Maja Ellmenreich: Sie haben mal gesagt, es überrasche sie, dass es Menschen gibt, die Ihre Bücher lesen. Haben Sie sich mittlerweile daran gewöhnt, dass es solche Menschen gibt – oder hält die Überraschung an?
Wilhelm Genazino: Ja, ich habe mich daran gewöhnt. Aber ich bin immer noch überrascht, weil oft sind es Menschen, die sind lesekundig, aber sie sind nicht lesegeübt und man muss sie darauf hinweisen, es muss wenigstens ein Osterfest oder ein Weihnachtsfest kommen, damit mal auf dem Gabentisch ein Buch liegt, und das lesen sie dann auch. Für den Kleinbürger ist das Buch ein Luxusprodukt.
Ellmenreich: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie Ihre Leserschaft hauptsächlich im kleinbürgerlichen Milieu sehen und jetzt gerade nicht allzu charmant über Ihre eigenen Leser sprechen?
Genazino: Nein, nein, das nicht. Es sind ein paar Kleinbürger dabei, aber die Kleinbürger sind keine Gewohnheitsleser. Sie sind Zufallsleser.
Leseabende - Befragungen wie bei der Polizei
Ellmenreich: Ich wage mal die steile These, dass Ihre Leser nicht nur Gelegenheitsleser sind, sondern dass es auch eine Reihe von Gewohnheitslesern gibt. Denn wenn man Lesungen von Ihnen besucht, dann sind die Literaturhäuser doch meistens gut gefüllt. Dieses Interesse an Ihren Büchern, da sagten Sie gerade, Sie hätten sich daran gewöhnt. Wie ist es mit dem Interesse an Ihrer Person? Überrascht Sie das auch noch?
Genazino: Ja, das stimmt. Ich kann das ablesen an diesen etwas intensiven Fragen, die ich bei solchen Leseabenden gestellt kriege. Zum Beispiel: Sind Sie verheiratet, oder sind Sie geschieden? Also so richtig wie auf der Polizei.
Ellmenreich: Könnte man auch als charmantes Interesse an Ihnen deuten.
Genazino: Ja, aber da muss man sozusagen schon eine Frau sein und das alles doch sehr optimistisch sehen und voller Zukunft und so. Dann ist das gebongt.
Zwanghafte Verkuppelung von Buch und Verfasser
Ellmenreich: Wie erklären Sie sich das, dass man den Menschen hinter dem Buch kennenlernen möchte?
Genazino: Das ist gar nicht so ganz einfach, das zu erklären. Es ist nach meiner Vermutung aber der Drang, dem Buch eigentlich nicht zu glauben, sondern man möchte den Autor, den Verfasser oder die Verfasserin sehen und gucken, ob man nicht der Vermutung nahekommt, dass diese Frau und dieser Mann dieses Buch geschrieben hat und kein anderer, dass es eine zwanghafte Verkuppelung ist, und das ist es ja de facto. Hermann Hesse konnte nur die Bücher von Hermann Hesse schreiben, Martin Walser kann nur die Romane schreiben, die Martin Walser geschrieben hat. Diesen Zusammenhang gibt es. Und wenn man ein Buch kennt und den Verfasser kennengelernt hat, dann versteht man das besser, diese Koppelung, dass es eine Koppelung gibt zwischen Buch und Verfasser.
Ellmenreich: Warum sollte ich nicht glauben, wenn ich dieses Buch in der Hand habe, auf dem Wilhelm Genazino steht, warum sollte ich nicht glauben, dass es wirklich auch von Wilhelm Genazino geschrieben wurde?
Genazino: Das ist aber nicht der Punkt, dass es wirklich von mir geschrieben ist, sondern wie der aussieht und wie der spricht und ob er vielleicht seiner Figur ähnelt, oder ob das aus der Luft gegriffen ist. Das kann ja auch sein. Und bei mir gibt es auch solche Phasen, wo ich, wenn ich nicht weiter komme in einem Roman, dann erfinde ich, weil ich habe oft das Gefühl, ich kann nicht erfinden. Ich muss etwas erlebt haben und ich muss etwas aus meiner Geschichte greifen können, aus meiner Kindheit und aus meiner Jugend und pipapo, aber das stimmt nicht. Wenn da nichts da ist, muss ich fiktionalisieren, und das funktioniert auch zu meinem Erstaunen.
Es steht nicht alles im Buch
Ellmenreich: Wilhelm Genazino, wie gerne sprechen Sie denn über das, was Sie, wenn wir jetzt von diesem Buch sprechen, vor ich weiß nicht wie vielen Monaten geschrieben haben? Wie gerne sprechen Sie darüber?
Genazino: Wenn es nicht allzu weit voneinander liegt. Jetzt zum Beispiel ist es sehr gut mit diesem Buch, weil das ja erst seit kurzem da ist, und dann ist mir das alles noch sehr nah.
Ellmenreich: Fühlen Sie sich dann manchmal auch als Erklärer Ihres eigenen Textes missbraucht? Kann man das vielleicht so formulieren, dass Sie das Gefühl haben, Sie müssen jetzt dem Leser noch mal weiter auf die Sprünge helfen? Denn eigentlich könnte man ja auch sagen, steht doch alles im Buch.
Genazino: Das wäre nicht gelogen, wäre aber nicht die ganze Wahrheit. Es steht nicht alles im Buch. Das geht auch gar nicht. Der Autor hat immer für jedes Buch drei weitere Bücher, die nebenher mitgelaufen sind und nicht geschrieben worden sind. Die werden später geschrieben. Aber man braucht die Anmutung eines Materials und einer gewissen Potenz. Man muss annehmen können, ich hätte jetzt gleichzeitig noch drei andere Bücher schreiben können. Diese Potenz ist nötig, damit ein sozusagen wirkliches Buch entstehen kann.
Empfindung einer gewissen Dankbarkeit
Ellmenreich: Wenn das Buch dann entstanden ist und Sie bei so einer Lesung sind, ärgert es Sie, wenn zu viel aus so einem Buch verraten würde? Wenn ich jetzt sagen würde, am Ende passiert mit Carola …, sind Sie dann verärgert, oder denken Sie, gleiches Recht für alle?
Genazino: Im Gegenteil! Ich habe sofort die Empfindung einer gewissen Dankbarkeit. Dann denke ich, wenigstens eine Leserin, die weiß, wer Carola ist. Das ist doch schon mal ein Erfolg.
Ellmenreich: Aber jetzt ist Koketterie im Spiel, Herr Genazino.
Genazino: Nein, nein! Das ist keine Koketterie. Ich meine, das ist Notwehr. Ich bin nicht kokett, weil wie soll ich sagen, rein körperlich passt das nicht zu mir.
Ellmenreich: Der Körper mag das eine sein. Aber dass es eine ganze Reihe von Lesern gibt, die außer mir das Buch gelesen haben, das ist Ihnen schon bewusst?
Genazino: Ja, ja, das ist mir schon bewusst. Und Gott sei Dank, der Verlag ist ja auch gerührt und ruft mich sofort an, wenn eine Nachauflage fällig wird und so, und dann bin ich auch dankbar für all die mir nicht bekannten Leser, die jetzt wieder mein Buch lesen.
Ellmenreich: Aus dem Seelenleben eines Schriftstellers. Das war der Autor Wilhelm Genazino zu Gast auf der Deutschlandfunk-Bühne in Frankfurt.
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