters der Empfindsamkeit: Tempelruine und Lichtung im Hain vor charakteristischen Bergeshöhen in mildem Mondlicht.

    Auch optisch gerät das lieto fine der Azione teatrale per musica zu einer entschiedenen Tröstung – vornan für Karins Eltern, deren so weitgehende in die Tochter gesetzte Hoffnungen von einem "grausamen Schicksal" brutal zunichte gemacht wurden. Wohl auch stellvertretend für viele andere, die so herb in ihren menschlichen Erwartungen enttäuscht wurden. Der Regisseur Castelucci hat das Rührungs-Modell des Werks in grenzwertiger Weise aktualisiert und damit die künstlerische Ausbeutung des Leids auf eine neue Stufe gehoben. Da "greift" auch die Trost-Funktion der Musik besonders anrührend.