Archiv

Wiener Festwochen
Frank Castorf - der Joseph Blatter des Theaters

Extreme Zustände, religiöse, zwischenmenschliche und moralische Eruptionen - diese Themen interessieren den Theatermacher Frank Castorf seit Jahrzehnten. Seine Fjodor-Dostojewski-Abende sind genauso überbordend wie dessen Romane. Bei den Wiener Festwochen inszenierte Castorf "Die Brüder Karamasow".

Von Christian Gampert |
    Marc Hosemann und Kathrin Angerer
    Marc Hosemann als Dmitrij Fjodorowitsch Karamasow und Kathrin Angerer als Agrafena Alexandrowna Swetlowa - Gruschenka in "Die Brüder Karamasow" bei den Wiener Festwochen (Wiener Festwochen / Foto: Thomas Aurin)
    Draußen vor der Stadt, in der Halle einer ehemaligen Sargfabrik, hat der Regisseur Frank Castorf den Dichter Fjodor M. Dostojewski zu Grabe getragen. Castorf ist spezialisiert darauf, der Literaturgeschichte schöne Leichen zu entreißen, sie umzuschminken und für makabre Spiele zurechtzumachen. Für diese hochsubventionierte Tätigkeit hat er eine Sekte ergebener Schauspielkünstler um sich geschart, darunter einige der besten des Landes; eine devote Gemeinde wallfahrtet zu dem weitgehend monologischen Treiben, auch wenn es sechs Stunden und länger dauert.
    Bei Dostojewski geht es immer um die letzten Dinge, um Schuld und Sühne, um eine Welt ohne Gott, die aber ohne Gott nicht auskommt, um Liebe und Barmherzigkeit, Mord und Vergebung, sinnlosen Fortschritt und das ewig Böse im Menschen. Es geht um Moral, die Gesellschaft und die Denkwerkzeuge der geschundenen Kreatur. Bei Castorf geht es um dämonisches Geblöke und In-die-Kamera-Gegrinse, als wolle man kleinen Kindern Angst machen, um Schwulst und Pathos, Lautstärke und physische Durchsetzungsfähigkeit. Das sind Berliner Tugenden und die Berliner Großschnauze imperialisiert gerade wieder das europäische Theater, die einen postmigrantisch, die anderen postvideotisch. Nur wenig an Castorfs Karamasow-Marathon ist direkt gespielt, die meisten Szenen sind verwackelte Videoaufnahmen aus den russischen Holzhütten, die Bert Neumann lustlos in den Saal gebaut hat. Und im Vergleich zu seinen anderen Dostojewski-Abenden hat die Hektik bei Castorf zugenommen; die Grundbefindlichkeit seines Theaters ist die Hysterie, so dass die Kamera kaum hinterherkommt oder ständig die Gesichter groß aufblendet.
    Der Abend ist ein Abgesang
    Die wichtigen Figuren aus dem Karamasow-Roman sind alle da, aber sie sollen uns nicht näher kommen, sie sollen uns eher überwältigen, überbrüllen, kampf- und wahrnehmungsunfähig machen. Der Vatermord, der Streit um die Frauen, die Hochgemuten und die Behinderten, die Frevler und die Epileptiker: Alles ist angespielt und doch nicht vorhanden. Dimitrij ist bei Marc Hosemann ein aggressiver Schnösel, der Philosoph Iwan bei Alexander Scheer ein hypernervöser Kämpfer, der vermittelnde Aljoscha bei dem voluminösen Daniel Zillmann ein verzweifelter Sanitäter, der Mörder Pawel Smerdjakow bei Sophie Rois ein gefährlich flackernder Verrückter. Aber die Figuren sind nur Varianten in einem durchgehend exekutierten Sportpalast-Ton, in einem misanthropischen Anarcho-Theater. Castorf spinnt die russische Misere des Zarenreichs weiter zu den Sowjetmenschen, in das heutige Russland und in den Punkrock, und er erzählt die Frauengestalten, als wolle er eine Teufelsaustreibung veranstalten, eine Geisterbahnfahrt.
    Zwei Momente gibt es, in denen die Inszenierung kurz einmal atmen kann und zum Punkt kommt. Einmal ist das das Solo der von den Männern umworbenen, luluhaft sexualisierten Gruschenka, die Kathrin Angerer zu einer Protagonistin weiblichen Nihilismus macht; zum anderen ist es Alexander Scheers Erzählung vom "Großinquisitor", der den auf die Erde heimgekehrten Christus demütigt und nach Hause schickt. Scheer predigt als fanatischer falscher Prophet vor Lagerhallen und Fabrikschloten im Hof der Sargfabrik, vor einem fahlen Abendhimmel, und die videogestützte Übertragung dieser schauspielerischen Extremleistung zeigt gerade in ihrer Emphase und der überzogenen Gebärdensprache, dass der Islamische Staat die Menschen mit relativ ähnlichen Mitteln entflammt wie vordem das Christentum.
    Trotzdem ist der Abend ein Abgesang: Der Abstand zu Dostojewski ist einfach zu grotesk. Castorfs Umgang mit Texten und Schauspielern ist ausbeuterisch und willkürlich; sein Umgang mit dem Publikum ist grenzwertig brachial. Auch wenn Castorf offenbar auf masochistische Bedürfnisse stößt: Es ist schade um so viel schauspielerische Potenz, die da missbraucht und verhunzt wird. Frank Castorf ist der Joseph Blatter des deutschen Theaters - seine Zeit läuft langsam ab.