Gábor Bretz sitzt vor sieben dunklen Türen auf einem Stuhl und spricht zur Seite - den Prolog des symbolistisch-expressionistischen "Blaubart"-Librettos von Béla Balázs. Der stellt eine "alte Sage" in Aussicht. So beginnt der Abend mit solistischer Sprach-Kammermusik. Bretz, der distinguierte Bariton, kündigt seiner zusammengekauert vorm Tisch liegenden Partnerin an: Man sei am Ziel. Der Herr der Immobilie mag fürs Erste sein Ziel erreicht haben: Er hat Judit heim in sein Reich geführt und - ersichtlich - unterworfen. Die beiden Sänger sind längst angekommen in der Verstrickung ihrer Körper, Geister und Seelen. Freilich - der Orchesterton schreitet aus - scheint die Zeit für eine Beziehungs-Diskussion gekommen und damit Judits Fragestunde. Die Sopranistin Nora Gubisch führt sie, nicht ohne gelegentliche Signale der erotischen Aufmerksamkeit für Blaubart, mit diszipliniert geführter und zielsicherer Stimme durch.
Sichtlich gehören ihr die Sympathien der Regisseurin. Die lässt, was vom Libretto wohl gar nicht so wörtlich gemeint ist, in alle sieben Kammern von Blaubarts Burg blicken. In der Folterkammer wischt ein Alter Blut vom Tisch. In der Waffenkammer stehen stumm etliche alte Männer, freilich ohne martialische Gerätschaften, sondern mit Weckern in den Händen (auch die können Tatwaffen sein, gewiss). Die Schatzkammer zeichnet sich durch schließfächerbestückte Wände aus wie eine ordentliche Stadtsparkasse. Das "weite Land" reicht durchs Panoramafenster in die fünfte Kammer hinein - das Paar legt sich Seit an Seite dort eine Zeit lang nieder. In Kammer Nr. 6 hat sich quasirealistisch ein Tränensee auf dem Boden angesammelt. Und dann kann der Herzog Judit nicht daran hindern, auch die letzte Tür noch zu öffnen: Sie nimmt ihre Vorgängerinnen und Konkurrentinnen zur Kenntnis, denen der Morgen, der Mittag und der Abend gehört. Blaubart kämmt sie, als wäre sie ein der Kunstgeschichte entstiegenes Objekt. "Entseelt" sinkt sie mit ihren Schwestern zu Boden.
Gegenentwurf zur Interpretation der Komischen Oper
Kent Nagano begleitet mit dem "Gustav Mahler Jugendorchester" das im wesentlichen distinguierte Beziehungsgespräch mit Feingefühl, auch mit Sinn für den kurz hervorbrechenden Sonnenglanz und mit Sensibilität für die Nuancen der Hänge- und Würge-Partie. Ob wissentlich oder unwillkürlich: Die Wiener Festwochen haben szenisch wie musikalisch einen Gegenentwurf vorgelegt zur körperbetonten, übergriffigen, höchstintensiven Interpretation, die Bartóks Hauptwerk im März an der Komischen Oper Berlin durch Henrik Nánási und Calixto Bieito erfuhr. Das Publikum in Wien hat die Zurücknahme wenig gedankt.
Auch den Nachtrag nicht, mit dem Andrea Breth die bislang nur als Statisten eingesetzten SchauspielerInnen mit einer Ruhigstellungs- und Bewegungs-Etüde zur Entfaltung ihrer Möglichkeiten gelangen lassen wollte. Verbunden durch Distanzen sitzen die Mimen zwischen Radiatoren und warten, als könne Godot doch noch die linke Wienzeile erreichen. Gelegentlich streuen sie eine dröge Lebensweisheit ein - und dann, während der Abend in Dämmerung versinkt, spielt Elisabeth Leonskaja aus dem Off wunderbar samtpfötig das Thema nebst Variationen Es-Dur, mit dem sich Robert Schumann 1854 von seiner Clara und endgültig in die geistige Umnachtung verabschiedete. Da berührte der zweite Teil des Abends nun ein weiteres Mal auf ganz bildungsbürgerlich feinsinnige Art den ersten.